Madeja, Michael/ Müller-Jung, Joachim (Hg) 2016: Hirnforschung – was kann sie wirklich? Erfolge, Möglichkeiten und Grenzen. München: Beck Verlag. 240 Seiten – Rezension
Hirnforschung und Neurowissenschaften wecken bei vielen die Hoffnung, endlich präzise Auskunft zu erhalten, wie wir Menschen ticken.
Alle, die sich mit Lernen beschäftigen, insbesondere Lehrkräfte im weiteren Sinne erwarten sehnsüchtig Aufschlüsse darüber, wie hirngerechtes Lernen funktioniert und welche Veränderungen das für ihre jeweilige Praxis bedeutet und welche Anforderungen daraus für ein nachhaltiges Lernen erwachsen.
Leider begegnet man auf diesem lukrativen Erkenntnis-Markt auch schonmal jemandem, der sich z.B. in suggestiv-predigendem Tonfall eloquent-sympathisch das Eine oder Andere einfach mal ausdenkt und „Geschichten erzählt“.
Um so wohltuender ist es, hier einen übersichtlich gegliederten Sammelband vorzufinden, der Wissenschaft ernst nimmt und aus verschiedenen Perspektiven die Leistungen dieses Forschungszweiges unter die Lupe nimmt und selbstkritisch die Fakten, die unbeantworteten Fragen und die vermuteten Möglichkeiten verständlich darstellt.
Inhalt
Funktionen des gesunden Gehirns
Onur Güntürkün: Die Gedanken sind frei – aber werden sie das auch bleiben?
Brigitte Röder: Wenn das Gehirn sich formen lässt
Jan Born: Schlaf kann ein Neuanfang sein
Peter Thier: Warum sich Bewegung und Geist nur zusammen denken lassen
Angela D. Friederici: Denn das Wort ist im großen Netz verborgen
Selbstverständnis des Menschen
Stefan Treue: Wie sehen wir die Welt?
Andreas K. Engel: Vom Käfer in der Schachtel, den noch keiner gesehen hat
Hans-Christian Pape: Angst beherrscht man nicht, ohne Furcht zu kennen
Gerhard Roth: Wie das Gehirn die Seele formt
Abweichungen vom Normalen
Johannes Dichgans: Können wir Gehirne kurieren?
Herta Flor: Direkter Zugri auf die Psyche
Christian Büchel: Weh tut es nur, weil es wehtun soll
Niels Birbaumer: Das sogenannte Böse
Leistungen für die Gesellschaft
Wolf Singer: Erst kommt das Denken, dann die Kunst
Eckart Altenmüller: Musik ist das Brot unseres Geistes – nicht nur die schönste Nebensache der Welt
Michael Madeja: Die Schule erzieht junge Menschen, keine Gehirne
Thomas Stieglitz: Technik, die unter die Haut geht
Christian E. Elger: Mit Neuroökonomie aus der Finanzkrise?
Betrachtungen
Gert Scobel: Ein Wesen, das auch außerhalb des Labors lebt
Marianne Leuzinger-Bohleber: Zweierlei muss sein: hartes Wissen und sanfte Annäherung
Armin Nassehi: Das Ich, eingekeilt zwischen Gehirn und Gesellschaft
Onur Güntürkün betont in seinem Aufsatz „Die Gedanken sind frei – aber werden sie das auch bleiben?“ die Bedeutung der Theorie für Forschung. Sie leite ein Experiment und helfe, gewonnene Daten in Erkenntnisse umzuwandeln.
Er verweist auf „die wahrscheinlich fundamentalste Theorie der kognitiven Neurowissenschaften“ (18) von Donald Hebb, der 1949 drei Postulate formulierte, „die immer noch als Grundmuster der heutigen neurowissenschaftlichen Forschung dienen.“ (18)
- Postulat: „Neuronen, die gemeinsam aktiv sind […] untereinander effektivere Synapsen entwickeln.“ (19)
- Postulat: „Nervenzellen [formen] sich zu flexiblen, kurzfristig gemeinsam feuernden Koalitionen (sogenannte Assemblys)“. (20)
- Postulat: „Assemblys [sind] so in Sequenzen geordnet […], dass das Ende der Aktivität eines Assemblys den Beginn der Aktivität des nächsten markiert.“ (20)
Güntürkün erläutert diese drei Postulate mit Hilfe sehr anschaulicher Beispiele.
