Wie lernen Schüler spielerisch das Handwerk des Theaters kennen?
Es gibt die Diskussion darüber, ob Handwerk überhaupt Kunst sein könne, und ob nicht den Produkten des Handwerks – die ja durchaus recht schön und perfekt gestaltet sein können – das eigentlich Künstlerische fehle.
Der Kompetenzerwerb ist ein Prozess der Aneignung von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese konkreten Tätigkeiten sollten durch ein geistiges Band zusammen gehalten werden, das dem Ganzen etwas zufügt, damit es am Ende mehr ist als die Summe seiner Teile.
Woraus besteht nun das theatrale Handwerk?
„Die Dominanz des ‚Könnens’ in diesen Ausbildungen (gemeint ist die professionelle Schauspielausbildung, V.L.) resultiert aus der Erfahrung des Schauspielens, die darin besteht, im Moment des Auftretens die Situation von Spielen und Zuschauen aktiv formen zu können. Um sich diese Situation ‚nehmen’ zu können, wie es im Jargon der Schauspielausbildung heißt, sind Fähigkeiten und Fertigkeiten ein notwendiges Lernbedürfnis. Der eigene Entschluss zum Impuls und das Reaktionsvermögen auf die Impulse der anderen stehen in einem spielerischen und darum immer wechselseitigen Verhältnis zueinander. Selbstaktivierung und Erlebnisvermögen müssen, wenn sie in der Stress-Situation der Bühne lebendig bleiben wollen, mit handwerklichen Übungen entwickelt werden.“ (Stegemann 2013: 238)
Das Handwerk des Theaters besteht in der kompetenten Anwendung seiner Mittel durch Techniken und Methoden, deren Einsatz und Wirkung als Gestaltungskategorien beschreibbar werden.Die Mittel des Theaters:
Primäre theatrale Mittel:
Der Körper des Menschen
- seine Gestik
- seine Mimik
- seine Stimme und Sprache.
Sekundäre theatrale Mittel:
- Requisit
- Kostüm
- (Schmink-)Maske
- Licht
- Ton
- Kulisse
- Raum und Zeit sind etwas Besonderes und natürlich immer mitzudenken.
Diese Mittel wenden mit bestimmten Techniken und Methoden angewendet, und jedes einzelne Mittel hat seine Besonderheiten, die sich im Zusammenwirken z.B. gegenseitig verstärken oder auch aufheben können oder eine besondere Stimmung oder Assoziation erzeugen können.
Diese Mittel sind nicht gleichrangig, wie das die sogenannte Post-Dramatik dogmatisch behauptet.
Gerade darin liegt ja der besondere Zauber dieser Mittel, dass sie alle zusammen – nach einer Idee benutzt – etwas Neues und Sinngebendes hervorbringen können: „Ein wichtiger Entwicklungsschub auf der Probe ist das Zusammenspiel und das Zusammenwirken der Ausdrucksmittel. […] Die Ausdrucksmittel, beim Ausprobieren oft noch zufällig benutzt, werden jetzt bewusst eingesetzt (oder weggelassen). Vergrößert, verdichtet, intensiviert, auch schauspieltechnisch entwickelt. Man arbeitet an der Umsetzung von Quantitäten in gestaltete Qualität.“ (Hawemann: 186f; vgl. auch Wenzel und Einsatz des Zufalls)
Das ist die eigentliche Kunst, die Handwerk zur Voraussetzung hat: Die Komposition dieser Mittel nach einer ästhetischen Vision.
Das gilt übrigens für alle Kunstformen, also auch die Musik und bildnerische Kunst.
Beispiele: Beherrscht man kein Instrument und weiß nicht, wie es einzusetzen ist, wird keine Musik daraus. Und die Beherrschung des Instrument allein reicht nicht aus, um musikalische Kunst zu produzieren.
Ähnlich in der Malerei und Bildhauerei. Kann man mit Pinsel und Farbe oder mit Schnitzwerkzeug und Schweißbrenner umgehen, dann reicht das noch nicht, um ein Kunstwerk herzustellen. Es bleibt Handwerk.

Diese Aufgabe fordert nicht ein So-tun-als-ob, sondern erbringt eine echte und damit glaubwürdige Aktion.
Im Theater besteht das besondere Problem, dass, sobald man irgend etwas tut, immer gleich fast alle Mittel des Theater beteiligt sind. Und man kann nicht über alles gleichzeitig sprechen und alles gleichzeitig trainieren. Gerade wenn man noch wenig von Theater weiß. Auch wenn Goebbels in seinen Produktionen mit spezialisiert ausgebildeten Fachkräfte arbeitet, also wirklichen Experten ihres Fachs, so präferiert er doch für sein Institut der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen eine zergliederte Ausbildung: „Die Ausbildung ist im Übrigen dahingegend strukturiert, dass alle Studierenden sich mit allen Medien nacheinander vertraut machen.“ (Goebbels 2012: 156) und nicht gleichzeitig.
