Das 38. Berliner Theatertreffen der Jugend zeigte im Juni 2017 aus über 100 Bewerbungen aus Deutschland acht von einer Jury ausgewählte Produktionen.
Ich konnte mir nur drei Produktionen anschauen, die aber nach vielen Gesprächen mit Beteiligten und Gästen des Festivals mir signalisierten, dass diese drei Aufführungen recht gut das Spektrum der Heterogenität des Gezeigten andeuteten. Insofern kann ich hier kein vollständiges Bild vermitteln, sondern schildere lediglich meine Eindrücke von drei Stücken und ergänze diese durch einige offizielle Theaterkritiken zum Vergleich.
Vielfalt zeigte sich nicht nur in den Produktionen, sondern auch im Status der Gruppen. Diese Verschiedenartigkeit – das Festivalkonzept – lässt z.B. eine Schultheatergruppe einer Waldorfklasse [alle Schüler dieser Klasse müssen Theaterspielen; hier: angeleitet von einem (eingekauften?) sehr jungen Spielleiter ohne Theaterausbildung] auftreten.
Am nächsten Tag präsentierten sich gecastete „Jungschauspieler“ unter der Führung eines hochkompetenten professionellen Theaterregisseurs.
An meinem dritten Tag zeigte eine Schul-Theater-AG, unter der Anleitung von Theater-Lehrkräften, ihr Arbeitsergebnis.
Was will man da vergleichen? Das überwiegend dilettantische Spiel der Waldörfer unter nicht überzeugender sachkundiger Anleitung und das Darstellende Spiel der AG-Schüler unter Anleitung von Lehrkräften mit einer nahezu perfekten professionellen Darbietung? Geht nicht.
Die unterschiedlichen Voraussetzungen machen Vergleiche nur schwer möglich bzw. sie verbieten sich von selbst. Einzig die Frage, was hätten die Jugendlichen unter der entsprechenden Anleitung mit der entsprechenden Zeit leisten können, wäre ein Maßstab.
Insofern stellen sich die Fragen nach den gezeigten theatralen Formen, nach der möglichen Ästhetik eines Theaters von und mit Jugendlichen bzw. jungen Menschen.
Fragen nach den Produktionsbedingungen einer Gruppe in den Mittelpunkt der Nachbesprechungen zu stellen, um Fragen nach einer fehlenden theatralen Ästhetik abzuwehren, waren deshalb nicht hilfreich und nicht zielführend. Man hatte sich im Falle Waldorf schlichtweg überhoben, und die Frage, warum dann die Präsentation auf diesem herausragenden Festival mit Vorbildcharakter gezeigt wurde, erübrigt sich. Es passt nicht. Schulunterrichtsergebnisse sollten auf ein Schultheaterfestival und Profiproduktionen auf Profitheaterfestivals.
Nun zu den Stücken, die ich gesehen habe. Es ist nicht möglich, das, was auf der Bühne jeweils tatsächlich geschah, hier vollständig und objektiv zu beschreiben. Meine Schilderung wird also ausschnitthaft und geprägt sein von meiner Art wahrzunehmen. Ich schaue und erlebe als Theaterlehrer mit 40 Jahren Berufs- und 66 Jahren Lebenserfahrung, und die intensiven Gespräche mit einigen Jugendlichen zeigten mir, das Alter spielt keine große Rolle. Es kommt auf einen einfühlsam und fachkompetent geführten Diskurs an. Und beides besaßen etliche Jugendliche in wunderbarsten Weise: Einfühlungsvermögen und erstaunlich hohe theatrale Kompetenz, gepaart mit präziser gedanklich-analytischer Trennschärfe. Für die meist abendlichen Gespräche nach den Aufführungen bin ich den Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen sehr dankbar.
Am 06.06.2017: das bin ich nicht.
Szenencollage bestehend aus „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, Texten von Caspar-Maria Russo (Regisseur), Facebook-Kommentaren und dem „Kriegslied“ von Matthias Claudius. Theater-AG der 12. Klasse der Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld
Das Ensemble schreibt über sich: „Es geht um Auschwitz, es geht um Höcke, es geht um Hass, es geht um Hitler, es geht um Gauland, es geht um Trump, es geht um Auschwitz, es geht um Flüchtingsheime, es geht um Auschwitz, es geht um Höcke …“
Ja, darum ging es. Irgendwie. Aneinandergereiht. Aber wie das Eine mit dem Anderen zusammenhängt, das erschließt sich nicht so ohne Weiteres. Es erschließt sich zu wenig im zu vielen Text und noch weniger in der Spielform. Eine Reihung von Fragmenten macht noch keine Szenencollage.
Dabei lagen schöne Einfälle und dramaturgische Fäden zuhauf auf der Bühne herum. Das Team, der Regisseur (23 Jahre alt, 4 Semester Germanistik), hätte sie lediglich verknüpfen müssen und zu ästhetischen Prozessen verweben sollen. Das erst macht Theaterkunst. Auch zeigten sich grobe handwerkliche Fehler: Unter einer Vollmaske (ohne Mundausschnitt) wird nicht gesprochen! Es sei denn, man will zeigen, dass eine Stimme unter der Neutralmaske ihre Individualität, ihre Persönlichkeit verloren hat, unkenntlich und unverständlich wird. Erstaunlich dennoch wie der stimmgewaltige jugendliche Mime es vermochte, doch unter dieser Maske – vermutlich mit Abstandshaltern – verstehbar zu artikulieren. Aber warum trug nur er die Neutralmaske auf dem Baugerüst mit „Dem Volk“? Potenzial für symbolstarke Choreografien und Bilder. Nicht genutzt.
Aber kommen wir zu grundsätzlichen Fragen der Konzeption von freiem Jugendtheater und Theater-AG-Arbeit.
