Schneider, Wolfgang/ Speckmann, Julia (Hg) 2017: Theatermachen als Beruf: Hildesheimer Wege. Berlin: Theater der Zeit. 224 Seiten – Rezension
Der Deutsche Bühnenverein listet auf seiner Website über 50 verschiedene Berufe am Theater auf, die sich auf „38.000 Festangestellte in städtischen und staatlichen Theatern und Orchestern in Deutschland“ (203) verteilen. Schneider/ Speckmann gehen in ihrer Interviewsammlung von Absolventen der Hildesheimer Studiengänge Kulturpädagogik/ -wissenschaft/ Szenische Künste der Frage nach, inwiefern die Studierenden sich auf ihr Erwerbsleben durch das Studium vorbereitet sahen oder sehen.
Inhalt
I
Wolfgang Schneider und Julia Speckmann: Einleitung 8
Klaus Irler: Die schnellen Brüter. Hildesheim als lebendige Szene freien Theaters 12
TheorieTheaterPraxis oder wie in Hildesheim die Praktische Theaterwissenschaft entwickelt wurde. Hartwin Gromes und Hajo Kurzenberger im Gespräch mit Wolfgang Schneider 18
Theater radikal denken. Matthias Rebstock, Jens Roselt und Geesche Wartemann im Gespräch mit Wolfgang Schneider, bearbeitet von Micha Kranixfeld 40
Theater ohne Arroganz. Julia Lochte und Matthias Günther in Gesprächen mit Wolfgang Schneider, bearbeitet von Micha Kranixfeld 46
Zwischen Leben und Lehre. Melanie Hinz, Ole Hruschka, Uli Jäckle, Jochen Kiefer, Norma Köhler, Christoph Lutz-Scheurle, Frank Matzke, David Roesner und Wolfgang Sting im Gespräch mit Julia Speckmann 54
II KOLLEKTIVE WERKE UND INDIDIVUELLES WIRKEN. PORTRÄTS VON UND INTERVIEWS MIT THEATERMACHENDEN
Theater braucht mehr Relevanz. Simone Dede Ayivi porträtiert von Jan Fischer 70
Wir müssen alle irgendwie brennen. Jan Gehler im Gespräch mit Jan Fischer 75
Zwischen Verantwortung und Freiheit. Jens Hillje porträtiert von Jamila Al-Yousef 84
Der freie Fall. Albrecht Hirche porträtiert von Marleen Wolter 94
Das eine nicht lassen, aber das andere trotzdem tun. Olaf Kröck im Gespräch mit Julia Speckmann, unter Mitarbeit von Micha Kranixfeld 100
Theatermachen in Hildesheim, für Hildesheim und um Hildesheim herum. Mara Behrendt, Katrin Löwensprung und Julia Solórzano Ramírez im Gespräch mit Julia Speckmann 108
Ich brauche Freiräume. Sebastian Nübling im Gespräch mit Mounia Meiborg 117
Theater für junges Publikum als Chance. Klaus Schumacher porträtiert von Claire Bouillet 128
Es geht um eine gerechtere Teilhabe an Kultur. Mariam Soufi Siavash im Gespräch mit Julia Speckmann 134
Für ein eigenständiges Kinder- und Jugendtheater. Jutta Maria Staerk im Gespräch mit Amelie Vogel 142
Die Stadt im Theater. Miriam Tscholl porträtiert von Matthias Spaniel 150
Hauptfach Musik, Nebenfach Theater. Lars Wittershagen im Gespräch mit Sarah Sophia Patzak 160
Mitspielkunst als Profil. Laudatio auf pulk fiktion zur Verleihung des George Tabori Förderpreises des Fonds Darstellende Künste
von Wolfgang Schneider 169
III
Insa Peters: Warum ich keine Assistenzen mehr mache. Erfahrungen aus dem Theaterbetrieb 174
Ein Performer findet die roten Schuhe, stellt sich vors Theater und klopft an. Ein Stück Theater von VOLL:MILCH 182
Jens Roselt: „Es geht, wie gesagt, um mich“. Über Freud und Leid beim Lesen von Projektanträgen der freien Szene 193
Wolfgang Schneider: Theater (möglich) machen. Kulturpolitische Anmerkungen zur Förderung der darstellenden Künste 202
Theatermachen in der Praxis
Who is who: Hildesheimer Absolventinnen und Absolventen 212
Die Kollektive: Autorinnen und Autoren 221
Im Vorwort heißt es: „Die Dichte Hildesheimer freier Theatergruppen ist in Deutschland sicherlich einmalig. Sie hießen Mahagoni, heißen ASPIK, R.A.M., Fata Morgana, Karo Acht, Theater Kolchose, machina eX, Turbo Pascal, vorschlag: hammer, Frl. Wunder AG, Markus&Markus, cobratheater.cobra, pulk fiktion, VOLL:MILCH oder ganz einfach werkgruppe und seit mehr als 25 Jahren auch Türkisch-Deutsches Theater.
