Hawemann, Horst 2014: Leben üben. Improvisationen und Notate. Recherchen 108. Hg. von Christel Hoffmann. Berlin: Theater der Zeit. 229 Seiten – Rezension
Schauspiel-Unterricht en detail. Das Buch sei, so Menzel im Vorwort, „eine Bedienungsanleitung zum Erlernen der Schauspielkunst oder zur Ausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern“ und „Anregung und Quelle für Dozentinnen und Dozenten, die sich mit der Vermittlung von Grundlagen der Schauspielkunst beschäftigen, sowie für angehende Schauspieler/innen, die sich mit ihrem zukünftigen Beruf auseinandersetzen wollen.“ (8)
Theater verweise durch das Handeln auf der Bühne auf das Leben selbst. „Es hat nichts mit der sogenannten Widerspiegelung der Wirklichkeit zu tun, mit einem Abbild der Realität, sondern mit einem künstlerischen Standpunkt, von dem aus der Autor die Welt und seine Bewohner betrachtete.“ (227)
Hawemanns Schauspiel-Unterricht, so Hoffmann, rege „Schauspieler an, über ihre Figuren zu erzählen, und mit ihrem Handeln geben beide – Darsteller und Figur – preis, was sie und wie sie denken und fühlen. Sie haben ein Problem, erregen sich und erleben sich in der Begegnung mit anderen. Ihr Reichtum ist der Beziehungsreichtum zu allem Vorstellbaren, ob zum Raum, dessen ‚wichtigste Senkrechte der Mensch ist’“. (227f) In jedem Fall steckten „in allem und jedem […] Geschichten.“ (228)
Von besonderem Interesse für alle Theater-Lehrkräfte dürfte Hawemanns Schauspiel-Unterricht sein, weil die Hawemannsche Methode zeige, „wie der Schauspieler selbst sich an der Arbeit beteiligen kann. Sein persönlicher Anteil bei der Rollengestaltung“, so Hoffmann, „beschränkt sich nicht nur auf den biografischen Bezug seiner Erfahrungen“ – das kennen wir von Stanislawski – und auf sein Talent, vielmehr wird er als Künstler, als mündiger Partner des Regisseurs gefordert.“ (228)
Hawemann habe über vierzig Jahre lang das deutsche (Kinder- und Jugend-)Theater mitgeprägt.
Die beschriebenen Übungen, die „Nummern“, wie sie Hawemann in seinem Schauspiel-Unterricht bezeichnet, funktionierten nicht per Knopfdruck und erbrächten auch nicht immer dasselbe Ergebnis. Der Anwender soll sie als Anregung aufgreifen und kreativ mit dem Material umgehen. (8) Und er hielt nichts von Zerstörung und Neuaufbau. Vielmehr sollte das Verantwortungsgefühl für den sorgsamen Umgang mit Beobachtungen und Eindrücken geschult werden.
Inhalt
Vorwort von Hans-Jochen Menzel
I Arbeitsbegriffe
Die „Nummer“ als Spielbegriff
Improvisation
Etüde
Interpretation
II Die Sammlung
„Umquatschen“ oder Der gesammelte Held
Bekannte Redensarten, verdichtete Sprache
Kopfhaltungen
Nachtrag: Sammlung in eigener Sache (ärgerlich aufgeschrieben)
III Mit Sprache handeln
Das handelnde Wort
Arrangement macht Haltung oder Die Macht der Worte
Sätze über Sätze
Sprache handelt im Theater durch Sprechen
Worte und Hindernisse
Die innere Stimme
Etüdischer Umweg zu dichterischen Sätzen
Dass ich dich herzen kann
Sprechen
Vom Nutzen des Nachschlagens
IV Alles handelt mit
Spontanes Handeln, bewusstes Handeln, gestaltetes Handeln
Das Ereignis
Dramaturgie heißt Handlung
Umstände
Der Spielwert der einzelnen Mittel
V Ein Dialog ist mehr als ein Gespräch
Liebe die Pause!
Grundtypische Haltungen und sprachlicher Gestus
Fixierungen
Text Text Text
Die Szene
Wir befragen die Szene
VI Erregende Vorgänge
Erregung
Beziehungen
Entwicklung von Beziehungen: Szenische Anfänge
Partnerschaft: Geben – Nehmen – Geben
Erfahrungen
In übertragenem Sinne
VII Wie entsteht eine Figur?