Schon bei der Uraufführung der „Ermittlung“ stellt sich die Frage, ob man diesem Stoff mit dem Theater beikommen kann und ob man mit dieser Form dem Stoff beikommen kann. Politische Bildung in der Form einer Pseudodokumentation macht noch kein Theater. Doris Post hat mit drei Entwürfen gezeigt, wie politisches Theater mit Jugendlichen aussehen kann, hat gezeigt, mit welchen theatralen Mitteln, Techniken und Methoden man diese Stoffe ästhetisch angemessen bearbeiten sollte. Dies sei als kleine Weiterbildungslektüre für den „Regisseur“ Russo empfohlen.
Warum wurde die spannende Eröffnungsszene mit den spielenden Kindern nur plakativ inszeniert und nicht genutzt, um einen ersten vielleicht durchgängigen roten Faden – ja den braucht eine Collage auch – zu spinnen, der in der Schaukel als multifunktionalem Requisit und Kulisse und Symbol eine Knotenpunkt hat? Dramaturgie eben.
Warum blieb es bei illustrierendem Gitarregeklimpere, und warum wurde dieser schöne Faden der Live-Musik nicht aufgegriffen und z.B. zum Kinderlied verlängert? Die Kinder auf der Bühne singen selbstverständlich mit. Das Lied könnte zu den Moorsoldaten mutieren, zum Horst-Wessel-Lied übergehen. Opa kommt, der auf die Kinder aufpasst, mit ihnen spielt, wird befragt: Du Opa, wie war das im Krieg? Hast du auch Leute erschossen? Hast du bei den Nazis mitgemacht? Bernd (sic!) Höcke könnte einen Auftritt haben: Logisch als Karikatur, als Groteske. Und damit ist es wieder Realismus, Einbruch des Realen. Und wer hätte vermutet, dass ein narzisstischer Schmierenkomödiant zum mächtigsten Mann einer Demokratie gewählt würde. Dem kommt nur noch die Satire bei!
Bitte keine Schüler psychorealistisch die Leiden eines Auschwitzinsassen spielen lassen. Das kann nur peinlich werden. Text-Theater, das überforderte.
Die Frage von Realismus, Naturalismus und Stilisierung sind im Stück nicht geklärt. Es gäbe noch viel anzusprechen. Es geht tatsächlich um Grundsätzliches. Der „Regisseur“ hat mit seinen Schülern aufgrund mangelnder theatraler Kompetenz nichts über die Banalität des Bösen in angemessenen ästhetischen Formen gezeigt, sondern das Böse unfreiwillig banalisierend ausgestellt. Schade, dass der vorab gelaufene und scheinbar gelungene Lernprozess politischer Bildung durch die Beschäftigung der Schüler mit diesem wichtigen Thema durch die Anmaßung, es theatral präsentieren zu können, so einen – hoffentlich nicht für die Schüler konterkarierenden – inkonsequenten Abschluss fand.
Eine offizielle Kritik:
„Die Lust an der Provokation ist groß. Die behandelte Thematik auch. Leider mangelt der Inszenierung “das bin ich nicht” an kritischer Reflexion und ästhetischer Überzeugungskraft.
Shoa, Flüchtlingskrise, neue Rechte – das und noch viel mehr will die Theater-AG der Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld in “das bin ich nicht” theatral bearbeiten. Peter Weiss’ als schwer spielbar geltendes Stück über die Auschwitz-Prozesse, “Die Ermittlung”, soll durch Facebook-Kommentare und eigene Texte mit gegenwärtigen politischen Entwicklungen verknüpft werden. Diesen großen Ambitionen steht kein angemessener ästhetischer Entwurf entgegen.
Es folgt schlicht Provokation auf Provokation: Zwischen Hasskommentaren, Beschreibungen von Folter und Aggression wird häufig “Fotze”, “Halt’s Maul” und “Sieg Heil” gebrüllt. Die psychische Gewalt wird in Form dieser unreflektierten Nachahmung weniger kritisiert als reproduziert, indem sie ständig als billiger Schockeffekt missbraucht wird. Es wird zum Genozid aufgerufen. Es werden rassistische Witze erzählt. Es wird gebrüllt und nicht kontextualisiert. Kein Phänomen wird in einen übergeordneten Zusammenhang gestellt, es findet keine Analyse statt, nicht einmal eine echte Positionierung gegen die Gewalt. Es soll einfach alles mit allem verbunden sein. Der Satz: “Zwischen Pegida und Salafisten gibt es keinen Unterschied” wird zum Beispiel vielfach wiederholt.
Von der Nivellierung zur Verharmlosung
Übergangslos wechseln sich die Episoden aus der Gegenwart mit Gerichts- und Folterszenen ab. Die Unterschiede werden nivelliert, indem die Gewalt immer nur beschrieben wird, nicht aber mit theatralen Mitteln unterlaufen. Auch wird kein übergeordneter Zusammenhang hergestellt; es findet keine Analyse statt, die die grundverschiedenen Mechanismen aufzeigt, die etwa dem deutschen Provinzrassismus oder dem industrialisierten Massenmord zugrundeliegen. Die Nivellierung führt zur Verharmlosung: Pegida, Salafismus und die beispiellosen Verbrechen des Holocaust auf diese Weise nebeneinander zu setzen wird keinem der Phänomene gerecht.
Dramaturgische Schwächen
Genau das – Gleichsetzung und maximal zugespitzte Kontraste – nutzt die Inszenierung, um über ihre dramaturgischen Schwächen hinwegzutäuschen. Der Welt des Bösen wird romantisierter Kinderkitsch entgegengesetzt. Eine Schwärmerei, die zum einen die fehlende Kritik nicht ersetzen kann und die zum anderen umso unglaubwürdiger wirkt im Kontext der zur Schau gestellten Gewalt. Die Gerichtsszenen verkommen durch das ununterbrochene Brüllen von Fäkal- und Nazisprache zur Karikatur ohne aufklärerische Qualität. Das Vortragen von Facebook-Kommentaren büßt seine theatralische Wirkung nach kurzer Zeit ein, weil sie für den Zuschauer vorhersehbar werden. Die Darstellung der “Banalität des Bösen” in Gestalt der Angeklagten ist fragwürdig, weil sie als bestialisch oder einfach nur dumm karikiert werden – das entzieht sie der Kritik.
