Nix, Christoph u.a. (Hg) 2012: Theaterpädagogik. Lektionen 5. Berlin: Theater der Zeit Verlag. 311 Seiten – Rezension
Theaterpädagogik als eigenständige Disziplin hat in den letzten zwanzig Jahren rasant an Bedeutung zugenommen. Belege dafür sind u.a. die Einrichtungen von Lehrstühlen an Universitäten, Stellenbesetzungen an Theatern und nicht zuletzt die Einführung eines ordentliches Schulfaches mit einer bundesweiten Abiturprüfungsverordnung. Dabei bilden theaterpädagogische Theorien und Praxen die Vielfalt des professionellen Theaters ab.
Die Herausgeber Nix, Sachser und Streisand versuchen sich dieser schier unüberschaubaren Vielfalt mit 32 Beiträgen verschiedensten Autoren in drei Bereichen zu nähern.
Inhalt
I. THEORIE, GESCHICHTE UND KONZEPTE |
|
Geschichte der Theaterpädagogik im 20. und 21. Jahrhundert |
Seite 14 |
Skizze einer Vorgeschichte der Theaterpädagogik vom 10. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhundertsvon Manfred Jahnke |
Seite 36 |
Theaterpädagogik oder müssen wir nicht erst einmal die herrschende Pädagogik infrage stellen?von Christoph Nix |
Seite 45 |
Theater ± PädagogikKorrespondenzen von Theater und (Theater-)Pädagogikvon Florian Vaßen |
Seite 53 |
Theaterspielen als ästhetische Bildungvon Ulrike Hentschel |
Seite 64 |
Transformationen des AlltagsMaterialbasierte Theaterproduktionen in der Theaterpädagogikvon Ute Pinkert |
Seite 72 |
II. FACHPRAXIS UND METHODEN |
|
TheaterspielflowFlow als ein künstlerischer Gestaltungsmodus an der Nahtstelle von Theoriebildung und Praxis der Theaterpädagogikvon Dietmar Sachser |
Seite 82 |
Theater in sozialen Feldernvon Gerd Koch und Joachim Wondrak |
Seite 93 |
Der kollektive Prozess der Theaterpädagogik |
Seite 99 |
Didaktische RadialeReflexionswege für die Theaterpädagogikvon Mira Sack |
Seite 105 |
Lehrstückspiel als Gegenstand der Friedensforschungvon Reiner Steinweg |
Seite 111 |
Erzählen |
Seite 117 |
Biographisches Theatervon Norma Köhler |
Seite 123 |
Performance zwischen Aufführungskunst und kommunikativer Praxis |
Seite 131 |
III. ARBEITSFELDER |
|
Jugendtheater und Jugendkulturvon Gerd Taube |
Seite 140 |
Es kann nie nur um Inhalt gehen, Inhalt existiert nicht purUta Plate im Gespräch mit Judith Griese über ihre Workshops an der Schaubühne Berlinvon Uta Plate und Judith Griese |
Seite 146 |
Kommunale Theaterpädagogik – zwischen Jugendhilfe und KunstAm Beispiel des jungen theaters konstanzvon Sarit Streicher und Kerstin Daiber |
Seite 152 |
Interest me!Theaterpädagogische Projektarbeit und die „interessierte Öffentlichkeit“von Thomas Lang |
Seite 158 |
Theaterpädagogik in der Schulevon Ole Hruschka |
Seite 166 |
Theater in der Fremdsprachenvermittlungvon Maik Walter |
Seite 182 |
Interkulturelles Theatervon Wolfgang Sting |
Seite 189 |
Versteck dich nicht!Royston Maldoom im Gespräch mit Dietmar Sachservon Dietmar Sachser und Royston Maldoom |
Seite 197 |
Theaterpädagogik in Organisationen zwischen Unternehmenstheater und ästhetisch reflexiver Bildungvon Eva Renvert |
Seite 205 |
Lehrlingstheatervon Katharina Kolar |
Seite 210 |
Theater mit alten Menschenvon Ute Karl |
Seite 216 |
Kirche und Theatervon Maren Schmidt |
Seite 222 |
Die Gedanken sind freiTheater mit Strafgefangenenvon Sandra Anklam |
Seite 229 |
Auch das Theater kann zum Gefängnis werdenArmando Punzo im Gespräch mit Nicole Gronemeyervon Nicole Gronemeyer und Armando Punzo |
Seite 235 |
Theater – Therapievon Dieter Kraft |
Seite 241 |
Theaterpädagogik in der Psychiatrievon Norbert Knitsch |
Seite 248 |
Spielen um zu leben – Leben, um zu spielenEin Gespräch mit Gisela Höhne, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des „total verrückten Theaters Ramba Zamba“ |