Biografie
Auskünfte über Menschen
Kleider machen Leute oder Kostüm und Bewegung
Zeig her deine Füße, zeig her deine Schuh
Der Kragen – ein Kostümteil und mehr
Gang mit Hut
Das erzählende Detail
VIII Am Anfang ist immer ein Raum da
Die wichtigste Senkrechte im Raum ist der Mensch!
Auch der Blick ist ein Gang
Präsent im Raum
Partnerbeziehung im Raum
Grundtypische Haltungen und deren Beziehung zum Raum
Das Raumbild
Ein Möbelstück im Raum
Die bebaute Bühne – Übungsideen
Vorgestellte Räume, empfundene Räume
Zeichen im Raum (Objekte)
Waffen auf der Bühne oder Was tut das Schwert mit der Spielerin?
Die Dinge erzählen
Das Licht setzt Zeichen
Den richtigen Ton finden
IX Die Probe
Die Entwicklung der Idee beim Schreiben
Wie bereite ich mich auf eine erste Probe vor?
Proben begleitende, gültige Altwahrheiten
Fragen, die sich während der Probe oder danach einstellen
Nach dem Ausprobieren folgt die Probe
Die Wiederholungs- oder Erinnerungsprobe
Die Entwicklungsprobe
Eine Proben-Sammlung
Besondere Proben der lockeren Art
Kritik und Auswertung
Bühne – Zuschauerraum
Epilog: Worte, die auf Proben fielen
X Auskünfte
Über Freiräume für Schauspieler
Ich bekenne mich zu meiner Arbeitsweise
Horst Hawemann – Biografie in Daten
Inszenierungen (Auszüge)
Nachwort von Christel Hoffmann
„Nummern“ nennt Hawemann seine Interpretationsübungen. Sie sind „eine Einladung an die Spieler, ein Wegweiser (mit Lustcharakter) für improvisatorische Entdeckung – keine Gebrauchsanweisung. […] bei der man ganz wenig Fehler machen kann.“ (14)
Die Aufgabe bzw. Vorlage muss so offen sein, so Hawemann, damit sie vom Spieler interpretierbar ist und er sie zu sich in eine Beziehung setzen und sich persönlich verhalten kann.
Nicht der Regisseur/ Spielleiter/ Theaterlehrer sagt: Mach das so und so! Sondern der Spieler erkundet, inspiriert von der offenen Aufgabe, mit welchen ihm persönlich zur Verfügung stehenden Mitteln, Techniken und Methoden er die Vorlage interpretieren kann.
Schon hier werden auf den ersten Seiten Parallelen zu einem modernen Theater-Unterricht und einer kompetenzorientierten Didaktik des Darstellenden Spiels deutlich. „Der Spieler soll das Wesentliche beim Spielen erfahren. […] Wenn er es durch Diskussionen erfährt, ist er ein Dramaturg. Wenn er es über den Vorschlag oder die Anweisung erfährt, ist er ein Regisseur.“ (14f)
Eine ganz offensichtliche Parallele zeigt sich in der Bedeutung, die Hawemann dem Fragenstellen beimisst. Offene Fragen zu stellen ist grundlegendes Werkzeug von qualifizierten Führungskräften, Coaches, Lehrern und Anleitern generell. Sie geben dem Befragten Hinweise, ohne ihn zu gängeln. Sie verweisen auf Möglichkeiten, deren Nutzung den Lernenden voranbringen können. Sie zeigen und eröffnen Bereiche für Eigeninitiative, Engagement und (Selbst-)Verantwortung der Schüler, die letztlich das Ziel der Selbststeuerungsfähigkeit sicht- und greifbar machen können.