Wo bleibt die Kunst?
Exemplarisch für die ästhetische Unbedarftheit der Inszenierung ist die Art, wie am Ende des Stücks Matthias Claudius „Kriegslied“ in die Inszenierung gepresst wird: Es ist wohl grundsätzlich vermessen, ein Gedicht aus dem Kontext des bayerischen Erbfolgekriegs zu verknüpfen mit Shoa und Nazis, mit Flucht und Vertreibung. Dieser Inszenierung gelingt es nicht. Noch schwerer nachvollziehbar ist die Idee, Claudius’ stille Leidenslyrik in brüllender Lautstärke von einer nah zum Publikum aufrückenden Chorphalanx vortragen zu lassen.
Die Inszenierung könnte beispielhaft als denkbar schlechte Umsetzung von Weiss’ Vorlage in Erinnerung bleiben. Ihre politische Intention wurde verkehrt, die Gewalt reproduziert und verharmlost. Versuchte Aufklärung schlägt in ihr Gegenteil um.“ (Autor: Philipp Neudert) > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/das-bin-nicht-ich-provokation-ohne-kontext/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
Stellungnahme der Jury:
„Jurymitglieder Carmen Grünwald-Waack und Ilias Botseas im FZ-Gespräch über “das bin ich nicht” der Theater-AG der Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld.
FZ: Ihr beide habt das Stück gestern gesehen, zum zweiten Mal. Was habt ihr mitgenommen?
Carmen: Ich finde es bemerkenswert, dass sich eine Schulklasse eines solchen Themas annimmt und es so intensiv verarbeitet. Obwohl sie Folter und den Auschwitz Prozess darstellen, tappen sie nicht in die Falle, zu behaupten, dass sie wissen, wie es im Nationalsozialismus zugegangen ist.
FZ: Es gibt bestimmte Figuren, die wir nicht einordnen konnten. Zum Beispiel die Ravioli-Mutter. Sie wurde auf abfällige und verletzende Weise als eine Person dargestellt, dienach Menstruationsblut stinkt. Was hat euch das erzählt?
Ilias: Für mich steht die Figur für jemanden, der sich von der Gesellschaft komplett abschottet. Es gab auch noch die andere Figur, diese Kaugummi kauende Tussi. Das hat für mich einen Zusammenhang ergeben. Es sind Figuren wie aus RTL II. Ich denke, solche Menschen hat es auch damals gegeben. Für mich wirkt es wie ein Warnsignal, dass wir als Gesellschaft darauf hinarbeiten müssen, diese Menschen zu integrieren.
FZ: Ich habe mich gefragt, ob die Darstellung der Figuren nicht eher zu einer Distanzierung des Publikums führt. Im Zusammenhang mit der AfD wurden vor allem die Ravioli-Mutter und die “Tussi” dargestellt, als seien das die typischen AfD-Wähler*innenCarmen: Natürlich ist das verkürzt. Es ist exemplarisch gemeint.
FZ: Ich finde, gestern ist nicht nur verkürzt worden, sondern es fand eine politisch falsche Analyse statt. Für mich sind genau das die gefährlichen Erzählungen, die es in der Gesellschaft gibt.
Carmen: Aber das spannende dabei ist ja, dass die Spieler*innen sich nicht distanzieren. Sondern in sich suchen, was ist in ihnen steckt. Dass sie Bock haben, auf der Bühne auf einem Gerüst zu stehen und nationalistische Parolen zu rufen.
FZ: Welche Reflexion steckt darin, H*** H***** zu rufen?
Carmen: Wenn die Spieler*innen das tun, dann kann das Emotionen wecken. Und diese Gefühle werden reflektiert, indem gezeigt wird, dass diese einfachen Handlungen sich wiederholen können.
FZ: Also glaubst du, dass “Die Ermittlung”, der Holocaust, Auschwitz, rassistische Kommentare und dehumanisierende Beleidigungen nur benutzt wurden, um etwas zu lernen?
Carmen: Also was heißt hier „lernen“. Das entsteht als Effekt beim Publikum und darin
ist es sehr stark. Dass es gesellschaftliche Mechanismen offen legt.
FZ: Muss man, um grundlegende, gesellschaftliche Mechanismen zu verdeutlichen, gleich die Shoa thematisieren?
Ilias: Das Publikum hier im Haus der Berliner Festspiele ist politisch fachkundig. Es handelt sich bei dem Stück aber um ein Schulprojekt. In Freiburg hat das Stück sein Publikum kalt erwischt. Es waren viele anwesend, die zum ersten Mal begriffen haben, dass derart rassistische Hasskommentare auf Facebook real existieren.
FZ: Mein grundlegendes Problem an dem Stück ist weniger die Reproduktion von rassistischen Bildern als deren Relativierung. Man kann nicht singuläre Ereignisse wie die Shoa nehmen und mit beispielsweise Hasskommentaren vergleichen. Das geht in eine Richtung, wo Wörter relativiert und verharmlost werden.
Ilias: Also, ich stimme dir zu. Ich verstehe, was du sagst. Dass sie Sachen eingeworfen haben. Dass da mehr dran hängt – und dann wird es so hingenommen und als banal dargestellt.
FZ: Soll die Darstellung also einfach den Effekt haben, zu sagen, dass es alles schlecht ist?
