Wie startet man ein Theater-Projekt?
Für ein erfolgreiches Theater-Projekt ist der Erstkontakt mit der Lehrkraft und dem Lernarrangement besonders wichtig.
Hier werden bereits die Weichen für einen erfolgreichen Lernprozess gestellt, weil Menschen sehr schnell nach Orientierung suchen und dazu gehört die sofortige Einschätzung einer Situation in den Kategorien gut für mich oder schlecht für mich – geschuldet unserer evolutionären Be- oder Gefangenheit und der immer noch fortwährenden Einmischung unseres Reptilienhirns bei Wahrnehmungen und Entscheidungen.
Ein erfolgversprechender Start zu einem Theater-Projekt gelingt, wenn mindestens die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
• eine warmherzige willkommen heißende Begrüßung durch den Verantwortlichen/ die Lehrkraft aus einer ehrlichen, respektvollen und neugierigen Haltung heraus, mit angemessener Zuwendung, Blickkontakt usw.
• eine kurze prägnante Information zu Beginn über das Kommende
• eine schneller Start in das Eigentliche, medias in res
„Das erste Modul beschreibt den Projektstart. Es unterscheidet sich von allen anderen Modulen, da die Projektleitung in den Theaterunterricht einführt. Schon bei der Ankunft im Raum und bei dem ersten Treffen sollen alle Teilnehmer die Lebendigkeit und Sinnlichkeit von Theater.“ (List 2014: 7) und die Begeisterung, die Leidenschaft und die fachliche Kompetenz der Lehrkraft spüren.
Es ist immer noch so, dass Menschen bis ins hohe Alter mit zwei Methoden lernen:
1. Nachahmung von Vorbildern und an Modellen. Sie werden als Entwürfe wahr(!)genommen, die man zunächst gefahrlos kopieren und
2. durch Ausprobieren zumeist in anderen Zusammenhängen austesten kann, bevor sie langfristig in das eigene Verhaltensrepertoire integriert werden.
Wie kann eine Lehrkraft diese Anforderungen an einen erfolgreichen Start zu einem Theater-Projekt bewältigen?
Neben den oben beschriebenen persönlichen Verhaltensmerkmalen wird der Raum, bevor die Schüler ihn betreten, angemessen hergerichtet. Der Raum ist abgedunkelt, vielleicht ist ein Spot auf ein kleines Requisitenarrangement eingerichtet. Stimmungsvolle Musik ist zu hören. Alles ist anders als in gewöhnlichem anderen Unterricht. Für die Ermöglichung von Lernprozessen beim Theaterspielen ist „eine Differenz zwischen dem Raum des Alltags und demjenigen des Theaters, zwischen alltäglicher und ästhetischer Erfahrung unabdingbar.“ (Pinkert 2005: 44)
In diesem Zusammenhang ist zu verweisen auf die große Wirkung von Irritation im Lernprozess. Sie ist das auslösende Moment für Neugier, die In-Frage-Stellung des bereits Gewussten, Gemeinten, Gedachten Erahnten oder Nicht-Gewussten und bereitet den Boden für neu zu Lernendes. Vor allem das Unerwartete führt zu Lernprozessen, bestätigten jetzt der britische Neurowissenschaftler Paul Fletcher von der Universität Cambridge und seine Kollegen: Wo und wie die Überraschungseffekte im menschlichen Hirn sichtbar werden, berichten die Forscher im US-amerikanischen Fachjournal Nature Neuroscience (Bd. 4, Nr. 10/2001).
Nach einer kurzen Begrüßung zeigt die Lehrkraft weitere Kompetenz als präsenter Moderator einiger Bewegungsübungen, die er während des Tuns immer wieder kommentiert und dabei das Verhalten der Schüler genau beobachtet, gegebenenfalls behutsam korrigierend erläutert.
Die Lehrkraft nimmt wahr, sieht die Teilnehmer.
