Loidl, Gabriela 2003: Dramatisches Gestalten. Wahl- oder Pflichtfach? Marburg: Tectum Verlag. 200 Seiten > Rezension
Dramatisches Gestalten wird von der Autorin als Impuls zur Verhaltens- und Einstellungsänderung bei jungen Menschen erlebt.
Darum die Forderung 2003, das Theaterspielen als Schulfach in Bayern in der Form „Dramatisches Gestalten“ zu etablieren.
Es war ein Schlüsselerlebnis bei Loidl, das sie zum Schreiben dieser an der Universität Würzburg (Bayern/ Bezirk Unterfranken) angenommenen Dissertation bewegte. Ein aus sozial schwacher Familie stammender Schüler entdeckt sein Potenzial beim Theaterspielen und ändert seine Einstellung zur Schule und zum Leben. Theaterspielen als Lebenshilfe.
Inhalt
- Forschungstand
- Begründung eines weiteren musischen Faches: Ziele und Aufgaben Dramatischen Gestaltens
- Der ästhetische Ausdruck des menschlichen Körpers – seine Möglichkeiten und Grenzen
- Der theatrale Raum
- Gedanken zur Improvisation
- Praktischer Teil
Als Aufgabe und Methode der Untersuchung beschreibt Loidl ihre Absicht, „die Wichtigkeit des Faches Dramatisches Gestalten“ zu belegen (7). Die Grundlage ihrer Arbeit sind „praktische Versuche, welche auf die Bedeutung Dramatischen Gestaltens für Schülerinnen und Schüler hinweisen.“ (7)
In Bayern wurde lange Zeit der Begriff „Dramatisches Gestalten“ verwendet, während sich in den anderen Bundesländern überwiegend der Begriff „Darstellendes Spiel“ eingebürgert hat.
Loidl geht es „um die Entfaltung der schöpferischen Kraft bei Kindern und Jugendlichen zugunsten ihrer Entwicklung als Person“. Deshalb gehöre es zur „natürlichen Aufgabe der Schule“, Kreativität zu fördern und dies „wissenschaftlich zu untermauern.“ (5)
Ihre Kernfrage lautet: „Wie soll und kann ästhetische Erfahrung im Dramatischen Gestalten überhaupt in den Dienst der Pädagogik gestellt werden?“ (51)
Damit ist die Denkrichtung von Loidls Arbeit vorgegeben.
Loidl inszenierte mit Schülern eine selbst verfasste Version von „Romeo und Julia“ und ein selbst geschriebenes Puppenspiel, verglich beide miteinander und wertete die „empirischen Erfahrungen“ (7) aus.
Im Kapitel „Forschungstand“ wirft die Autorin eine Blick in die Geschichte und verweist auf eine lange Tradition der besonderen Bedeutung dramatischen Gestaltens (Comenius), das sich allerdings nicht in der aktuellen Schulwirklichkeit um die Jahrtausendwende abbilde.
In den folgenden Abschnitten fasst Loidl „beispielhafte Positionen der Forschung zum Dramatischen Gestalten im engeren Sinne“ (10) zusammen.
Ein Grunddissens in der Auseinandersetzung findet sie in den widerstreitenden Positionen, ob der Schwerpunkt im Schultheater auf der Produkt- oder der Prozessorientierung liegen solle. Dieser Streit beruht einerseits auf der traditionellen Haltung der werktreuen Inszenierung literarischer Vorlagen als Dramenrezeption, und andererseits auf der Forderung Schülern eine Möglichkeit zur „Körpererfahrung“ durch das Theaterspielen zu geben. Insofern fühle sich die erste Position eher dem Deutsch-Unterricht verpflichtet und betrachte das Theaterspielen als lebendigen Literaturunterricht. Kunz, als Vertreter dieser Form Dramatischen Gestaltens, so Loidl, sehe aber auch die Notwendigkeit, Schülern für ein anspruchsvolles szenisches Interpretieren von Dramen notwendige „Arbeitstechniken“ zu vermitteln.
An Hentschels Position kritisiert die Autorin beispielsweise, sie beachte zu wenig den Aspekt des Lernens während des Theaterspielens, und der besondere Wert von Eigenproduktionen bleibe bei ihr unberücksichtigt (vgl. dazu die Rezension von Hentschel).
In der Zusammenfassung der Betrachtung der verschiedenen Positionen konstatiert Loidl, dass sie „keine weitere Theorie des Schultheaters entwickeln“ (23) will und formuliert als Fazit, dass Dramatisches Gestalten kein Anhängsel von Deutschunterricht sein darf. „Dazu ist das Spiel selbst in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Heranwachsenden zu wichtig. Körpererfahrung, Persönlichkeitsentwicklung, Vermittlung von Verhaltensmustern zur Orientierung in der Umwelt, Kommunikationsfähigkeit, Körperbeherrschung und Selbstreflexion werden nirgend so gefördert – und noch dazu spielerisch – wie im Dramatischen Gestalten. […] Dabei soll mit allen Formen des Theaters, Puppen-und Marionetten-, Schwarzem und Absurdem, Sprech- und Pantomimischem Theater usw., experimentiert werden, wobei die Prozeßorientierung Vorrang vor dem Produkt haben sollte.“ (23); ein explizites Plädoyer für eine Vielfalt im Schultheater und Darstellenden Spiel.