Hier öffnet sich aber – und das ist das Schöne – schon gleich zu Beginn ein Freiraum für die Schüler zum Experimentieren und Erfahrungen mit dem zu erlernenden Handwerk machen, auch wenn sie bestimmte Dinge noch als Dilettanten bzw. Amateure erledigen oder aus der Intuition oder einer Laune heraus und nicht als Experten.
Dies Problem sieht Goebbels auch, auch wenn er in Widersprüchlichkeit verhaftet bleibt und auf der einen Seite fordert, dass man z.B. auch in der „Regieausbildung (…) lernen (muss) alle theatralen Mittel (Raum, Licht, Ton) ebenso wie den Umgang mit Schauspielern durchzubuchstabieren, bevor man der Komplexität gewachsen ist, die es bedeutet mit all diesen Ebenen gleichzeitig umzugehen.“ (Goebbels 2012: 158) und auf der andern Seite formuliert: „Die Gefahr einer konsekutiven Ausbildungsstruktur – erst die Tradition, und dann, wenn überhaupt, das Laboratorium – sehe ich vor allem darin, dass man Widerstände aufbaut und die jetzigen Studierenden später zum konservativen beharren den Teil in der ästhetischen Entwicklung der Theatersprache werden.“ (Goebbels 2012: 159)
Der im Kursbuch vorgeschlagene Text eröffnet eine unendliche Vielfalt an Möglichkeiten der Darstellung. „Man kann diese Szene in vielen Variationen spielen. Eines aber ist offensichtlich: Während der Text derselbe bleibt, ändert sich seine Bedeutung, und nicht nur die Bedeutung, sondern auch das, was geschieht, ist jedesmal anders; und doch ist es mit denselben Worten übermittelt worden. Um sich dem Spielen einer Szene anzunähern, bedenkt der Schauspieler deshalb nicht Wortbedeutungen oder Lesarten, sondern gegebene Umstände und die Handlung. ,Gegebene Umstände‘ das ist die Situation, die stattgefunden hat, bevor die eigentliche Szene auf der Bühne einsetzt. Sie sollten nicht bloß in Worten untersucht oder durchdacht werden, sie sollten durchgespielt werden. Tatsächlich geht es auf Proben auch oft darum, die gegebenen Umstände zu finden oder zu erschaffen, aus denen die eigentliche Szene hervorgegangen ist.“ (Strasberg 1994: 51)
Brook unterstützt die Argumentation der Nachrangigkeit von Text letztlich, auch wenn er glaubt, dass „einem großen Text (…) keine Grenzen gesetzt (sind). Ein mittelmäßiger Text bringt vielleicht nur wenige Formen hervor, während ein großer Text, ein großes musikalisches Werk, eine große Opernpartitur echte Energiebündel sind. (…) Was geschrieben und gedruckt wird, hat noch keine dramatische Form. Wenn wir uns sagen: ‚Diese Worte müssen in einer bestimmten Art gesprochen werden, einen bestimmten Ton oder Rhythmus haben…’, dann werden wir uns leider – oder vielleicht zum Glück – immer irren. Das führt nämlich zu alldem, was an der Tradition im schlimmsten Sinne des Wortes so gräßlich ist. Eine unendliche Menge unerwarteter Formen kann aus denselben Elementen erwachsen, und die menschliche Tendenz, sich dem Unerwarteten zu verweigern, führt stets zur Verkleinerung eines potentiellen Universums.“ (Brook 1994: 79)
Später erwerben die Schüler Schritt für Schritt alle notwendigen Einzelkompetenzen des gesamten Theatersystems.