Die Vielfalt hat ihren Grund. Dieser liegt ein paar Kilometer außerhalb des Stadtzentrums auf der Domäne Marienburg, einer mittelalterlichen Wasserburganlage mit Turm, Hohem Haus, Pferdeställen, Scheune und Pächterhaus – als Kulturcampus von der Universität genutzt und seit drei Jahrzehnten Domizil des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation.
Die Qualität hat ihre Namen: Theaterprofessoren wie Hajo Kurzenberger als Gründervater und Hartwin Gromes, der Professor für Populäre Kultur Hans-Otto Hügel, Wolfgang Löffler als Professor für Theatermusik und Kollegen der Medienwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft entwickelten den Studiengang Kulturpädagogik, der 1978 die ersten Studierenden aufnahm.
Theaterlernen und Theatermachen
Das Theater stand dabei von Anfang an im Mittelpunkt von Lehre und Forschung, Theorie und Praxis, Seminaren und Projekten. Austragungsort der performativen Labore und Experimentierbühne der darstellenden Künste war u. a. eine alte Fabrikhalle, die wegen ihrer früheren Nutzung als Lagerstätte für Speiseeis als „Eishalle“ in die Geschichte der praktischen Theaterwissenschaft eingegangen ist. Heute steht an gleicher Stelle eine Black Box, also ein Theaterraum, der immer wieder neu erfunden werden will; heute lehrt dort eine neue Generation von Professorinnen und Professoren mit neuen Methoden, neuen Curricula und immer wieder neuen Generationen Studierender.“
Harwin Gromes hatte sich in der Folge des Kongresses „Theaterwissenschaft, Theaterpraxis“ im Jahr 2002 in Hildesheim „mit der Zukunft der Theaterwissenschaft auseinandergesetzt und für ein Curriculum plädiert, das ‚die Absolventen in den Stand versetzen soll, in unterschiedlichen Berufsfeldern einer sich rasch wandelnden Theaterlandschaft mit sich verändernden Strukturen und Produktionsformen tätig zu werden.’“ (202) Ziel der Ausbildung sollte die „’reflektierte Theaterpersönlichkeit’ sein; denn zum ‚Theater und zu dem Kreis von Theaterberufen gehören viele und ganz unterschiedliche praktische Tätigkeiten und Fähigkeiten: künstlerische und organisatorische, technische, darstellerische, bildnerische, musikalische, buchhalterische, kritische, schriftstellerische, publizistische.’ Ein integrierter Studiengang habe zu berücksichtigen, den künstlerischen Prozess, in dem Theater entsteht, am eigenen Leib erfahrbar werden zu lassen. Er solle von der Prämisse geleitet sein, dass Theater interdisziplinär angelegt sei und deshalb auch nur interdisziplinär erlernt werden könne.“ (202-203)
Nach der Analyse der über 20 Interviews bzw. Beiträge wird deutlich, dass sich die Absolventen durchgängig in dieser Weise gut ausgebildet fühlen und sie erläutern auch warum. Dass sie aber auch nicht mit Kritik am Erwerbsleben im Theater sparen, verweist deutlich auf die zentralen Mängel in der deutschen Kulturlandschaft und Schneider fasst treffend zusammen und erleichtert dem Rezensenten die Arbeit: „In den Gesprächen mit den Theatermachenden und Performerinnen bzw. Performern, die in Hildesheim studiert haben, erfährt man vor allem, wie sie sich ihrem Beruf genähert haben, was sie in Theorie und Praxis gelernt haben und wie sie sich in Projekten und Praktika ausprobieren durften. Vom Prozess der Freiheiten ist da die Rede, vom Entdecken des öffentlichen Raumes, von der Neugierde auf das Publikum, vom zentralen Bestandteil von Theater um Vermittlung und Dialog, von der Vielfalt der Angebote und Polyphonie der Stile, von der Offenheit zu populärer Kultur, von der Motivation, neue Formate zu kreieren, von einer Theaterarbeit, die Diskussionen anstößt, von der permanenten Suche, von der Ermutigung, es zu tun, das Theatermachen. […] Sie sind aber vor allem offen für unterschiedliche Arbeitsweisen, für neue Ästhetiken und für ein Experimentieren in unterschiedlichen Strukturen. Oft schaffen sie sich ihre Arbeitsplätze selbst, oft sind es Patchworkarbeiten oder paralleles Projektmanagement. Sie arbeiten am Stadttheater oder in freien Gruppen, sie sind mit Projekten am Staatstheater beauftragt und beauftragen sich selbst im Kollektiv außerhalb der Produktionshäuser. Sie agieren als Künstlerinnen und Künstler, engagieren sich kulturpolitisch und sitzen in Fördergremien und Festivaljurys.“ (204)
Einige rote Fäden seien hier etwas genauer wiedergegeben, die sich durch nahezu alle Interviews ziehen.