Die Improvisation ist laut Hawemann Methode und Technik. (16/17) In der Improvisation kann der Schauspieler die Führung des schöpferischen Prozesses übernehmen, sofern der Freiraum für Selbstständigkeit gesichert ist. Reichen dem Spieler die Vorgaben eines Proben-Leiters für seine Rolle nicht, „und man sieht und spürt, dass er mehr will. Dann soll man ihm die Möglichkeit lassen, das rauszulassen. Man kann danach ja immer noch entscheiden, ob das im Stück bleibt.“ (16) Diese Art der Probe, der Improvisation, des Trainings ist nur möglich, wenn eine „wirkliche Partnerschaft, also Vertrauen“ zwischen Lehrer und Schüler besteht. Die Improvisation lebt von der Bestätigung, auch von der kritischen.“ (17)
In der „angewandten Improvisation“ wird in einer „Übersetzung in Individualität“ das Erzählende, das alltägliche Leben sichtbar. (19)
Etüden sind nach Hawemann „verdichtete Formen, die sich nach den Strukturen des Dramas richten. […] sie schulen das Erzählende und das Gefühl für Entwicklung.“ (20) Nach einer Improvisation sollte vor der Auswertung die Schilderung der Eindrücke der Zuschauenden stehen. Denn diese erzeugten beim Spieler Lust, an seiner Darstellung weiterzuarbeiten und eine andere Interpretation auszuprobieren und zu erschaffen, eine Interpretation, die nicht auf eingelaufenen Wegen latscht und wiederholt, was schon immer Wirkung erzeugte und eine einmal gefundene Stilistik wiederholt anderen Stücken überstülpt. (23)
Hawemann beschreibt wie er durch „Umquatschen“, eine Art Brainstorming, von seinen Schülern Material zu Themen generieren ließ. Wichtig dabei ist ihm, zunächst alles an Einfällen und Wissen zuzulassen, auch Oberflächliches, Klischeehaftes und Undurchdachtes. Ergiebiges Spielfeld sind ihm dabei kreative Wortspielereien, z.B. die ABC-Übung, wie man sie als Impro-Disziplin kennt.
Hawemann betont die Notwendigkeit, das Gesprochene, die Worte, die Sätze in ihrer Vielfältigkeit nicht nur zu verstehen, sondern zu erhandeln. Das ist Arbeit. Vieles weiß man, aber man hat es noch nie „sinnlich erfahren“ (41) und „Sätze muss man unbedingt aus der Handlung heraus entstehen lassen, man muss sie ‚handeln’ und gucken, wo sie ‚weiterhandeln’. Sätze eines Autors sind immer Zitate. Sie werden nie zum Eigentum des Spielers. Die Sätze des improvisierenden Spielers hingegen sind sein Eigentum, [und] gute Sätze verdichten Handlungen.“ (43f)
Eine ganze Reihe Übungen zeigt, wie aus vorgegebenen Sätzen Bühnen-Handlungen werden und wie sich Sinn und Bedeutung dabei verändern.
Auf eine besondere Schwierigkeit weist Hawemann in der Improvisation hin: nicht zu schwätzen (47) und benennt damit auch ein typisches Problem von Amateuren/ Schülern.
Im weiteren Verlauf schildert Hawemann vielfach Übungen, die seit langem auch im Schultheater und der theaterpädagogischen Arbeit genutzt werden und auch als Disziplinen im Repertoire des Impro-Theaters zu finden sind.
Immer wieder macht Hawemann deutlich, dass seine Übungen und Nummern durch die zunächst offene Form der Improvisation auch mit klischeehaften Vorstellungen und schablonenhaften Angeboten der Spieler beginnen, und er versucht bei diesen bekannten Musterlösungen sensibel mit entsprechenden Anweisungen den „persönlichen Anteil des Spielers am Geschehen zu erhöhen [und ihm damit auf einem] Umweg zu den Gefühlen der Figur“ zu verhelfen. (21)
Ich bin wieder mal überrascht, wie nah die Arbeitsweisen im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel, die einer kompetenzorientierten Didaktik folgt, und professioneller Theaterausbildung zusammenliegen.
Hawemann zeigt mit seinen vielfältigen Anregungen, wie leicht es ist, über variationsreiche Sprachgestaltung beim Improvisieren von spontanem Handeln über bewusstes Handeln zu gestaltetem Handeln (68) zu kommen: „Dramaturgie heißt Handlung.“ (73) Dabei beschreibt er die Grundstruktur einer Szene und wie daraus die Fabel eines Stückes erwachsen kann in sechs Schritten:
„Wohin mich das Handeln führt:
1) Zu einer Haltung.
Die Haltung entsteht aus einer Summe von Handlungen.
Beispiel: Ein kaputter Typ! Viele konkrete kaputtmachen Handlungen und zerstörende Ereignisse in verletzenden Situationen haben dazu geführt.
2) Zu einem Konflikt.
Der Konflikt ist die Konfrontation unterschiedlicher Handlungsabsichten. Ein Konflikt ist nie zuständlich. Konflikte verlangen nach einem Handeln, drängen nach Lösungen. Situationen fordern auf zum Handeln, aber Konflikte zwingen dazu. Lösungen sind natürlich auch Handlungen.
3) Zu Ausdrucksmitteln.