Ilias: Es sind Erzählmuster. Ich glaube, diese Muster wiederholen sich schon seit 2000 Jahren.
FZ: Meinst du also faschistische Bewegungen? Ich finde, man muss das differenzieren. Das ist nicht alles ein Brei.
Ilias: Für mich sind das alles Muster. Und sie wiederholen sich auf der ganzen Welt. Ich frage mich: Wie kann ich das allgemein verhindern? Für mich ist das mit einem ganz einfachen Wort möglich: Aufklärung.
FZ: Aufklärung also. Es heißt ja auch im Programmheft, dass da so viel Licht ist, so viel Licht. Wo ist es in diesem Theaterstück?
Carmen: Mein Lichtblick ist: Ein riesiges Ensemble steht auf der Bühne, von dem ich das Gefühl hab, die haben etwas fürs Leben verstanden. Dieser Erkenntnisprozess, der überträgt sich auf mich. Ich denke, wow, die haben echt was verstanden.
FZ Und was haben sie verstanden?
Carmen: Sie haben verstanden, dass es rassistische, diskriminierende, die Gesellschaft negativ beeinflussende Mechanismen gibt, denen man leicht verfällt und die schwierig sind zu identifizieren. Indem man das verstanden hat, geht man vorsichtiger mit der Welt, mit den Informationen, die man bekommt, und den eigenen Handlungen um.
// feat. Max Deibert“ > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/das-bin-ich-nicht-diskussion/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
07.06.2017: Katzelmacher nach Rainer Werner Fassbinder
Balljugend-Club am Jungen Schauspiel Hannover
Der Regisseur hat fast alles richtig gemacht. Ästhetik ist Form. Und form follows function. Der Inhalt sucht sich oder braucht eine entsprechende Form.
Was ist der Inhalt der Textvorlage?
In einem Provinznest des 1960er Jahre dümpelt eine Gruppe Jugendlicher und repräsentieren die Enge/ Engstirnigkeit, die Angst vor Fremdem/ Anderen, Langeweile und Tristesse; gefangen in einem hermetisch abgeschlossenen und rassistischen Denk-Kosmos.
Die Anwesenheit eines Ausländers stört diesen Kosmos und alle Vorurteile werden auf ihn projiziert.
Identifikatorisches Spiel zeigte sich schnell als untauglich, eine naturalistische Sprechweise als unangemessen und von den Amateuren nicht zu leisten. Als Form für diesen Inhalte eignete sich demzufolge nur nicht-identifikatorisches, stilisiertes Spiel, das die Langeweile der Jugendlichen in endlosen Alltagswiederholungen zeigte, ohne im Spiel langweilig und trist zu werden. Langeweile und Monotonie auf der Bühne spannend zu inszenieren, ohne das Publikum zu langweilen war die Aufgabe.
Diese Aufgabenstellung und Herausforderung führte zur Suche nach Bildern, die bereits mit wenig Text große Aussagekraft besitzen. Die Textreduzierung auf prägnante Redebeiträge der Figuren, kombiniert mit den Kompositionsmethoden Wiederholung und Variation, gab den Rahmen für die Text-Form vor.
Die Forderung für nicht-identifikatorisches Spiel löste die Gruppe ein, indem sie sich entschied, die Figuren als lebende und fremdgesteuerte Klappmaulpuppen mit synchron bewegten Lippen zum vorab produzierten Sprechtext, der über die Audioanlagen eingespielt wurde, und zwar mit Mickeymousing-Effekt, auftreten zu lassen.
Daraus ergab sich eine Bilderfolge, die eindringlicher nicht sein konnte, entstanden aus einer virtuosen Komposition der Anwendung primärer und sekundärer theatraler Mittel durch ästhetische Techniken und Kompositionsmethoden.
Die Gruppe zeigte eine vorbildliches Modell für das Durchdeklinieren der ästhetischen Mittel – nicht als modernistisch gequälte sogenannte Dekonstruktion eines einstmals organischen Gefüges – sondern als überaus geschickte und hochprofessionelle Nutzung der formgebenden Methoden des Theaters.
Die Facetten der Kompositionsmethode Wiederholung wurden bis in ihre letzten Feinheiten variationsreich auf die Bühne gebracht, um dem Inhalt der Vorlage ein geeignetes Gefäß zu geben. Ausgrenzung, Engstirnigkeit, Monotonie, Wiederholungen in engen ritualisierten Alltagsformen, Fremdenangst, Zusammenrottung als Mob, Hermetik, Eintönigkeit, Eindimensionalität, Aggressivität erhielten eine theatral überzeugende Form. Lediglich signalisierte mir mein Zeitempfinden, dass die Kompositionsmethode Wiederholung bei den Sprechtexten manchmal ein wenig überstrapaziert wurde; ein wenig. Dann kippte der Effekt und die vermutete Wirkungsabsicht bei mir um. Dieses Gefühl verstärkte sich, als ich nach einer halben Stunde wollte, dass es aufhört. Die Methode war für mich ausgereizt und drohte in Manierismus, im Sinne einer überzogenen Hervorhebung eines Stils, umzukippen. Auch der Einsatz der Kompositionsmethode Bruch am Ende des Stückes – als den Grundstil konterkarierendes Abschluss-Bild – hätte wegfallen sollen: Der bisher geschickt im anonymen Publikum angesprochene Ausländer trug als leibhaftige Figur die Erschlagene in den Sonnenuntergang.
Diese Produktion ist weit weg von dem, wozu Schüler im Theaterunterricht oder einer AG unter Anleitung von Theater-Lehrkräften in zwei oder drei Wochenstunden in der Läge wären. Aber sie gibt modellhaft Hinweise, wie gearbeitet werden kann: nicht-identifikatorisches stilisierte Spiel, wenig Text. Dazu braucht es vor allem theatral-handwerkliche Kompetenz. Die gilt es ersteinmal im Schul-Unterricht zu erwerben. Dies hat übrigens ein Amateurtheater-Macher vor vielen Jahren schon überzeugend begründet und dargelegt (vgl. Waegner 1994).