Damit sei hinreichend eine Annahme für die Selbststeuerungsfähigkeit des Gehirns begründet. Auch verweisen die Postulate bereits darauf, dass es so etwas wie Multitasking nicht gibt.
Diese Annahmen führten im Übrigen bereits u.a. an der Sporthochschule Köln durch Versuche zu Erkenntnissen über den Zusammenhang von mentalem Lernen und körperlicher Bewegung, die bereits vielerorts im Lernfeld Schule in Praxis umgesetzt wurden.
So ankert sich z.B. eine Lernerfahrung (Gedächtnisbildung) besser, wenn ein mentaler und ein Bewegungsimpuls gleichzeitig auf ein Neuron treffen (Postulat 2).
Theaterspielen hat da gute Chancen. Das haben die stofffressverordnenden Bildungsplaner und Curriculumschreiber immer noch nicht begriffen. Leider droht das dem Theaterspielen mittlerweile auch, wenn man sich beispielsweise das neue Curriculum für die Oberstufe in Hessen anschaut, insbesondere für das letzte Schuljahr. Man glaubt wohl, die Dignität ergäbe sich durch Theorie. Konsequenz: Die Theater-Lehrer stopfen ihre Schüler wieder einseitig vermehrt mit Geschichte und Theorie voll, anstatt sie auf praktische kulturelle Teilhabe – das Leben – vorzubereiten. Das haben die Begründer des Faches Darstellendes Spiel so nicht gewollt.
Brigitte Röder verweist in ihrem Beitrag „Wenn das Gehirn sich formen lässt“ darauf, dass vermutlich „während bestimmter Lebensphasen spezifische Erfahrungsmöglichkeiten gegeben sein müssen, damit sich eine Funktion voll entwickelt.“ (30) Sie spricht dabei von sogenannten sensiblen Phasen. „Sensible Phasen in der Entwicklung bedeuten aber in erster Linie auch, dass, wenn bestimmte Lernmöglichkeiten in der frühen Entwicklung fehlten, neuronale Systeme und assoziiertes Verhalten sich nicht mehr vollständig entwickeln können. Das heißt, dass für eine typische Entwicklung typische Lernumwelten zu einem bestimmten Zeitpunkt unabdingbar sind.“ (31)
Damit kommt dem frühkindlichen Lernen und frühkindlichen Lernumwelten die entscheidende Bedeutung zu, da sie „entscheidenden Einfluss auf das spätere Leistungs- und Lernpotential haben. Demnach potenzieren sich Investitionen in die frühkindliche Entwicklung mit jedem weiteren Lebensjahr. Wird während sensibler Lebensphasen die strukturelle und funktionelle Ausformung von neuronalen Systemen nicht ‚angestoßen’, etwa durch ungünstige Umwelten, kann dies während späterer Entwicklungsphasen nicht mehr vollständig nachgeholt werden. Kompensationsmaßnahmen sind dann mühsam, zeitaufwändig und damit kostenintensiv. Aus ökonomischer Sicht ist damit die frühkindliche Entwicklung mit ihren sensiblen Phasen für die Lebensqualität von Menschen und für den Wohlstand einer Gesellschaft von besonderer Bedeutung.“ (33)
Fazit: Eine Gesellschaft sollte umfangreiche Ressourcen in eine sinnvolle vor- und nachgeburtliche und frühkindliche Betreuung stecken.