Nicht verschwiegen werden sollen einige wenige Seitenhiebe nach den Gießenern, gemeint sind die Studenten und Absolventen des Studiengangs „Angewandte Theaterwissenschaft“ an der Justus-Liebig-Universität in Gießen: „Die konnten sich einen Robert Wilson [als Gastprofessur] leisten.“ (35) und es erstaunt, dass in keinem Interview irgend eine Zusammenarbeit der Hildesheimer mit Gießener Absolventen beschrieben wird. Ob sich hier zwei Theatermacher-Welten umeinander drehen und sich konsequent ignorieren? Ein interessantes Desiderat.
Die meisten Hildesheimer Absolventen kamen über den schulischen Erstkontakt in z.B. der Theater-AGs auf den Gedanken, „später mal was mit Theater zu machen“.
Als zentral in der Ausbildung in Hildesheim sehen alle die enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis, wobei zu spüren ist, dass die Theorie nicht den Ton angibt, sondern die ständigen Praxiserfahrungen in Projekten und Praktika, die die Studenten in weitgehender Selbstverantwortung bewältigen, wobei ihnen engagierte und inspirierende Lehrer zu Seite stehen, eher als Berater und Coaches, weniger als abgehobene Theoretiker und Wissenschaftler. Immer wieder fällt dabei der Name Hajo Kurzenberger, der prägenden Eindruck bei vielen hinterlassen hat. Auf den Menschen kommt es eben an, also auf den Lehrer natürlich. Nicht auf Räume und Umstände, nicht auf Strukturen, auf Methoden, auf Curricula und Didaktiken. Klare Rahmen setzten die Lehrer und Zielvorgaben, nicht inhaltlich, eher als Gatter oder Leitplanken, damit sich keiner verläuft und verloren geht. Innerhalb der Rahmen aber herrschte “grenzen“lose Freiheit zum Experimentieren, Ausprobieren, Improvisieren, Austauschen und nahezu immer bis zur Selbstausbeutung am Rande des Burn-out. Leidenschaft kennt halt keine Grenzen. Alle können alles machen, Interaktion, Kommunikation ist alles. Darin liegt wohl auch die exzellente Vorbereitung dieses Studiengangs aufs Erwerbsleben. Lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und unternehmerisch tätig werden. Entrepreneurship at its best! Dass es dabei eher ums Überleben als ums Anhäufen von Reichtümern geht, lernen sie in dieser Freiheit sehr schnell. Studium und gleichzeitiges Geldverdienen in allen möglichen Jobs in künstlerischen Projekten und Praktika gehen Hand in Hand. Seminarinhalte und Theorien werden sofort auf ihre Praxistauglichkeit hin getestet und überprüft. Alles ist Work-in-progress. Interdisziplinarität wird groß geschrieben. Scheitern gehört zum Programm, aber mindestens Trial & Error. Handwerk wird gelernt. Ohne theatrales Handwerk ist keine ästhetische Formung möglich. Aber bitte kein Formenfetischismus oder gar einen Methoden-Kanon. Aber es wird immer wieder DAS eine Verfahren als der grundlegende Prozess des Theatermachens beschrieben: Ideensuche (keine Drameninszenierung!), Recherche, Materialsammlung, Improvisieren, szenische Umsetzung bzw. theatrale Formung, Aufführung, Kritik.
Das ist wohl auch ein schöner Ansporn für die Lehrenden, sich nicht in ihre Elfenbeintürmchen zurückzuziehen und kunstvolle Rhetorik zu spinnen. Vielleicht auch ein Unterschied zu Gießen, der aber nie ausführlicher beschrieben wird. Es geht ja auch jetzt um die Hildesheimer.