Die Schüler nehmen wahr und erleben: Die Lehrkraft steuert die Gruppe und den Prozess souverän, ist präsent, wach, aufmerksam, achtsam und genau; macht selbst mit. Sie spüren, das wird ein erfolgreiches Theater-Projekt.
Und das alles in einer Atmosphäre heiterer Gelöstheit. Es darf gelacht werden. Keiner kann sich zum Gespött machen. Schlimmstenfalls machen sich alle zum Affen. Man lacht gemeinsam und zusammen über sich und nicht über andere, sondern miteinander. Immer wieder ist an die Erkenntnis aus der persönlichen Biografie des Autors wie aus Hatties und anderer wissenschaftlicher Studien zu erinnern, dass die Lehrkraft durch ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten entscheidend auf den Lernprozess Einfluss nimmt. Es gibt kein Nicht-Kommunizieren.
Persönliche Merkmale kann eine Lehrkraft nicht verändern, aber wie sie genau etwas tut – das angemessene methodische Vorgehen – kann sie erlernen und damit die Wirkung von Lernimpulse unterstützend begleiten.
Schon beim Erstkontakt beim Start zu einem Theater-Projekt erfahren die Schülern nicht nur Zuwendung und Wertschätzung, sondern erleben auch klare Strukturen in Form von präzisen Verhaltensanweisungen, die sich zu kleinen Sicherheit gebenden Ritualen verfestigen und nach kurzer Zeit von den Schülern selbstständig und eigenverantwortlich tradiert werden können.
Der erste positive Eindruck wird gefestigt durch ein gleich nach dem bewegenden Start eingeführtes Ritual, indem alle im Sitzkreis Platz zu nehmen. Alle sitzen in der ersten Reihe. Jeder darf sprechen. Jeder wird gehört. Kunst hat auch etwas mit Demokratie zu tun und Chance auf Teilhabe, auf Offenheit, Freiheit und Respekt. Wenn dieses Setting, dieses Ritual, gleich zu Anfang sehr klar gemacht wird, und die Schüler spüren, dass es dem Lehrer damit sehr ernst ist, wird es das Arbeitsklima positiv prägen.
Aus sinnvollen Ritualen können die individuelle Persönlichkeit und die Gemeinschaft stabilisierende Traditionen entstehen. Sie vermitteln Zusammenhalt. Die Anfangsinformationen werden auf ein Minimum beschränkt, um zügig in die Praxis einzusteigen. Sie beschränken sich im Wesentlichen auf wenige mit entsprechendem Ernst vorgetragenen Verhaltenserwartungen wie beispielsweise: „Ich heiße Volker List und euch herzlich willkommen in unserem Theater-Projekt. Ich möchte euch recht schnell alle mit Namen kennen lernen. Ihr sollt euch auch schnell untereinander kennenlernen, falls ihr euch noch nicht alle untereinander kennt und auch mit Vornamen ansprechen. Theaterarbeit bedeutet Zusammenarbeit. Das funktioniert nur, wenn wir uns mit gegenseitigem Respekt und Achtung begegnen. Und dass ihr auch respektvoll miteinander umgeht. Keiner wird ausgelacht. Und ich bitte euch, mich dabei zu unterstützen, dass wir das alle einhalten.“
Der Theaterlehrer sollte gleich zu Beginn unmissverständlich klarmachen, dass ein konstruktives Miteinander die Grundlage der Arbeit im Theater-Projekt ist. Der Theaterlehrer liefert das Modell durch eigenes Verhalten. Natürlich müssen Schüler immer wieder an solche Setzungen erinnert werden. Sie sind für manche keinen Selbstverständlichkeit. Sie sind ja Lernende. Wie die Lehrkraft auch. Lebenslang.
Wenn sich die Gruppe in ästhetische Prozesse verwickelt, dann ist das für die Lehrkraft auch immer wieder Neuland. Experimentieren, Improvisieren, Ausprobieren sind dabei wichtige Arbeitsmethoden. Es heißt nicht ohne Grund „Probe“ im Theater.