Offizielle Theaterkritiken:
„Also, Texte auswendig lernen kann das Ensemble „Typisch Hannover“ schonmal nicht. Sonst hätten sie das Stück „Katzelklo“ von Rainer Maria Rilke wohl kaum als Playback gespielt. Geschickt gelöst – fast wären wir drauf reingefallen! Schade nur, dass der Licht-Techniker zu viel Red Bull hatte. Das schnelle Licht-an, Licht-aus machte es schwer, die Prügelszene zu verfolgen. Das ist wirklich schade, weil die FZ Gewalt gerne sieht.
Inhaltlich hat das Stück es spielerisch geschafft, einen Bogen zwischen Reichsbürgertum und Augsburger Puppenkiste zu spannen. Rihannas Cover des Songs “We found love” (Original: “BRD GmbH abschaffen” von Xavier Naidoo) ist zu verstehen als musikalischer Fingerzeig auf den Zustand des von alliierten Mächten besetzten Deutschlands. Der Strippenzieher der Deutschland-GmbH ist das Publikum, das die Spieler*innen mit dem Satz “gibt es denn hier nicht Arbeiter genug?” direkt adressieren.
Orgasmus pur bringt die Schlussszene des Stücks, wenn das aus vielen Kinderbüchern bekannte Urmel am Publikum vorbei auf die Bühne ins Licht schreitet. Zu verstehen ist das als eine versteckte Anspielung auf die sogenannte “Urmel-heim-ins-Reich”-Aktion. In den letzten Monaten des Zweiten Krieges kam in führenden Nazikreisen die Hoffnung auf, den Kriegsverlauf doch noch zu Deutschlands Gunsten wenden zu können, und zwar mit Hilfe einer aus genetisch veränderter Dino-DNA gezüchteten Nazi-Monsterechse namens Ursputatorex (Codenamen: “U3”/Urmel). Nach dem D-Day wurde der Embryo aus Paris herausgeschmuggelt. Die geplante Demonstration der U3 in Anwesenheit Hitlers verlief jedoch enttäuschend. Urmel entpuppte sich als sprechende Schoßechse, die allenfalls dazu dienen konnte, Goebbels Kindern die Wartezeit im Bunker zu verkürzen, ehe sie Anfang ‘45 schockgefrostet wurde.
// feat. Philipp Neudert.“ > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/failrezension-katzelmacher/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
„Taubgeprügelte Wahrnehmung
Wie klingen Rihanna-Songs am schönsten? Ohne Strophen, verzerrt und schmerzhaft schief gesungen. Dazu der rotierende Zeigefinger. Er ist da und wird sich drehen bis zum Ende der Welt. „We found love in a hopeless place.“ Hoffnungslos ist der Ort wirklich: Es gibt keine Menschen, nur Puppen. Nicht die Figuren sprechen, sie werden gesprochen – verzerrt und aus dem Off. Ihre Sätze werden durch endlose Repetitionen verfremdet.
In seinen besten Momenten funktioniert dieser Kunstgriff sehr gut, etwa in der angesprochenen Rihanna-Szene. Oder als erklärt wird, dass der griechische Gastarbeiter „besser gebaut“ sei. Wo? „Am Schwanz. Am Schwanz. Am Schwanz. Am Schwanz. Am Schwanz. Am Schwanz.“ Wo nochmal? „Am Schwanz, am Schwanz, am Schwanz…“ Das ist so abstrus, dafür gibt es Szenenapplaus.
Eine andere starke Szene zersplittert im Strobokskoplicht. Es geht um eine Prügelei, die Bewegungen wirken durch das Licht noch mechanischer. In diesem Licht auch zu spielen und zu sprechen, wagt die Inszenierung nicht. Grundsätzlich spricht aus dem Stück eine Furcht davor, das Publikum zu überfordern. Nur in wenigen, verschämten Momenten sprechen die Figuren durcheinander, fast nie geschehen verschiedene Dinge gleichzeitig auf der Bühne, nie gibt es ein Überangebot verschiedener Reize. Das hätte ein gutes Gegengewicht zu den eindimensionalen Repetitionen darstellen können.
Die Szenen werden durch blendendes Licht, das in schlagartige Dunkelheit übergeht, und durch dröhnendem Industrialpunkrock voneinander getrennt. Wenn das Licht wieder anspringt, hat sich die Figurenkonstellation auf der Bühne geändert. Was anfangs noch überraschen, ja, erschrecken kann, verliert seine Wirkung nach vielfacher Wiederholung. An der Stelle einer gewollten Monotonie tritt etwas, das unfreiwillig wirkt wie – Einfallslosigkeit. Minimale Variationen in der Intonation reichen nicht aus, die Spannung zu halten. So löst sie sich zunehmend auf und weicht der Langeweile.
Die Eintönigkeit wirft mich auf mich selbst zurück. Nicht einmal eine Szene in völliger Dunkelheit, in deren Verlauf die Darsteller*innen durchs Publikum gehen und mir meine Mütze abnehmen und andersherum wieder aufsetzen, hat noch eine Wirkung auf meine von von den Repetitionen taubgeprügelte Wahrnehmung. Einige Leute um mich herum lachen. Andere dösen schon. Mein distanzierter Blick weiß immer noch: Was da auf der Bühne geschieht, entlarvt, klärt auf, zeigt Zusammenhänge, ist irgendwie durchdacht und durchgestylt mit fremdgesteuerten Figuren und verfremdeten Stimmen. Aber ich habe keine Kraft mehr, das gut zu finden. Sodass ich am Ende nur erleichtert denken kann: „Jetzt ist es ja vorbei.“ von Philipp Neudert > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/taubgepruegelte-wahrnehmung/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
„Katzelmacher: put your simmel in me
Der Wandernde ist der “begriffliche Gegensatz zur Fixiertheit, […] der Fremde [hingegen vereint beides: Er ist nicht der,] der heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der nicht weitergezogen ist” (Georg Simmel, 1908).