Jan Born belegt in seinem Beitrag „Schlaf kann ein Neuanfang sein“, dass ein Stofflernangebot wie es immer noch vielfach in Schulen und Universitäten praktiziert wird ineffizient ist, weil eine Aneinanderreihung von neuen Inhalten (Fächerzersplitterung) und deine Dekontextualisierung von Inhalten (Fächerzersplitterung) die schlechteste Methode ist, neue Inhalte langfristig im Gedächtnis zu speichern. Sie widerspricht der natürlichen Arbeitsweise des Gehirns. Schlafen nach der Aufnahme neuer Inhalte sei die beste Methode.
Man darf wohl auch vermuten, dass eine gewisse Ruhe nach dem Lernen neuer Inhalte dem Prozess der langfristigen Abspeicherung zuarbeitet. Auch dass eine Ruhephase und Schlaf das Problemlösungsverhalten des Gehirns unterstützen.
Peter Thier zeigt in seinen Ausführungen „Warum sich Bewegung und Geist nur zusammen denken lassen“, dass Raum und Zeit durch den Nachweis entsprechender place cells bzw. time cells und grid cells einen bedeutsamen Einfluss auf unser Verhalten haben und dass die These, dass körperliche Bewegung und geistiges Lernen eng miteinander verbunden sind (vgl. dazu auch die Forschungsergebnisse der Sporthochschule Köln).
Leider ignorieren scheinbar viele verantwortliche Bildungspolitiker, Curriculumschreiber usw. diese wissenschaftlichen Erkenntnisse. Da wäre wohl Widerstand angesagt, zumindest ein Unterlaufen.
Auch beim Spracherwerb spielen sensible Phasen eine entscheidende Rolle, so Angela D. Friederici in ihrem Beitrag „Denn das Wort ist im großen Netz verborgen“.
Sie dürfen beim Aufwachsen und bei der Erziehung nicht ignoriert werden, insbesondere beim Spracherwerb. Fehlen die entsprechenden Lernimpulse, dann kann dieses Potenzial, falls vorhanden, im späteren Leben kaum oder gar nicht mehr entfaltet werden.
Theaterspielen mit seinen vielfältigen Kommunikationsangeboten und -impulsen kann Kinder in der sensiblen Phase, in der das Gehirn besonders plastisch ist, bereits im Alter von zwei bis drei Jahren besonders intensiv unterstützen, angemessene syntaktische Strukturen auszubilden. (62)
Stefan Treue beschreibt in seinem Aufsatz „Wie sehen wir die Welt?“, wie sich durch selektive Mechanismen das menschliche Sensorium in der Weise entwickelt hat, dass es optimal der Überlebenssicherung dient.
Aus diesem Grund erzeugt die menschliche Wahrnehmung im Gehirn keine exakte Abbildung der realen Wirklichkeit, sondern filtert und selektiert nur relevante Daten heraus und interpretiert diese auf besonders effiziente Weise. Wahrnehmung von Wirklichkeit ist also grundsätzlich Interpretation von Wirklichkeit zu einem klar definierten Zweck.
Dabei spielt die Interaktion mit der Umwelt als „Wechselspiel von Wahrnehmung und Handlung“ eine entscheidende Rolle, denn „Wahrnehmung ist dabei eine essentielle Voraussetzung für die Auswahl sinnvoller Handlungen.“ (69)
Als ob „Theater“ dafür einen Masterplan geliefert hätte. Oder ist es gerade anders herum. Hat sich der Mensch in der Evolution – mit Hilfe des Theaters – ein Bild von seiner Entwicklung gemacht? Quasi selbstreflexiv? War es nur mit Hilfe eines theatralen Verständnisses auf der Basis des entsprechend neurologisch angelegten Apparates möglich, die Erkenntnis-Begrenztheit von Platons Höhlengleichnis zu überwinden?
Welche Rolle spielt die durch Aufmerksamkeitsreize gesteuerte Wahrnehmung für das Handeln der Menschen, wenn ein starker, aber unbeachteter Reiz, genauso intensiv wahrgenommen wird wie ein schwächerer, aber beachteter Reiz in einer Welt der Reizüberflutung, also starker Reize, die wir nicht alle beachten können?