In einem kurzen historischen Abriss bei Platon beginnend skizziert Loidl die Auseinandersetzungen um einen Ästhetik-Begriff, der sich immer um den Kern einer sinnlicher Wahrnehmung rankt.
Diese komme in leistungsorientierten auf kognitives Lernen fokussierten schulischen Systemen zu kurz und ginge auf Kosten der unmittelbaren Erfahrungsbildung im Unterricht. Dabei sei das bereits in den 1950er Jahren formulierte didaktische Dreieck Lehrer – Schüler – Stoff mit all seinen Implikationen zu beachten.
Zu den ästhetischen Basistechniken, die in Schule zu wenig genutzt würden, gehöre Erzählen und Spielen, Gestalten, Sprechen und Inszenieren. Der Improvisation komme dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie den Schüler zwinge, „aktiv zu werden und Entscheidungen zu fällen.“ (34), eine unabdingbares Training zu Selbstständigkeit (vgl. 37).
Im Begriff der „ästhetischen Praxis“ sei der Versuch unternommen worden, eine Verbindung zwischen Kunst und Pädagogik herzustellen. Eingeschlossen in diesem Begriff sei das Lernen durch Tun und die Notwendigkeit des Übens und Trainierens und des Erwerbs von Kompetenzen, das notwendige Handwerkszeug, den Körper und die sekundären theatralen Mittel, angemessen zu benutzen.
Dramatisches Gestalten könne demnach nicht länger im Kielwasser des Deutschunterrichts fahren, sondern habe eine eigenständige Berechtigung als ästhetisches Fach, das überdies für viele andere Fächer ein lebendiges Methodenrepertoire anbiete (vgl. 44/ 45).
Abschließend verweist die Autorin auf Reiss’ Modell des Kompetenzerwerbs (Soziale K, Ich-K, Ästhetische K, Methodische K, Fachliche K). „Jene in einem Lernprozeß erworbenen Kompetenzen können kontrolliert und am sichtbaren Erfolg gemessen werden. Somit ist auch die Voraussetzung zur Notenvergabe geschaffen.“ (47)
Die Problematik der Benotung sei offensichtlich, aber nicht generell unterschieden von anderen Fächern. Im Gegenteil. Durch die vielfältigen Möglichkeiten für Schüler, sich in einem Theaterprojekt zu engagieren, hätten sie auch mehr und differenziertere Möglichkeiten ihre Potenziale zu entwickeln und Leistung zu zeigen (vgl. 48).
Loidl macht einen kleinen historischen Exkurs zur Genese des Ästhetik-Begriffs und kommt zum Ergebnis, dass es immer, ganz in der ursprünglichen Definition, um sinnliche Wahrnehmung geht. (52)
Die Ausdifferenzierung des Ästhetik-Begriffs führt zur Anerkennung einer Dualität im künstlerischen Prozess. Es geht immer auch um die Vermittlung von Form und Inhalt, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Intellekt und Emotion, Person bzw. Rollenträger und Rolle und die Überschreitung der Grenzen zwischen diesen Bereichen. Im kindlichen, selbstvergessenen Spiel wird wird ein Art Ideal formuliert, weil es hier der Anspruch von Ästhetik am ehesten und natürlichsten erfüllt erscheint, so Loidl auf Rupp verweisend. (vgl. 59)
Loidl erscheint ein ästhetischer Ausdruck am ehesten herstellbar, wenn der Darsteller seine Emotionen einbringt, z.B. „mit einer kontrollierten und bewußten Körpersprache zum Ausdruck bringen [kann], indem er eine verkrampfte Haltung einnimmt, die Fäuste ballt […] und was am wichtigsten ist, seine Mimik, z.B. ein verzerrtes Gesicht, einsetzt, um seinen Haß wirklich erscheinen zu lassen. Anderseits kann er aber auch mit dem Satz ‚ich hasse’, Haß in sich selbst erzeugen, der sich automatisch in Gestik und Mimik seinen Weg nach bahnt.“ (60)
„Ziel des Theaterspielens muß es demnach sein, die Funktion des Körpers, nicht nur seine Haltung, sondern auch in der Bewegung, wie z.B. beim Gehen, bewußt zu machen, damit sie so dann bewußt und differenziert eingesetzt und auch bewußt und differenziert wahrgenommen werden.“ (61)