Seite 254 |
Weiterführende Literatur |
- Theorie, Geschichte und Konzepte
- Fachpraxis und Methoden
- Arbeitsfelder
Im ersten Teil geht es um die Geschichte, die Theorie und die Konzepte (Ursprünge und historische Entwicklungslinien), im zweiten Teil um die Fachpraxis und die Methoden (Verhältnis von Kunst und Pädagogik, emanzipatorisch-politische Theateransätze, ästhetischer Bildung) und im dritten Teil um die Arbeitsfelder der Theaterpädagogik (im Gefängnis, in der Kirche, im Unterricht, mit alten Menschen, in Kitas, in Wirtschaftsunternehmen, Organisationen, Vereinen, Verbänden).
Im ersten Teil geht es um die Geschichte, die Theorie und die Konzepte (Ursprünge und historische Entwicklungslinien), im zweiten Teil um die Fachpraxis und die Methoden (Verhältnis von Kunst und Pädagogik, emanzipatorisch-politische Theateransätze, ästhetischer Bildung) und im dritten Teil um die Arbeitsfelder der Theaterpädagogik (im Gefängnis, in der Kirche, im Unterricht, mit alten Menschen, in Kitas, in Wirtschaftsunternehmen, Organisationen, Vereinen, Verbänden). Das Buch schließt mit einer Zusammenstellung von Ausbildungsmöglichkeiten zum Theaterpädagogen ab. Die Herausgeber wollen mit ihrem Sammelband „zeigen, was den Theaterpädagogen auszeichnet: behilflich zu sein, zu motivieren, selbstkritisch auf der Suche, wie wir uns und anderen das Spielen lehren.“ (10) Ohne Hybris formulieren sie: „Drei Herausgeber sind aufgebrochen und haben keine gemeinsame Fröhliche Wissenschaft gefunden. Die unterschiedliche Musik in den Texten dieses Buches und seine Akteure kann die Zirkuskuppel öffnen, in der Manege einer Theaterpädagogik, in der jeder einen Platz zu haben scheint, wie in Kafkas Zirkus von Oklahoma: Es lebe der Irrsinn und der ständige Versuch.“ (11)
1. Theorie, Geschichte und Konzepte
Marianne Streisand: Geschichte der Theaterpädagogik im 20. und 21. JahrhundertSo schillernd und vielfältig wie die Anfänge dessen, was man heute im deutschsprachigen Raum mit Theaterpädagogik bezeichnet, gestaltete sich auch die weitere Entwicklung dieses heute anerkannten Fachgebietes. Während sich ab den 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum der Begriff Theaterpädagogik durchsetzte, zeigt sich die Verschiedenartigkeit dessen, was man damit bezeichnet, auch in einer Vielfalt der Begriffe im nicht-deutschsprachigen ab: Drama in Education, Theatre in Education, Applied Theatre usw. Streisand skizziert im Folgenden die Genese der Sache Theaterpädagogik seit 1900 und verweist auf Jankes Beitrag, der sehr viel weiter zurückgeht. Ausgehend vom Strukturierungsmodell des Rhizoms, wie es Deleuze und Guattari entwickelten, das nicht wie das Strukturierungsmodell eines Stammbaums funktioniert, zeigt Streisand die Heterogenität, Widersprüchlichkeit, Vielgestaltigkeit und chaotischen Verknüpfungen dessen was heutzutage unter dem Begriff Theaterpädagogik verstanden wird. „’Im Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punk mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jeder seine Linien auf andere, gleichartige Linien verweist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel. Das Rhizom […] Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet.’“ (15)