Die Balljugend aus Hannover hat mit ihrer experimentellen Übersetzung des “Katzelmacher” den Inhalt in eine ihm bestimmte Form überführt. Sie sind tief eingedrungen in die Materie, haben die Sprache auf ein Minimum seziert. Jede Szene war eine Bewegung, jede Bewegung eine Bedeutung, eine Re-aktion in einem fixierten Raum.
In diesen Raum tritt ein Fremder. Wir sehen ihn nicht. Die Gemeinschaft spricht zu ihm, über ihn, aber eigentlich zu uns. Ihre Sprache richtet sich gegen den Raum, den wir teilen, gegen den Fremden, der sich in diesem Raum bewegt. Ihre Sprache versucht, ihn zu fixieren und fixiert dabei nur sich selbst. Verhärtet.
In diesem System wird jede Handlung wiederholt. Durch die Wiederholung wird sie bedeutsam, erhält Symbolcharakter. Die Abweichung von der Wiederholung ist umso bedeutsamer, sie führt eine neue Bedeutung ein, sie stärkt das System. Versteift. Das junge Ensemble schaffte es, das System auf seine Grundmuster herunterzubrechen. Verbale Attacken enden in physischer Gewalt. Das Stück beschreibt minutiös jeden Schritt, die Grundbedingungen des Systems. Es ist ein Puppentheater über die Verbindung von Rassismus, Erotik und Gewalt; ein Machtspiel in Dauerschleife.
Das Stück trennt den Körper vom Geist. Und dieses Machtspiel ist körperlich. Die Re-aktion läuft automatisch ab. Deutlich wird das, als die Spieler*innen den Publikumsraum betreten. Das System greift über, greift uns an, versetzt uns in Angst und gleichzeitig in Verwunderung, ja, Amusement. Die Spieler*innen bewegen sich frei im Publikum, sie wissen um ihre Macht, um den Effekt, den sie erzielen. Das Publikum bleibt anonym, die Begegnungen sind auf das Zwischenmenschliche reduziert, individualisiert. Es ist nicht wirklich Angst, die im Raum herrscht, denn die Spieler*innen werden nicht übergriffig, es ist eine automatisierte Re-aktion. Unser Körper erkennt die Signale und reagiert, unser Geist erkennt die Muster und durchschaut sie. Der Raum ist erfüllt von Lachen, Gerede, ab und an ein Aufschrei. Sie machen es für das Publikum körperlich erlebbar, wie Dynamiken sich verselbständigen können.
Damit beweisen die Spieler*innen nicht nur ihren Sinn für Ästhetik und Sprache, ihr großes schauspielerisches Talent, ein präzises Zeitgefühl und ihre tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Thematik, sondern auch eine zutiefst menschliche Haltung gegenüber Fehlern. Sie maßen sich nicht an, aus der Perspektive des Fremden zu sprechen; sie sprechen aus ihrer Perspektive, ohne anzuklagen, bloßzustellen, zu entlarven; zeigen die Bedingungen der Angst, zeigen Fremdenhass als Machtstruktur; zeigen, dass Menschen in einem System Handlungsoptionen haben. All das kumuliert zu einer geistigen Circlusion mit unzähligen Höhepunkten.“ von Luna Ali > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/katzelmacher-put-your-simmel-in-me/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
Das letzte Stück, das ich sah, hat mir den Kopf zerbrochen. Ich brauchte den Abend, um ihn wieder zusammenzusetzen, mit Hilfe von überaus klugen jungen Erwachsenen, die mir als äußert einfühlsame Gesprächspartner halfen.
Twailait nach Filmen der Twilight-Saga. EchtEinstein-Theater-AG der Albert-Einstein-Schule Groß-Bieberau
Nach wenigen Minuten der Aufführung begann ich nach Begriffen zu suchen für das, was ich da sah. Ich brauchte eine halbe Stunde. Was ich da sah, hatte ich schonmal gesehen, und zwar schon oft. Déjà-vu. Das hatte die „Spiel-Form“ eines Klassenfahrt-Abschlussabends. Gestaltungsaufgabe für jedes Zimmer: Präsentiert etwas zimmerweise, das inhaltlich mit der Klassenfahrt zu tun hat. Ihr habt den Nachmittag Zeit dafür.
Auch hier ging es, wie grundsätzlich in jeder Theaterproduktion, um die zentrale Frage, was sind die wesentlichen Kennzeichen der Inhalte, mit denen sich die Gruppe beschäftigt hat, und welche ästhetische Form ist die angemessene, um dem Inhalt einen Ausdruck zu verschaffen.
Der Inhalt: eine vielfach rezipierte Teenie-Serie mit bekannten Klischees. Altbacken. Wie Germanys next Topmodell. Alle ziehen über diesen verdummenden Schwachsinn her, und alle schauen ihn. Wirkung der Reflektion: null.
Kann man ein Klischee durch die Wahl einer Ästhetik des „Un-Perfekten“, die gar keine Wahl ist – bewusst unperfekt kann nur der Perfekte sein – dekonstruieren. „Dekonstruktion“, das neu längst totgerittene Lieblingswort im Schultheater, in sehr enger Anlehnung an die Theaterprofis. Was soll in einem bereits dekonstruierten Wirklichkeitsabbild einer solchen Serienproduktion nochmals dekonstruiert werden? Sollte nicht vielmehr die vornehmste Aufgabe einer Theater-Lehrkraft darin bestehen, wenigstens im Theater des Als-ob mit Schülern eine ästhetische Konstruktion/ Vision auf der Basis eines soliden Kompetenzerwerbs zu versuchen, statt Flachsinn und Klamauk mit modistischem, aber hier unfunktionalen Medieneinsatz zu doppeln.