Es geht von Anfang an für die Schüler darum – und dies sollte immer wieder deutlich gemacht werden – möglichst selbstständig zu werden. Im Idealfall kann sich die Gruppe am Ende eines längeren Arbeitsprozesses weitgehend selbst steuern. Mehr oder weniger. Je nachdem, mit welcher Lerngruppe gearbeitet wird. Im Idealfall supervisiert die Lehrkraft in der Schlussphase nur noch. Die Hauptarbeit liegt in der individuellen Beratung und beim Coaching.
Das ist im Übrigen der Kernpunkt des gesamten Kursbuch-Konzept. Es geht darum, die Schüler so schnell und so gut das geht zur Selbstständigkeit zu führen und dass sie als Gruppe ihren theatral-ästhetischen Arbeitsprozess, ihre individuelle Arbeitsleistung und ihren Kompetenzerwerb steuern können, dass sie ihr Projekt managen können. Der Autor bezeichnet das Projekt hier bewusst als IHR Projekt. Nur wenn sich die Schüler damit identifizieren, werden sie leidenschaftlich arbeiten, werden mutig sein und Höchstleistung für die Gruppe und ihre Ziele erbringen. Eines sei aber schon zu Beginn betont: Vermeintlich tolle Methoden, Konzepte, Fahrpläne und genaueste Stundenbeschreibungen und Prozessschritte „zum Abhaken“ nützen gar nichts, wenn nicht die Lehrkraft die Inhalte und das Konzept verkörpert, flexibel damit umgeht und nach Bedarf verändert und an die Gruppe anpasst und damit glaubwürdig macht.
Insofern sind Lehrkräfte auch immer qualifizierte Führungskräfte, die Orientierung geben und Glaubwürdigkeit verkörpern müssen, wenn sie eine nachhaltige Wirkung erzielen wollen.
In der ersten Phase im Theater-Projekt gibt es keine fachliche Beurteilung und keine fachlichen Noten. Entscheidend ist mitzumachen und sich auf den Prozess einzulassen. Erfahrungen machen durch „Selbst tun“, möglichst ohne fachliches Bewertungsraster im Kopf.
Die Lehrkraft beobachtet die Schüler bei der Arbeit sehr genau und mischt sich auch unter die Gruppe. Sie spricht Schüler direkt an, wenn sie sieht, dass Schüler eine Anweisung nachlässig befolgen und besteht darauf, dass sie konzentriert arbeiten. Wenn sie sehen, wie wichtig diese Arbeitsweise ist, dass sie sorgfältig und genau arbeiten, werden sie spüren, dass die Schüler der Lehrkraft wichtig sind. Natürlich wird nicht alles gleich klappen und es ist wichtig, vieles auch mit Humor zu nehmen. Lachen ist in dieser Phase ein sehr wichtiges Ventil, Unsicherheit abzubauen. Außerdem ist es so, wer gemeinsam lacht stellt schnell einen guten Kontakt her.
Die Lehrkraft verweist immer wieder auf unterschiedliche Schüler, die eine Übung besonders genau machen oder eine Darstellung besonders expressiv. Diese holt die Lehrkraft in den Fokus für alle und erteilt immer wieder Lob. Auf diese Weise exponierte Schüler ziehen die anderen mit. Es sollte ein lustvoll-ernstes Arbeitsklima entstehen.
Das Bewerten beschränkt sich beim Start zu einem Theater-Projekte auf überfachliche Kriterien: sich einlassen, mitmachen, sich engagieren mit dem Ziel, Vertrauen untereinander aufzubauen. Im Modul 3 wird noch ausführlicher auf die Themen Kompetenzerwerb und Benotung eingegangen.
Theater lernt man nur richtig gut, indem man es tut.
Literatur
- List, Volker (2014) Kursbuch Theater machen. Stuttgart: Klett
- Pinkert, Ute (2005): Transformationen des Alltags. Theaterprojekte der Berliner Lehrstückpraxis und Live Art bei Forced Entertainment. Modelle, Konzepte und Verfahren kultureller Bildung. Berlin, Strasburg, Uckerland: Schibri
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