Streisand will mithilfe dieses Strukturierungsmodells „einen sehr vorläufigen Blick auf die konkreten geschichtlichen Ausformungen und Erscheinungsweisen der Theaterpädagogik im 20. und 21. Jahrhundert […] werfen – und zwar auf der Basis laufender Forschungsprojekte.“ (15) Bestimmend für die Ursprünge der Theaterpädagogik waren, so Streisand, „zwei gegenläufige Stränge“. „Zum einen ist es die Lebensreform mit ihren Säulen des naturgemäßen Lebens, der Naturheilbewegung und der Körperkultur, in deren Zentrum die Reformpädagogik steht, zum anderen sind es die im ersten Jahrzehnt entstehenden künstlerischen Avantgarden.“ (15-16) Dabei bezogen sich die Institutionen des Kunsttheaters wie die Stadt- und Staatstheater auf die Kunstavantgarden, während die Theaterpädagogik Ihre Wurzeln mehr in den Lebensreformbewegungen hat (vgl. 18). Schlaglichtart beleuchtet Streisand nun den bunten Flickenteppich und die amöbenhaften Bewegungen der verschiedenen theaterpädagogischen Strömungen. Als dominierend für den deutschen Zweig der Theaterpädagogik erkennt Streisand die Intentionen der 1968er Generation. Dabei schreibt sie „dieser Identität stiftenden ‚Erlebnis- und Erfahrungsgemeinschaft’ eine besondere Bedeutung zu. Diese Bestrebungen waren insofern „generell gekennzeichnet von sozialpolitischem und -geschichtlichem Engagement. Mit solchen Intentionen fest verbunden waren auch Inhalte, Ziele und Methoden der aufkommenden ‚Theaterpädagogik.’“ (28) Theaterpädagogik differenzierte sich als Engagement im sozialen Feld und in Gemeinden oder Dörfern mit spezifischen Zielgruppen etwa Senioren, Obdachlosen, im therapeutischen Bereich, in Fremdsprachenerwerb und an Schulen und Hochschulen (vgl. 29). Eine zentrale Rolle bei diesen Engagements spielte der Bezug auf Brechts Lehrstück-Modell, Insofern das Lehrstück dadurch lehrt, dass es gespielt wird, nicht dadurch, dass es gesehen wird.
Trotz eines theoretischen Überschusses, so Gerd Koch, lehnte man Buchproduktion ab, „’weil diese Spiel- und Theaterpädagogen und Macher mehr spielen als lesen wollen.’“ (29) Geeignete Publikationen sah man in der Form der Zeitschrift. Ab den späten 1980er Jahren wurde in einem aesthetic bzw. performative turn das sozialpolische Engagement abgelöst durch einen stärker „ästhetisch interessierten Zugriff“. (30) Streisand mutmaßt in Bezug auf die aktuelle Entwicklung: „Angesichts der gegenwärtigen europäischen Krise wird sogar das Politische auf den Straßen zurück erobert, vielleicht bringt es auch die entsprechenden Theaterformen wieder zurück.“ (32) Sichtbar wird dies an dem vielfach festzustellenden Einbezug von Amateuren in professionelle Aufführungen, an dem „Einbruch des Realen“ (Lehmann), der zunehmenden Bedeutung des Biografischen, Dokumentarischen und der Betonung des Vorläufigen, Fragmentarischen und Unperfekten. „Anstatt danach zu fragen, was Theater verhandelt, ist heute vielmehr die Frage interessant, was Theater bewirken kann und bewirkt – das wird als politisch verstanden.“ (33)
Als Fazit formuliert Streisand die Vermutung, dass die Mitte, aus der sich ein Rhizom speise, in Bezug auf die Entwicklung der Theaterpädagogik in „gemeinschaftlichem Spiel und Üben“ liege. ( 34)
Manfred Jahnke: Skizze einer Vorgeschichte der Theaterpädagogik vom 10. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts
Die Geschichte des Theaterspielens und der Verbindung zu pädagogischem Denken zeigt keine geradlinige Entwicklung. „ Es ließen sich hier ist historische Einzelstudien in Fülle erstellen, je nachdem auch, unter welchem Schwerpunkt Theaterpädagogik erforscht werden soll.“ (36) Jahnke zeichnet die verschlungene Wege, die das Theaterspielen ab dem 6. Jahrhundert zurück gelegt hat und welche bedeutende Rolle recht früh das Schultheater darin eingenommen hat. Dominanz hat dabei die Vorstellung, das auch Theaterspielen in erzieherischer Weise als Methode zu nutzen, um die Interessen der jeweils Mächtigen durchzusetzen. Insofern war es weitgehend bestimmt durch den Einfluss der christlichen Kirchen. Erst die reformpädagogischen Bemühungen beendeten diese Dominanz.