Wie entsteht Sprache und was entsteht mit der Sprache? Welche Körperlichkeit wird erregt? Welche Räume bewegen mich? Welche Objekte nutze ich und wie?
4) Zu Emotionen.
Gefühl wird immer erhandelt.
5) Zu Vorgängen.
Die Vorgänge organisieren sich zu einer Geschichte.
6) Zu einer Inszenierung.
Die durchgehende Handlung.
Die Fabel eines Stückes ist die durchgehende Handlung, eine Ereigniskette.“ (73f)
Obwohl (oder weil) Hawemann die Moskauer Theaterhochschule absolvierte und sich – im Gegensatz zum Stanislawski-System des inneren Erlebens – die Auffassungen von Meyerhold, Tairow und Eisenstein aneignete, nach der der Schauspieler seine Ausdrucksmittel präzise als Technik beherrschen und damit auch dem Zuschauer vergegenwärtigen sollte, dass er einem Spiel beiwohnt, zeigen sich ganz offensichtlich Parallelen der Arbeitsweise zu einer modernen Didaktik des Theaters, wie sie im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel praktiziert werden sollte.
Die Konstruktion von Umständen (Begriff von Stanislawski) stehen für Hawemann im Vordergrund, die ein Improvisierender – nicht der Regisseur – vorschlägt. Die zu findenden Umstände regten die Phantasie des Spielers an und suchten Erzählwert und Bildlichkeit. Dabei weist er darauf hin, „dass die theatralen Mittel natürlich alle zueinander gehören, miteinander spielen und wirken. Man benennt sie nur einzeln, um darauf hinzuweisen, dass ihr Einsatz nacheinander Entwicklung ausmacht. Für die Improvisation als Methode ist es ganz wichtig, dass man versucht, die Mittel nacheinander einzusetzen: Der Gang führt handelnd zur Haltung. Die Haltung macht Geste. Wenn die nicht reicht: Pause. Wenn die Pause nicht reicht: Sprache. (…) Jedes einzelne Mittel hat einen Spielwert.“ (76)
Hawemann definiert neun theatrale Mittel, die die Spielenden kreativ und nach eigener Lust und Phantasie langsam aufbauend nach dem Baukasten-System miteinander kombinieren dürfen, bis ein stimmiger Gesamtausdruck mit Wirkung entsteht:
- Gang
- Haltung
- Geste
- Bewegungsform (Tanz, Sport, Action)
- Ton
- Wort
- Satz
- Liedanfang
- gestaltete Pause. (77)
Die Fülle der Kombinationen nach diesem Baukasten-System (78) führt zu einer unendlichen Menge von Spiel-Angeboten durch die Spieler, wobei Hawemann immer wieder darauf hinweist, die theatralen Mittel, Techniken und Methoden nacheinander aufbauend einzusetzen, nicht alle gleichzeitig, um auf diese Weise einen stimmigen Bezug aller Mittel zueinander herzustellen und glaubwürdiges Spiel zu konstruieren.
Das Buch bietet viele sehr genaue Übungs-Beschreibungen zu allen wichtigen darstellerischen Möglichkeiten. In der Beschreibung der Vorgänge begründet Hawemann nachvollziehbar die eingesetzten Mittel und Methoden. Dazu gehören der Einsatz der Spielmöglichkeiten in Raum und Zeit, Kompositionsmethoden (Steigerung, Kontrastierung usw.), die dramaturgischen Pause, das Subtextsprechen, der innere Monolog, das Dialogsprechen, die Motiv-Findung, die Figurenentwicklung im Gegensatz zur Typenfindung und das Spielen mit Klischees usw.
Er beantwortet schlüssig die Frage, wie die Spieler bei der Stückentwicklung zu einem stimmigen Sprechtext kommen; ein Themenbereich, der Theater-Lehrkräfte besonders interessiert, die Eigenproduktionen mit ihren Schülern machen.
Hawemann zeigt dabei immer wieder, wie eng ästhetische Gestaltung und Theatralität in seinem Schauspiel-Unterricht grundlegende menschliche Lebensbereiche, Themen und Handlungen aufgreifen, spiegeln und reflektieren kann.
Leben üben im schönsten Sinne. Ein Plädoyer gegen die Abbildung und Wiederholung der De(kon)struktion des Lebens durch Theater (vgl. Stegemann: Lob des Realismus > Rezension).
Eine einfühlsame Arbeitsbeschreibung mit hohem Nutzwert für Theater-Lehrkräfte und Theater-Pädagogen.