Wie kann ein Lehrer in dieser Welt vieler starker vielfach dämlich-dümmlicher Reize es schaffen, die Aufmerksamkeit seiner Schüler auf wesentliche, auf leisere Dinge und Vorgänge zu lenken?
Theater ist eine Schule der Wahrnehmung.
Andreas K. Engel erkennt in seinem Beitrag „Vom Käfer in der Schachtel, den noch keiner gesehen hat“ an, dass die Neurowissenschaften enorme Fortschritte in Bezug auf die Entschlüsselung der Prozesse gemacht haben, die dem Bewusstsein zugrunde liegen.
Allerdings liegt die „Vermutung nahe, dass die Hirnforschung alleine keine vollständige Theorie des Bewusstseins liefern kann. […] Die neurobiologische Analyse muss rückgebunden bleiben an eine Beschreibung der Dynamik des ‚erweiterten kognitiven Systems’ in seiner Gesamtheit.“ (86)
Dazu gehören laut Clark und Chalmers nicht nur das Gehirn und der Körper, sondern auch die lokale Umwelt, die „nur gemeinsam in ihrer wechselseitigen Kopplung als ‚Vehikel’ von Bewusstsein betrachtet werden“ können. (85)
… und man könnte mit Goethe ergänzen: Und die Kunst adelt diesen Vorgang der Bewusstwerdung als eine Vermittlerin des Unaussprechlichen.
Hans-Christian Pape beschreibt in seinen Ausführungen „Angst beherrscht man nicht, ohne Furcht zu kennen“ die komplexen Zusammenhänge, die vermutlich der Furchtentstehung zugrunde liegen.
Auch in diesen Fällen lässt sich nachweisen, dass Gen-Umwelt-Reaktionen eine Rolle spielen und dass es darauf ankommt, „einzelne Module in den Netzwerken zu verstehen und deren Bedeutung im System zu erfassen“. (96)
Gerhard Roth verweist in seiner Arbeit „Wie das Gehirn die Seele formt“ auf die bahnbrechenden neuen Erkenntnisse der Hirnforschung und „wie im Gehirn im Wechselspiel zwischen Genetik-Epigenetik und Umwelt das ‚Seelische’ entsteht.“ (106)
Als wichtigsten Faktor für die Entwicklung der menschlichen Psyche und der Persönlichkeit nimmt Roth die Erfahrungen der ersten zwei bis drei Lebensjahre an.
„Hier findet auf der mittleren limbischen Ebene, auf der die Amygdala (emotionale Konditionierung), das mesolimbische System (Belohnungslernen) und die Basalganglien (Ausbildung von Gewohnheiten) angesiedelt sind, in der engen Interaktion mit der primären Bezugsperson – meist, aber nicht notwendig, der Mutter – die Ausgestaltung der noch undifferenzierten Gefühlswelt des Säuglings und Kleinkindes statt, ebenso die Entwicklung der vorerst nichtsprachlichen Kommunikation (Mimik, Blick, Lautäußerungen, Gesten) und der Bindungsfähigkeit. Hierbei prägt die primäre Bezugsperson über ihr Verhalten ihre Persönlichkeit dem Kleinkind in beträchtlichem Umfang auf.“ (101f)
Eine gestörte Ausbildung dieses Systems führt dann z.B. zu mangelnder Impulskontrolle. Ein Phänomen, mit dem Lehrer zunehmend zu tun haben.
Auch betont Roth, wie mühsam und wenig erfolgversprechend spätere korrigierende Interventionen/ Therapien/ Beschulung sind, wenn in sensiblen Phasen der menschlichen Entwicklung Störungen vorlagen z.B. in der frühvor- und nachgeburtlichen Phase und den ersten zwei bis drei Jahren nach der Geburt, der wichtigsten Lernphase: Die Amygdala vergisst nicht.“
Vgl. dazu auch Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Rezension
Johannes Dichgans: gibt in seinem Aufsatz „Können wir Gehirne kurieren?“ einen knappen historischen Überblick über die Geschichte der Neurowissenschaften und ihrer Erfolge und Grenzen und zeigt an Beispielen, wodurch Erkenntnisse gewonnen wurden.