Christoph Nix: Theaterpädagogik oder müssen wir nicht erst einmal die herrschende Pädagogik infrage stellen?
Nix plädiert Für einen widerständigen Charakter der Theaterpädagogik gegen eine von staatlicher Bildungspolitik verordnete Anpassung. Theaterpädagogik habe die Aufgabe ganz im Sinne Augusto Boals, die Konflikte unter den Menschen zum Thema zu machen. Oberste Lernziele einer Pädagogik sollten sein, Fragen zu stellen, skeptisch zu sein, Zweifel zu legen, Bedenken zu formulieren und Ungläubigkeit (vgl. 49).
Florian Vaßen: Theater +/- Pädagogik. Korrespondenzen von Theater und (Theater-) Pädagogik
Vaßen beschreibt die Auswirkungen eines durch die Reformbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts veränderten Theaterbegriffes. Im neuen Verständnis werden Kunst und Pädagogik zu ästhetischem Handeln und Reflektieren. “Theater wird zu einem ‚Laboratorium sozialer Fantasie’.“ (54) Die aktuelle Vielfalt des professionellen Theaters mit der Betonung des Nicht-Perfekten, mit chorischen Verfahren und Sprachflächen, mit Rollensplitting und Multimedialität beeinflussten die Entwicklung der Theaterpädagogik. Auf diese Weise käme es zu einer Theatralisierung der Theaterpädagogik und zu einer Pädagogisierung des Theaters. Es werde immer schwieriger beide Bereiche voneinander zu trennen, „weil klare Unterscheidungsmerkmale wie die Zielgruppe und die (berufliche) Qualifikation der Beteiligten, die Arbeitsweisen und Methoden im Sinne einer integrierten Theater-Pädagogik-Praxis zunehmend verloren gingen. Die Kontextbezogenheit des Theaters, seine Entgrenzung im sozialen Feld korrespondiere mit der Öffnung der Theaterpädagogik im ästhetischen Feld.“ (55) Für Vaßen ist es wichtig, dass sich die Arbeit der Theaterpädagogik primär aus der Materialität des theatralen Prozesses generiere, sodass künstlerische Innovation und soziale Praxis nicht mehr voneinander zu trennen seien. Theater als multidimensionale Kunstform „biete Raum für Versammlung, Zusammenkunft, Begegnung und damit die Möglichkeit für kollektive Kreativität, d.h., es ist gesellig und damit im emphatischen Sinne gesellschaftlich.“ (55) Allein das mache Theater-Praxis zu einem Gemeinschafts-Ereignis und zu einer kooperativen Kunstform durch Beziehungsarbeit, die auf einer kollektiven Intelligenz basiere, was sich in gemeinsamer Autorenschaft zeige. Inzwischen werden alle gesellschaftlichen Bereiche zunehmend von Theatralisierungsprozessen geprägt. Dabei erscheine es offensichtlich das gerade die Leiblichkeit der Spielenden mit ihrem Weltbezug, Selbstbezug und Fremdbezug (Bernhard Waldenfels), die im Spiel, in der performative und selbstreflexiven Praxis, die Potenzialität eines spezifischen Handelns und Verstehens entwickele (vgl. 56).