„Junge Laiendarsteller sollen im Dramatischen Gestalten keinesfalls unter Aufgabe ihres eigenen Ichs in eine Rolle gedrängt werden, sie gewinnen ihre ästhetische Erfahrung eben aus diesem Balanceakt zwischen zwei Identitäten. Es kommt „zu einer bedeutsamen ästhetischen Erfahrung, deren ausgestalteter Ausdruck das Ästhetische definiert.“ (63) „Eine Aufgabe der eigenen Persönlichkeit zugunsten anderer Identitäten […] kann und darf niemals Ziel und Zweck des Schultheaters sein. […] Pädagogisches Ziel der modernen ästhetischen Erziehung ist die Ausbildung und Einübung der ästhetischen Urteilskraft.“ (65) Es gelte dabei „herauszuarbeiten, inwiefern das Szenische Spiel einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung leistet und wie es deshalb in der Ausbildung der Lehrer und v.a. im allgemeinen schulischen Lernprozeß zu berücksichtigen ist.“ (66)
Andererseits können sich die Darsteller im Schultheater, so Loidl, „sich mit der angenommenen Rolle möglichst eng identifizieren, sich von Hemmungen, (Minderwertigkeits-) Komplexen, Verspannungen ‚freispielen’, d.h. sie können, nachdem sie aus der Rolle geschlüpft und ins Privatleben zurückgekehrt sind, feststellen oder zu hören bekommen, daß sich ihre Persönlichkeit positiv entfaltet hat.“ (69)
Improvisationen dienten u.a. dem Zweck zu trainieren „in Rollen hineinzuschlüpfen“ (88), zu üben, wie man „glaubhaft“ spielt und „Schüler müssen ihre noch fremde Rolle [die im Stück durch den Schriftsteller vorgegeben sei], selbst ausfüllen, und sich mit ihr identifizieren.“ (89; vgl. auch 97)
Darüber hinaus seien „Kleidung, Requisiten, Haltung, Mimik, Tonfall usw. […] maßgebend für die Glaubwürdigkeit solcher Rollen.“ (88) Insofern ist es Loidl wichtig, das sich die Schüler in ihrem Stück „Romeo und Julia“ auch der „besseren theatralischen Darstellung“ wegen, dass „sich die beiden besser in ihre Rollen hineinversetzen können“, indem sie „beispielsweise Händchen halten, eine Umarmung oder nebeneinander sitzen.“ (93)
Bei ihrer Regiearbeit verwendet Loidl – ohne es explizit zu formulieren – klassisch-naturalistische Schauspieltechniken, wie sie von Stanislawski, Straßberg usw. entwickelt wurden und als „The Method“ im professionellen Schauspielunterricht angewendet werden: „Die Darsteller werden gebeten, sich an eine traurige Situation zu erinnern und zu versuchen die damaligen Gefühle nachzuempfinden. Diese sollen aktiviert, aber keinesfalls kopiert werden!“ Auch sollten die Schüler dabei „nicht übertreiben“. (94)
Loidl ist ein Kennenlernen der – wie sie sagt – schon längst vernachlässigten Shakespearschen Bühnensprache wichtig (vgl. 78).
Für „unser Jahrhundert“ akzeptiert sie aber auch „die unendliche Varietät der Stile, der Formen und der theatralen Räume“. (79)
Im Kapitel „Gedanken zur Improvisation“ stellt Loidl eine Liste an Forderungen an Lehrer auf und welche Kompetenzen sie mitbringen bzw. entwickeln müssen. (87 und auch 98-99)
Im Kapitel „Praktischer Teil“ war es Loidl wichtig, „die Aussagen im theoretischen Teil nach[zu]weisen.“ (96) Dazu schreibt sie: „Um fundierte Aussagen treffen zu können, habe ich versucht, eine möglichst breite und vielfältige Erfahrung zu sammeln, indem ich, erstens, zwei unterschiedliche Theaterarten: Sprech- und Puppentheater, und zweitens, innerhalb dieser Theaterarten, unterschiedliche Altersgruppen ins Auge gefaßt habe.“ (96)
Bei der Rollenvergabe ihrer Inszenierungen ging es darum herauszufinden, welcher Schüler am besten in welche Rolle passt (vgl. 101). Als Begründung – Dorpus 1970 zitierend – „Der beste Darsteller ist nicht immer auch die pädagogisch beste Besetzung einer Rolle.“ (101) Loidl geht davon aus, dass ihre Schüler „Charakter“ darstellen und nicht „Typen“ und es wäre „pädagogisch falsch, einen Schüler nur auf einen ‚Typus’ festzulegen. Jeder ist also jeder Rolle gewachsen. So war es meine pädagogische Aufgabe, alles zu tun, um die Schüler zu ermutigen und zu unterstützen, ihren Rollen gerecht zu werden. Daher war der Schwerpunkt meines Zieles eindeutig, ihr Selbstvertrauen zu stärken.“ (101)
Rechtschreibungs- und Grammatikfehler in Zitaten wurden nicht korrigiert.