Nur wenige Momente des Stückes zeigten gestalterisch-dramaturgische Kompetenz, z.B. der Clownsautritt des Fliegen-lernen-wollens. Schöne Ideen, wie die des Puzzles als De(kon)struktion, das erst wieder zusammengesetzt werden muss, um ein Bild zu werden, wurden nicht als dramaturgischer Faden genutzt und konsequent entwickelt. Das Bild des Puzzles hätte zum Knotenpunkt des Stückes hervorragend getaugt. Es blieb aber unzusammengesetzt – eben de(kon)struiert – liegen, buchstäblich. Da half auch kein dilettantisch „pantomimisches Re-Enactment“ (Jury), von der Jury empfundene „beeindruckende Neutralität“ des Spiels (Jury). Das Spiel als „szenisch erfrischend“ (Jury) erlebten wohl eher die Gleichaltrigen im Publikum, die vielleicht auch die Folie erkannten, die der Spielweise zugrunde lag.
Im oben angedeuteten Nachgespräch mit den jungen Erwachsenen wurde meine Enttäuschung über die hessische Produktion konfrontiert mit einer überschäumenden Begeisterung für das Stück: Das sei doch guter Trash gewesen! Aber ob das von der Gruppe gewollt war? Ich weiß es nicht. Aber bewusst Trash zu produzieren, schließt die Fähigkeit einer wirklichen Wahl ein: Die Wahl zwischen gekonntem Spiel (vgl. Katzelmacher) und bewusst nicht-gekonntem Spiel. Hatte die Gruppe diese Wahl?
Es zeigt sich grundsätzlich im Theater: Sich als Gruppe vorzunehmen, eine bestimmte Wirkung erzielen zu wollen, funktioniert nicht als Kausalkette. Und noch etwas: Es ist gut über die Dinge zu reden. Man muss seine Meinung nicht unbedingt ändern, aber es erweitert unbedingt den Horizont. Und man wird vorsichtiger mit einem endgültigen Urteil und guckt das nächste Mal noch genauer.
Offizielle Kritiken:
„’Twaillait‘: Über den Hass auf junge Frauen
Gestern Abend waren die Gemüter gespalten. Die einen hatten ihren Spaß. Die anderen sprachen davon, wie dämlich der Abend gewesen sei.
Nun, ich gehöre zu denen, die ohne Zweifel Spaß hatten. Die Spieler*innen der EchtEinstein-Theater AG der Albert-Einstein Schule Groß-Bieberau hatten diesen Spaß auf der Bühne anscheinend auch, während sie die Twilight-Saga und die darin verarbeiteten Vorstellungen von Liebe entlarvten. Dies taten die Spieler*innen mit einem starken Selbstbewusstsein. Sie hatten kein Problem, ihre peinlichen Vorstellungen von damals darzustellen und einigen von uns im Publikum zu zeigen, was wir uns damals als Teenage-Girls eigentlich reingezogen haben.
Die Spieler*innen arbeiteten auf selbstreferentielle Art und Weise, die entscheidenden Stellen der Handlung heraus: Komisches Mädchen zieht in eine komische Stadt und verliebt sich in einen komischen Jungen. Und wie in jedem Plot, steht er auch auf sie, aber sie können nicht zusammenkommen, weil er ein Vampir ist und sie ein Mensch. Er muss seinen Wunsch unterdrücken, sie zu beißen, und damit in einen Vampir zu verwandeln. (Er leidet ganz offensichtlich an Selbsthass.) Sie hat die Möglichkeit, in eine mystische Welt einzutauchen. Und dann taucht noch ein zweiter hotter Typ auf. Eine Liebesgeschichte voll unausgesprochenem Begehren.
Die Geschichte erzählt von einem Wunsch, den wahrscheinlich jeder Mensch hat: einfach so geliebt zu werden, für das, was man ist.
Nun meinen viele, Twilight sei eine sexistische und rassistische Erzählung, auf die nur kleine, dumme Mädchen hereinfallen. Gängige Interpretationen verweisen darauf, dass Bella ein “every girl” sei und wenig Selbstvertrauen hat. Sie wird von den männlichen Figuren Edward und Jacob emotional missbraucht und kontrolliert. In ihrem Liebesrausch geht Bella sogar so weit, ihre eigene Identität aufzugeben. Dies haben gestern die Groß-Bieberauer*innen herausgearbeitet. Aber warum haben sie diese Bücher trotzdem gelesen und gefeiert?
Der Grund dafür sind zwei weitere wichtige Lesarten. Erstens: Bella bietet die Möglichkeit zur Identifikation. Sie ist aus einer choice-feministischen Sicht eine selbstbestimmte Frau, die gegen patriarchale und misogyne Männer ihren Willen durchsetzt und sie dazu bringt, ihre Fehler einzugestehen. Sie kämpft für ihr Selbstbestimmungsrecht gegen einen Mann, den sie liebt. Den sie im zweiten Buch vor einem Selbstmord rettet. Im dritten Buch baut sie ihre Rolle als Mutter Machtposition aus, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt. Zweitens: Während sich 12- bis 15-jährige Jungs jederzeit auf Pornoseiten einen runterholen konnten, haben 12- bis 15-jährige Mädchen Twilight gelesen. Man muss dieses Buch auch im Kontext dessen sehen, dass es für Mädchen nur wenige Möglichkeiten gibt, ihre Sexualität zu erforschen, auszuleben und Fantasien durchzuspielen. Twilight befriedigt dieses Bedürfnis mit Lookismus, erotischer Prüderie und Abstinenz. Denn obwohl Edwards Ablehnung von Sex vor der Ehe fragwürdig ist, so spürt man sein unstillbares Verlangen. Und in jeder zweiten Szene zieht sich jemand aus.