Das Bild vom Menschen habe sich sehr gewandelt und der umfassende Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften wird auch von ihm in Zweifel gezogen und statt dessen eine Zusammenarbeit angrenzender Wissenschaftszweige gefordert.
Herta Flor bestätigt in ihrem Beitrag „Direkter Zugriff auf die Psyche“ den direkten Zusammenhang von Erleben, Verhalten und Umwelteinflüssen und physischen Veränderungen des Gehirns.
So verringere z.B. „frühkindliches Stresserleben das Volumen des Hippocampus und der Amygdala und deren Verbindungen zum Frontalcortex. Das sind Hirnregionen, die für Lern- und Gedächtnisprozesse wichtig sind und bei vielen Störungen wie Angst oder Depression im Mittelpunkt der Krankheitsentstehung stehen. So haben beispielsweise Personen, die ein vermindertes Hippocampusvolumen haben, ein höheres Risiko, an einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken, gleichzeitig reduziert Stresserleben selbst wieder den Hippocampus.“ (121)
In der Schmerztherapie werde versucht durch das Gehirn umzustimulieren/ umzuformen, indem die Aufmerksamkeit auf positives Feedback gelenkt wird. Das bedeute beispielsweise für Partner von Patienten, dass sie weniger Aufmerksamkeit auf die Schmerzreaktionen des Patienten verwenden und stattdessen gesundes Verhalten positiv bewerten sollten.
Nun stellt sich als Lehrkraft für mich die Frage: Soll ich weniger auf störendes Verhalten von Kindern eingehen und ihnen „Stress machen“, wie es die Kinder nennen, und statt dessen Situationen schaffen, in denen ich die Kinder mit verminderter Impulskontrolle mehr loben kann?
Wie müssen dann solche positiven Lern-Situationen beschaffen sein, in denen diese Mechanismen greifen?
Kann man Analogien bilden in Bezug auf die Forderung der Neurowissenschaften bzw. der Psychotherapie, dass Interventionen generell mehr auf die Selbstregulierungsfähigkeit des Patienten abzielen sollten zu einer Forderung im Bildungsbereich, dass Interventionen bzw. Instruktionen von Lehrkräften mehr auf die Selbstlernfähigkeit und Selbstregulierbarkeit der Schüler abzielen sollten?
Fragen, die es in der Praxis zu klären gilt. Vgl. „Theater in der Grundschule – Wie aus (fast) nichts Theater wird – Angewandte Theaterforschung (AT) untersucht Möglichkeiten, mit Kindern in der Grundschule Theater zu spielen – ein praktischer Versuch“.
Christian Büchel: beschreibt in ihrem Beitrag „Weh tut es nur, weil es wehtun soll“ die Erkenntnisfortschritte der mit Hirn befassten Forschungen in Bezug auf den Schmerz.
Über das Konzept des Predictive coding sei man überdies zu der Annahme gekommen, „dass das Gehirn ein inferentielles System [automatisiert Schlussfolgerung erzeugt, Anm. v. V.L.] darstellt, welches permanent versucht Wahrnehmung vorauszusagen. Diese Voraussagen werden dann mit der Realität abgeglichen und die Differenz zwischen Realität und Vorhersage, der Vorhersagefehler, stellt nach diesem Modell die Grundlage unserer Wahrnehmung dar.“ (136)
Dies bestätigt im Großen und Ganzen auch die Erkenntnisse der Vorurteilsforschung und die „Fehlwahrnehmungen“ von Zeugen.
Spannend werden diese Denkmodelle und deren Verifizierungen durch praktische Erfahrungen und Versuche, wenn man daraus Forderungen für einen intelligenten Theaterunterricht ableitet. Es bedeutet, Theater als Wahrnehmungsschulung noch mehr Beachtung zu schenken und unterstützt die Forderungen nach einem sorgfältigen Feedback-Training, in dem zuerst auf die Wahrnehmung des tatsächlichen Geschehens auf der Spielfläche eingegangen wird und in einem zweiten Schritt auf dessen Interpretation und Wirkung.