Als Familie fühlen sich die Hildesheimer, die weltweit immer wieder Kontakt miteinander haben und suchen (Netzwerkpflege)und zusammen arbeiten und sich auf Anhieb verstehen, weil sie „die gleiche Sprache sprechen.“
Ich hatte das Glück, über viele Jahre engen Arbeitskontakt mit einem Hildesheimer zu haben, den ich schon als Schüler in meinen Theaterkursen in der Oberstufe betreute, ihn bei seiner Diplom-Arbeit unterstützte, ihm meine Theaterkurse an der Weidigschule in Butzbach zur Verfügung stellte und ihn als Mentor ein Jahr lang begleitete und ihm half, seine Abschlussarbeit zu formulieren. Mein Angebot an ihn, zusammen mit mir das erste Schülerarbeitsbuch für die Oberstufe zu schreiben, das die vorliegenden Curricula in eine Unterrichtskonzeption umsetzt, gab ihm die Möglichkeit eine Brücke zu bauen zwischen seiner späteren Arbeit als Künstler im Kollektiv „Fräulein Wunder AG“ und seiner Arbeit als Fortbildner im Bildungssektor.
Und ich hatte außerdem das Glück, die Einrichtung des Studiengangs „Angewandte Theaterwissenschaft“ in Gießen hautnah mitverfolgen zu können. Schüler aus meinen Theaterkursen an der Weidigschule haben sich dort eingeschrieben, ich habe selbst in den Anfängen mit dem Gedanken gespielt, mich einzuschreiben für ein Zweitstudium, ich habe mit Lehrenden zusammen gearbeitet und mir zahlreiche Produktionen angesehen und mit Studierenden und Absolventen immer wieder über lange Zeiträume hinweg gesprochen und deren Erfahrungen kennen gelernt. Es zeigt sich eine anderes Bild, ein nicht so schönes Bild wie in Hildesheim. Von irrem Druck unter den Studierenden und gnadenloser Konkurrenz ist da oft die Rede, Druck etwas immer noch Verrückteres, Abgedrehteres machen zu müssen, um Anerkennung zu bekommen. Vielleicht auch eine Folge dessen, dass ich immer wieder hörte: Wir werden hier alleingelassen und nicht betreut. Die Promi-Lehrenden kümmerten sich wohl mehr um ihre eigene Karriere als um die Lehre, so konnte ich häufig vernehmen.
Was ist nun genau die Zauberformel des Erfolgs der Hildesheimer?
Zunächst einmal gibt es eine strenge Aufnahmeprüfung. Die Bewerber werden auf ihre Eignung überprüft und selektiert. Nur die Besten dürfen hier studieren. Das sind nicht die mit den besten Noten. Noten sind ein nachrangiges Kriterium. Wäre es verfehlt zu sagen, dass die Selektion durch eine Aufnahmeprüfung etwas Elitäres hat? Nur die Besten dürfen mitmachen, um sich nachher Gedanken zu machen, wie sie mit ihrer Arbeit Inklusion betreiben? Bildungsferne Menschen ins Theater holen? Theater aufs Land bringen? Benachteiligte auf Bürgerbühnen ins Rampenlicht stellen? – Ein Desiderat.
Der zweite Teil der Zauberformel des Erfolgs der Hildesheimer ist ganz offensichtlich der Schwerpunkt der praktischen Arbeit in großer Freiheit mit kompetenter Unterstützung durch die Lehrenden. Nun ja, nach einer derartigen Selektion bei der Aufnahmeprüfung sind wohl nur noch überaus ehrgeizige und engagierte Menschen beieinander. Die stellen von sich aus schon was auf die Beine. Und wenn sie noch fachkundig angeleitet bzw. inspirierend begleitet werden, dann ist das Erfolgsrezept vollständig.
Ich bin gespannt, ob es in Bezug auf die Gießener auch bald so eine Revue der Absolventen geben wird, und ob die sich zu den Hildesheimern positionieren.
Einstweilen ein herzliches Danke an Schneider und Speckmann für ihren Beitrag, der sicherlich den Blick des einen oder anderen begeisterten Schülers, der sich mit dem Gedanken trägt, „später mal irgendwas mit Theater zu machen“, aus der fantastischen Theater-Welt auf die Welt des Erwerbs- und Überlebens im Kultursektor lenken kann. Ein bisschen schmerzt, dass Schneider/ Speckmann so gar nichts über die Theater-Lehrkräfte-Ausbildung schreiben.
Das Buch gehört in jeden Handapparat von Theater-Kursen oder -AGs in Schulen.
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