Wiese, Hans-Joachim/ Günther, Michaela/ Ruping, Bernd 2006: Theatrales Lernen als philosophische Praxis in Schule und Freizeit. Band 1 Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik. Uckerland: Schibri Verlag. 305 Seiten – Rezension
Die „Lingener Beiträge zur Theaterpädagogik“ (Gesamthochschule Osnabrück. Standort Lingen) haben den Anspruch neuste Forschungsergebnisse der Theaterpädagogik als angewandte Wissenschaft und als pädagogisch-künstlerische Praxis vorzustellen und zu diskutieren.
Als zentral für das Verständnis der Autoren aus Lingen von theatralem Lernen als philosophischer Praxis benennen sie die „gebrochene Repräsentanz. Das ‚Mehr als’ des aus den verschiedenen Absichten und Begebenheiten herausgesprengten ästhetischen Moments ist der heimliche Motor allen theatralen Lernens. […] Handwerk, Kunstfertigkeit und guter Wille werden sich an diesem ‚Mehr als’ messen lassen müssen, auf dem ein jedes ‚Spielprinzip’ sich gründet, ohne das eine Inszenierung zum Kunsthandwerk verkommt.“ (16)
Eindeutige Verweisungskontexte sollen methodisch gebrochen werden. Es schule „die Achtsamkeit für das Verworfene, Ausgelassene“ (16) Immer fehle etwas zur Gewissheit. Die Polyvalenz der ästhetischen Befunde dürfe nicht gewaltsam in eine Linearität sprachlicher Begriffsketten überführt werden. Die „Polyvalenz des Sinnfälligen“ (17) entfaltet sich erst in der Brechung, die einen Begriff von Theatralität rechtfertige.
Die Autoren wollen kein Handbuch vorlegen, keine „tips for teachers“, sondern:
- „Ermutigung zum Handeln, zum veränderten Handeln.
- Ermutigung, über eigene Einstellungen und Haltungen nachzudenken.
- Ermutigung, das Risiko eines Scheiterns einzugehen.“ (19)
Basis der Ausführungen in dem Buch ist ein zweijähriges Forschungsprojekt unter dem Titel „Theaterpädagogik als Instrument des sozialen Lernens in schulischen Systemen“ an einer Integrierten Gesamtschule in Lingen.
Als Methode zur Datenerhebung wurden genutzt themenzentrierte narrative Interviews, Evaluationsgespräche und schriftliche Dokumentationen. Die Verallgemeinerung können demzufolge nur diskursiven Charakter haben.
Das Forschungsinteresse verdichtete sich in der Ausgangsthese: Theatrale Lernprozesse, die die Schülerinnen und Schüler in eine konkret-spielerische Reflexion ihres Rollenverhaltens versetzen sind geeignet, soziale Lernprozesse zu beschleunigen und die ständig neu auszuhandelnde Identitätsbalance zu stabilisieren. (22)
Den restriktiven Lernvorgängen schulischer Lernprozesse und den lernbehindernden Grundfesten der Institution Schule, bedingt durch die Eingrenzung von Lösungsmöglichkeiten, Vergleichbarkeit und Konkurrenz, setzen die Autoren „das Ereignis des ‚theatralen Moments’ als Erfahrungspunkt höchster Spannungs-Intensität und Gegenwärtigkeit der Gruppe“ entgegen. (24) Damit rücken die „Erfahrungsmöglichkeiten des gegenwärtigen Wahrnehmens und Handelns im Theaterspiel ins Zentrum der ästhetischen Bildungsprozesse.“ (24)
Das im Vorwort formulierte Paradigma der Autoren lautet:
„Unsere neuformulierte Prämisse, deren Entwicklung wir im ersten Kapitel darstellen werden, kennzeichnet theatrales Lernen als Synthese ästhetischer und sozialer Erfahrung. Unsere These lautet:
Theatrale Lernprozesse können einen ästhetischen Ausdruck der sozialen Interaktion hervorbringen und somit überindividuelle Erkenntnismöglichkeiten bieten, die für die Zeit des Theaterspiels die permanenten Konkurrenzverhältnisse außer Kraft setzt, denen die Subjekte als ‚freie, einzelne’ ausgesetzt sind.“ (25)
Konkret auf den „Nutzen ästhetischer Prozesse“ bezogen heißt das, dass sie nicht eingebunden werden dürfen in vorhandene Strategien des sozialen und sachlichen Lernens, sonst können sie nicht die restriktive Gewalt des restriktiven Lernens mit ihren Lernwiderständen überschreiten. (48)
Insofern sehen die Autoren die Wirkungsmöglichkeiten der theatralen Erfahrung, wo sie sich als ästhetische Erfahrung vermittelt, „im Zusammenspiel der Gruppe als Schwellenerlebnis von Subjekt-Entgrenzung zu einer kollektiven Evidenzerfahrung.“ (48)
Weiterhin nehmen die Autoren aus Lingen eine klare Setzung vor, indem sie als Voraussetzung für theatrales Lernen „die Ausblendung restriktiver Lern- und Arbeitszusammenhänge im zweckfreien, entfremdungsarmen künstlerischen Raum“ voraussetzen. (49)
Deshalb bestehe „der erste Lernprozess im theatralen Unterricht […] immer darin, die in der Ästhetik der Alltagsrealität geronnenen Formen des restriktiven Lernens zu verlernen und die verhärteten Symbolisierungen konkurrenzhafter Interaktionsformen als Lernwiderstände zu überwinden.“ (50)
Theaterunterricht in der Schule habe sich aus diesen Gründen keine Lernziele zu setzen und diese zu kontrollieren und nicht „aus diesem Procedere ihre Disziplin und Machtstrukturen“ (54) in segmentierten Altersgruppen zu legitimieren.