Handwerk dient, um es nochmals zu betonen, der Entwicklung des eigenen Potenzials und nicht der Begrenzung auf mechanische Tätigkeiten. Allein der Hinweis darauf, dass die Methode der Improvisation ein wesentlicher Bestandteil des schauspielerischen Handwerks ist, und Brooks Aussage sollten genügen:
„Die Improvisation als Trainingsmittel der Schauspieler bei der Probe und die Übungen zielen alle auf das gleiche ab: sich vom tödlichen Theater zu befreien. Man plätschert dabei nicht in selbstgenügsamer Euphorie, wie die Außenseiter oft vermuten, sondern versucht, den Schauspieler immer wieder an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu führen, dorthin, wo er statt einer neu erfunden Wahrheit meist eine Lüge einsetzt.“ (Brook 1983: 9)
Strasberg verweist auf die hohe Bedeutung des Improvisierens bei der Aufführung: „Eine der wichtigsten Anforderungen an den Schauspieler betrifft seine Fähigkeit, etwas, das er schon viele Male getan hat, so zu wiederholen, daß es spontan wirkt. Etwas, das sorgfältig geprobt wurde, soll aussehen, als sei es improvisiert.“ (Strasberg 2000: 157)
[1] Das Kursbuch Theater machen schlägt in den Anweisungen zum Training des Handwerks immer wieder vor, nicht nur die in den Rollen angestrebten körperlichen Eigenschaften und Eigenarten in den Figuren zu zeigen, sondern auch immer wieder nach Aktionen und Handlungen zu forschen, die in dem vereinbarten Themenkontext als reine Handlungen und Aktionen entfaltet werden können. Die gefundenen Aktionen werden sodann auf ihre Tauglichkeit für die angestrebte Darstellung und die beabsichtigte Wirkung geprüft. Ein tatsächliches Tun ist allemal glaubwürdiger, auch von einem Amateur, auf der Bühne zu zeigen, als ein ‚So-tun-als-ob’.
In der Eigenproduktion mit dem Thema „Irreparabel“ eines Theaterkurses zum Thema abweichendes Verhalten und Verrücktsein zeigten Schüler metaphorisch und symbolhaft das quälende Gefühl von Menschen in einer Psychiatrie, die aus den Fesseln ihrer Erkrankungen bzw. der Anstalt entkommen möchten durch die folgende Aktion:
Die Schüler krochen auf dem Bauch liegend in Zeitlupe in Richtung ihrer Füße auf eine Wand zu und versuchten mit den Füßen an den Wänden hoch ‚laufend’ in den Handstand zu kommen, sich so körperlich von dieser Gefangenheit zu befreien, aber keine genaue Vorstellung davon zu haben auf welche Weise und in welche Richtung man sich verändern muss. Während der Themenrecherche hatten die Schüler auch das Buch bzw. den Film-Klassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“ rezipiert.
Zu beobachten war, dass die Schüler, je nach körperlicher Konstitution und Fitness diese echte Aufgabe in unterschiedlicher Weise versuchten zu bewältigen. Einige sportlich durchtrainierte Schüler schafften es, in den Handstand zu kommen und blieben nun sichtlich körperlich angestrengt eine Weile in dieser Haltung, andere schafften es unterschiedlich weit mit den Füßen an der Wand hochzulaufen, andere blieben, trotz sichtbarer enormer körperlicher Anstrengungen sehr nah am Boden und schafften es gar nicht. Es wurde deutlich, dass zum treatralen Handwerk auch eine gewisse körperliche Konstitution gehört. Im Falle der Arbeit mit den Nicht-Experten des Alltags, den Schülern, zeigte sich ihre unterschiedliche körperliche Konstitution als Vorteil.
Insofern bot sich dem Betrachter ein differenziertes Gesamtbild unterschiedlich erfolgreicher Aktionen verschiedener Menschen im echten Streben nach einem für sie schwer oder gar nicht erreichbaren Ziel, das nicht von einem Regisseur bis ins Kleinste ausgedacht und inszeniert wurde. Vielmehr führte die Performance-Aufgabe an die körperlich sehr heterogene Gruppe genau zu dem gewünschten Körper-Bild, das als Metapher deutbar geworden war.
Der Schauspiellehrer Hawemann gibt im Kapitel IX „Die Probe“ wertvolle Tipps, wie man mit den verschiedensten Arbeitsweisen beim Proben beeindruckende Szenen kreieren kann.
Literatur
- Brook, Peter (1983): Der leere Raum. Berlin: Alexander
- Brook, Peter (1994): Das offene Geheimnis. Frankfurt: S. Fischer
- Goebbels, Heiner (2012): Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater. In: Theater der Zeit. Recherchen 96, Berlin: Theater der Zeit
- Hawemann, Horst (2014): Leben üben. Improvisationen und Notate. Recherchen 108. Hg. von Christel Hoffmann. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Stegemann, Bernd (2013): Kritik des Theaters. Berlin: Theater der Zeit
- Stegemann, Bernd (2015): Lob des Realismus. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Strasberg, Lee (2000): Ein Traum der Leidenschaft. Die Entwicklung der „Methode“. München: Schirmer/ Mosel
- Strasberg, Lee (1994): Schauspielen und das Training des Schauspielers. Berlin: Alexander
- Wenzel, Karl-Heinz (2000): Das Zufallsprinzip. Über die „planlose Entstehung eines Theaterstückes. In: Spiel & Theater. Heft 165, Juli 2000. Weinheim Deutscher Theaterverlag: 20-22
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