Niels Birbaumer beschreibt in seinem Beitrag „Das sogenannte Böse“ die Ursachen und Wirkungen der Psychopathie und wie sie bei Verbrechern durch unterstützte Strategien der Selbstkontrolle beeinflussbar werden.
Aber „erfolgversprechend sind vor allem auch präventive Maßnahmen wie frühe soziale Betreuung und prosoziales Training, ausgeglichene Ernährung, Entfernung aus chaotisch psychopathischem Milieu, aber auch frühe genetische Risikoidentifikation und anschließende Therapie.“ (146)
Interessant ist die Feststellung, dass „am erfolglosen Ende der Psychopathieskalen […] Gefängnisinsassen, am erfolgreichen Ende erfolgreiche Führungskräfte mit exakt denselben Eigenschaften“ stehen. (142)
Dazu sollte man nochmal den Roman von Burkard Driest lesen: Die Verrohung des Franz Blum. Ein Paradebeispiel dafür, welche Werte in unserer Gesellschaft letztlich ausschlaggebend für „Erfolg“ sind.
Welche Chancen hat demnach ein (Theater-)Unterricht, der einen Sinn für Gemeinschaft und Rücksichtnahme anstrebt, wenn „ohne Änderung der Hirnaktivitäten im Furchtsystem in jenen sozialen Situationen, die eine angepasste Sozialisation und Vermeidungsverhalten steuern (‚tu das nicht, sonst …’) […] psychopathisches Verhalten, Gewalt und Rücksichtslosigkeit nicht dauerhaft beeinflusst werden“ können? (145)
Wolf Singer zeigt in seinem Arbeit „Erst kommt das Denken, dann die Kunst“ die Schwierigkeiten auf, auf neuronaler Ebene Entsprechungen für etwas zu finden, das selbst unter Künstler äußerst umstritten ist: Ästhetik und Schönheit.
„Zu vermuten ist jedenfalls, dass die Kriterien zur Beurteilung von Komplexität, Ordnung, Bekanntem und Überraschendem wesentlich von kulturspezifischen Seh- und Hörerfahrungen abhängen. Aber die Hirnforschung kann zu diesen Fragen noch wenig beitragen.“ (158)
Das ist nachvollziehbar, denn es liegt ein grundsätzliches Problem vor. Unsere Wahrnehmung ist bereits extreme Gestaltung von Realität, denn unser Sensorium ist nicht in der Lage, die vollständige Realität zu erfassen und zu verarbeiten. Es bewertet und selektiert nach überlieferten Kriterien des Überlebens bzw. nach Erfahrungswerten, die als bedeutsam erlebt wurden.
Welche Kriterien zur Beurteilung soll es geben, wenn eine bewusste Gestaltung dieser Realität als Kunst im Gestaltungsprozess der normalen Wahrnehmung ein zweites Mal gestaltet wird?
Vielleicht ist das die Lösung der Frage, was Kunst ist oder sein kann. Vermutlich etwas nicht zu Klärendes. Also nochmal Goethe: Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen. Oder des Unerklärlichen.
Eckart Altenmüller bestätigt in seinem Beitrag „Musik ist das Brot unseres Geistes – nicht nur die schönste Nebensache der Welt“, dass Musik das Gehirn verändert und Sprachverständnis und Wortgedächtnis fördert.
Musik aktiviert ein Netzwerk, das bindungsbezogene Emotionen programmiert, „Emotionen, die ein soziales Element enthalten und die als sanft, zart und positiv erlebt werden. Das Herstellen und Aufrechterhalten sozialer Bindungen ist sicherlich eine zentrale evolutionäre Funktion der Musik.“ (164)
Michael Madeja zeigt in seinen Ausführungen „Die Schule erzieht junge Menschen, keine Gehirne“ die grundsätzlichen Grenzen der Neuropädagogik auf, die teilweise unzulässig simplifiziert und bei ihren naturwissenschaftlichen Beschreibungen von Lernvorgängen auf neuronaler Ebene viele Faktoren des Lebens ausschließe. (175)
Auch hier wieder die bereits von den Autoren mehrfach vorgetragene Forderung nach interdisziplinären Teams und fachübergreifendem Forschen in Anbetracht der hohen Komplexität der Materie.