Die Theaterpädagogik in der Schule muss an den Anfang „das autoritativ durchgesetzte Ritual der Erwärmung und Übungen (also Disziplin) als Mittel der Subjektentgrenzung, der Eroberung von Spielräumen, in der sich die Arbeitsziele der Lerngruppe entfalten können, setzen.
„Die restriktiven Formen des Lernens werden damit zwar nicht überwunden, dennoch gelangt die Vorstellung von expansiv-explorativem Lernen in das sinnliche Bewusstsein der Schüler und entlastet sie von der zwanghaften Reaktion, Lernwiderstände zu entwickeln und ästhetisieren.“ (56)
Demnach schlussfolgern die Autoren: „Theatrales Lernen kann auch dort, wo es nur uneigenständig und instrumentell eingesetzt wird, Erfahrungen induzieren, die das jeweilige Unterrichtsziel überschreiten und deren Kern in der Vorahnung von expansiven Lernprozessen liegt.“ (60)
Im zweiten Kapitel „Didaktik und Methodik des theatralen Lernens“ formulieren die Autoren nochmals deutlich schärfer die Bedingungen unter denen sich ihre „Pädagogik des achtsam-abwartenden Zulassens“ erfolgreich sein kann, nämlich „nur durch eine äußerste Disziplin der Lernenden“, die „’kristallklaren Regeln’“ folgen, „die der Spielleiter autoritativ und mit großer Konsequenz durchsetzen muss. Solange die Ästhetisierung des restriktiven Lernens nicht durchbrochen werden kann, muss der Spielleiter die Motivation der Spieler durch seine Autorität ersetzen – und das kann dauern, er kämpft dabei gegen die gesamte Alltagstheatralität der Schule.“ (65)
Die Autoren schlussfolgern, dass ein Unterrichtsverlauf den Charakter einer offenen Dramaturgie haben muss. „Dazu allerdings ist die Planung der Unterrichtsstruktur notwendig – aber nur, um jederzeit wieder über den Haufen geworfen werden zu können.“ (69)
Ausführlich beschreiben die Autoren ein Fünf-Stufen-Modell, das seinen Anfang in einer Idee nimmt und „in etwa der (aristotelischen) Struktur“ folgt. (70)
Körperlichkeit und Raumanmutung werden leider nicht in die Überlegungen als Ausgangsimpuls einbezogen.
Die Autoren aus Lingen haben hier 2006 ein tiefsinniges Werk vorgelegt, in dem profunde Kenntnisse der Philosophie- und Kulturgeschichte erkennbar und in ihrer Relevanz für Theaterunterricht durchaus sichtbar werden.
Dass die Autoren als Ausbilder von Pädagogen und Theaterlehrkräften ausdrücklich auch auf der Basis ihrer langjährigen Ausbildungserfahrungen diese Kenntnisse hier nicht nutzen wollen, um einen Nachvollzug theoretischer Überlegungen als „philosophische Praxis“ (Titel) zu ermöglichen und ausdrücklich keine „tips for teachers“ geben wollen, ist bedauerlich.
Die Chance, Theorie und Praxis in ihren Wechselbezügen auszudifferenzieren und miteinander zu vermitteln, das wäre es, was ein Unterrichtsfach Theater und die Ausbildungsqualität von Theaterpädagogen/ -lehrern weiter fundieren könnte.
Meine Erfahrungen lehren, die meisten Theaterpädagogen/ -Lehrer greifen priorisiert zu den Praxisbeschreibungen, weil ihnen die tiefgreifenden kulturgeschichtlichen Analysen, oft leider sprachlich umständlich bis aufgequollen daherkommend, keine nachvollziehbaren Brücken für ihre Praxis bauen.
Dieser Kunst sollte mehr Beachtung geschenkt werden, der Kunst Theater zu lehren.
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