Vielleicht hätte es im Theaterstück einer Meta-Ebene bedurft, die die oben genannten zwei Lesarten anspricht. Um einen Schutzraum zu schaffen für die Spieler*innen gegen den Frauenhass, der in der ersten Lesart steckt. Gegen einen Frauenhass, der sich gegen Mädchen richtet, sie passiv verortet und herabsetzt; gegen einen Frauenhass, der in einer Sichtweise des Publikums existieren kann. Was die Spieler*innen gestern aber getan haben, ist das Gegenteil. Sie haben ohne diese Metaebene gespielt, sich verletzbar gezeigt. Sie haben mich an ihrem Lachen beteiligt, haben mich daran erinnert, welchen Trugschlüssen und Fantasien wir als Jugendliche unterlegen sind und uns dafür gefeiert. Sie haben mich erinnert, dass wir es nun besser wissen. Danke für diese Leichtigkeit!“ von Luna Ali > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/twaillait-ueber-den-hass-auf-junge-frauen/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
„’Twailait‘: Absurdes Begehren
Die Theater AG EchtEinstein aus Groß-Bieberau widmet sich dem Twilight-Hype. In der Buchreihe von Stephenie Meyer entscheidet sich Protagonistin Bella nach langem Hin und Her zwischen Werwolf und Vampir für die Liebesbeziehung mit dem Vampir Edward Cullen.Eine Schauspielende zählt auf, welche Twilight-Fanartikel sie als 13-Jährige besessen hat: Bettwäsche, Taschen, Plakate und ein Puzzle. Endlich konnte sie sich den coolen, unnahbaren Vampir selbst zusammenpuzzeln. Das Puzzle wird zur Metapher für das ganze Stück. Das Ensemble will die Twilight-Saga dekonstruieren und in ihren Einzelteilen analysieren. Auf der Bühne formt sich ein energischer Chor, der fragt: Muss ich dem Mainstream folgen? Was macht so ein Hype mit mir? Ein vielversprechender Beginn.
Die Protagonistin Bella gilt als Identifikationsfigur für viele Mädchen. Sie ist ein Mauerblümchen mit geringem Selbstwertgefühl. Zudem tritt sie emotionslos auf. Trotzdem wirkt sie wie ein Magnet auf Edward. Wie kann das sein? Diesen Widerspruch legt das Ensemble frei. Leider thematisiert es dabei nicht die damit verbundenen Gefahren. Denn Bella konstituiert sich selbst durch Edward und begibt sich dadurch in eine Abhängigkeit zu ihm. Edward rettet Bella in der Geschichte oft vor ihrer kindlichen Hilflosigkeit. Twilight bedient sich damit einer Heteronormativität, die sich vor allem in der abusiven Machtkonstellation von Bella zu Edward manifestiert.
Im Lauf des Theaterstücks bringt sich Bella immer wieder in Gefahrensituationen. Die Schauspielenden stellen unvermittelt und befreit vom Kontext die Szenen aus dem Film nach. In Zeitlupe rettet Edward Bella vor einem Zusammenprall mit einem Auto. Albern und überzogen wird der Moment inszeniert. Einige im Publikum lachen, vermutlich sind ihnen Bücher und Filme noch präsent.
Kontrastiert werden diese fiktiven Szenen mit persönlichen Erfahrungen. Die Gesichter der Schauspielenden werden auf eine große Leinwand projiziert; sie erzählen von ihrem erstem Kuss und ihrem Verhältnis zu Jungs. Dabei parodieren sie die Geschichte mit ihrer überzogenen Mimik und Gestik. Einer der wenigen ernsten, authentisch wirkenden Momente war der Gesang einer Schauspielerin in der Mitte des Stücks.
Die Inszenierung „TWAILAIT“ wirkt wie ein Puzzle aus parodierten Film- und Buchszenen und persönlichen Erlebnissen. Die Schüler*innen haben Spaß und nehmen sich dabei selbst nicht allzu ernst. Mitzulachen fällt leicht, kritische Momente sind in der Parodie aber nur vereinzelt zu erkennen.
Viele Szenen erinnern an Slapstick. Zugleich zeigen sie auf, wie viel Macht medial aufgebauschte Hypes auf Teenager haben: Wie sich also von den teils giftigen Wünschen und Begierden trennen, die so konstitutiv für die eigene Identität ist? Die Spieler*innen befinden sich in einem Zwiespalt. Sie erkennen die Absurdität der heteronormativen Zwänge, dennoch formt sich der Wunsch, den Vorbildern nachzueifern. Vor diesem Kontext ist besonders Bellas Position zu betrachten, die letztlich bereit ist, sich für ihre Liebe zu Edward zu opfern. Das Ensemble steht an einer imaginären Klippe. Welches Bild vermittelt es Jugendlichen, dass Bella sich nicht als starke unabhängige Heldin der Geschichte etabliert? Eine Frage, die das Ensemble offen lässt.“ von Alma Dewerny > https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/twailait-absurdes-begehren/ [heruntergeladen am 10.06.2017]
Die Fotos wurden laut Auskunft der Festivalleitung von Dave Großmann gemacht und stehen als Pressematerial auf der Website der Berliner Festspiel zur freien Verfügung > https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/bundeswettbewerbe/theatertreffen_der_jugend/presse_ttj/pressefotos_ttj/pressefotos_ttj17.php
Weiterführendes
- https://blog.bundeswettbewerbe.berlin/category/kritiken/
- Waegner, Heinrich 1994: Theaterwerkstatt. Von innen nach außen – über den Körper zum Spiel. Stuttgart: Klett
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