Thomas Stieglitz: beschreibt in seinem Beitrag „Technik, die unter die Haut geht“ die am weitesten entwickelten Produkte der Prothetik, in der über elektrische Impulse verloren gegangene Körperfunktionen bzw. Prothesen gesteuert werden können.
Die zu bewältigenden Probleme sind allerdings sehr groß, so dass es nur langsam Fortschritte gibt. „Schon allein die technischen Herausforderungen bei der Entwicklung von Implantaten im Kontakt mit dem Nervensystem sind vielfältig: Die Langzeitstabilität von Elektronik, die Material-Gewebe-Schnittstelle zum Nervensystem und die Verbindung der einzelnen Kontakte zur Steuerelektronik sind nur einige davon.“ (187)
Christian E. Elger zeigt in seinem Beitrag „Mit Neuroökonomie aus der Finanzkrise?“, dass das Belohnungssystem im Hirn eine entscheidende Rolle beim Streben nach mehr Gütern, Geld oder Gewinn (Gier) spielt und es in ähnlicher Weise aktiv wird, wenn es um altruistische Bestrafung geht, heißt, jemanden „aus Rache“ zu bestrafen, der sich unethisch verhält.
Die Betrachtungen des Philosophen Gert Scobel (Ein Wesen, das auch außerhalb des Labors lebt), der Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber (Zweierlei muss sein: hartes Wissen und sanfte Annäherung) und des Soziologen Armin Nassehi (Das Ich, eingekeilt zwischen Gehirn und Gesellschaft) runden den Blick aus je eigener Perspektive auf die jüngste Geschichte der Neurowissenschaften.
Fazit
Sensible Phasen in der Entwicklung des Kindes – kristallisieren sich bei den neusten neurologischen Forschungen immer deutlicher heraus – sind von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung eines im Kind angelegten Potenzials. Klar, ohne angelegtes Potenzial läuft nichts. Aber wenn das Kind dieses Potenzial von der Natur mitbekommen hat und es nicht eingeschränkt wurde durch frühvor- und nachgeburtliche äußere Einflüsse, dann wäre es sträflich, diese sensiblen Phasen ohne entsprechende für das Kind hilfreiche Impulse von außen verstreichen zu lassen.
Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die wichtigen Dinge des Lebens und damit die Frage nach einer sinnvollen Lebensführung und dem menschlichen Glück bewegt offenbar seit Jahrtausenden die Menschen. So wird beispielsweise im Buch Kohelet (vermutete Entstehung vor ca. 2.000-3.000 Jahren) schon eine scheinbar im Menschen tief verwurzelte Sensibilität dafür formuliert: „Alles hat seine Stunde.“, was wir heute mit wissenschaftlichen Methoden mehr und mehr bestätigt finden.
Wohltuend fällt bei diesem Sammelband auf, dass nicht wie in zahlreichen anderen Werken dieser Machart, der Leser schier endlose Wiederholungen grundlegenden Wissens lesen muss, sondern durch eine offensichtlich redaktionell sensibel erarbeitete Komposition verschiedener Facetten eines komplexen Themas geführt wird.
Wohltuend wie selbstkritisch die Autoren, die Leistungen und Chancen der Neurowissenschaften beschreiben und Vermutungen, Schlussfolgerungen, Interpretationen, Prognosen auch als solche klar bezeichnen.
Ein für Nichtfachmenschen formulierter Anhang, in der die wichtigsten Fachbegriffe erläutert werden, rundet das gelungene Werk ab.
Weiterführendes
- Hürter, Tobias/ Vašek, Thomas (2016): Warum uns die Stunde schlägt. In: Hohe Luft. Philosophie-Zeitschrift. Ausgabe 4/ 2016, Hamburg: 21-27