Vaßen sieht im Zentrum des theaterpädagogischen Prozesses die Ausdrucksschulung, das eigene theatrale Agieren und die aktive Teilnahme an einer Theaterproduktion, das Theaterspielen. Ästhetische und sozialer Erfahrungmöglichkeiten fließen dabei ineinander. Gleichermaßen von Bedeutung sei die Wahrnehmungsschulung oder Zuschauerkunst. „Beides, Schauspiel- und Zuschauerkunst, ermöglicht ästhetische Erfahrung und sinnliche Erkenntnis als Ergänzung und Störung von Alltagserfahrung und damit als produktive Verunsicherung des Alltagsbewusstseins.“ (58) Durch persönliche und soziale Erfahrungen, aber vor allem durch die Differenzerfahrung, die sich aus der Doppelheit von Realität und ästhetischer Praxis, von selbst und Rolle ergibt, spricht Vaßen dem Theaterspielen „ein besonderes Bildungspotenzial“ zu. (59) Allerdings seien die behaupteten positiven Folgewirkungen das Theaterspielens nur schwer nachweisbar, da sie im hohen Maße situationsabhängig seien. Problematisch sei auch die in didaktischen Handreichungen oder Rahmenrichtlinien vorgenommene Trennung in ästhetische, soziale und personale Kompetenzen problematisch, weil die Produktivität von Umwegen und Sackgassen, Nicht-Verstehen und plötzlichen Ereignissen in der theatralen Praxis mit der Kategorie der Kompetenz nicht erfasst werden könnten (vgl. 59).
In gleicher Weise seien Schwellenerfahrungen, die Transformationsprozesse in Gang setzen, mit einem Kompetenzbegriff nicht zu erfassen. „Beim Theaterspielen geht es – trotz aller sozialer Relevanz – nicht primäre darum, das mit seiner Hilfe etwas gelehrt wird und es ist auch keine Methode, durch die für etwas gelernt wird. Vielmehr entstehen im ästhetischen Ereignis des Theaterspiels, in dem Ästhetik, Theatralität, Leiblichkeit sowie Ethik, Sinn und Reflexion eng miteinander verbunden sind, neue Erfahrungen.“ (60)
Dieses neue Verständnis von Theaterpädagogik durch Üben und Lernen in einem offenen Prozess weist dem Theater-Lehrer andere, neue Funktionen zu. Er wird zum Initiator, Moderator, Begleiter, Helfer, Supervisor. Diese Vermeidung einer Lehr-Haltung setze Eigensinn und Eigenständigkeit bei den Spielern frei. Lernprozesse könnten unter diesen Bedingungen selbstbestimmter stattfinden, die letztlich zur einer Selbstbildung im Kontext von Fremdheit und gemeinsamem Theater-Lernen statt Theater-Lehre beitrügen.
Ulrike Hentschel: Theaterspielen als ästhetische Bildung
Hentschels Beitrag ist eine Zusammenfassung ihres Buches „Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung“. Erstauflage 1995. Henschel will die „unscharfen Begriffe des ‚Ästhetischen’ und der ‚ästhetischen Bildung’ für das Feld einer handlungsorientierten kunstvermittelnden Disziplin wie der Theaterpädagogik […] konturieren.“ (64) Zumeist wird die Frage nicht gestellt, worin die besonderen Bildungsmöglichkeiten künstlerischer Tätigkeiten liegen. Die Vermittlung der Künste im pädagogischen Kontext wird dabei außerästhetisch begründet. Henschel distanziert sich von jeglicher Form der „Domestizierung des Spiels“ (69) für pädagogische Zwecke. Mit Verweis auf Domkowskys Untersuchung ließen sich keine statistisch signifikante Zunahme sozialer Kompetenzen durch Theaterspielen nachweisen, und es stelle sich die Frage, ob die Vorstellung von Vermittlung, die den kompetenzorientierten Modellen bildungspolitischer Provenienz zugrunde liege, im Kontext der kunstvermittelnden Fächer überhaupt sinnvoll sei. (70) Henschel schließt sich Sacks Definition an, derzufolge „‚Spiel als ein ambivalente Gegenwart generierendes, subjektüberschreitendes und autark sich vollziehendes spezielles Bewegungsgeschehen’“ sei. (69) – Eine Rezension ist hier nachzulesen: https://angewandte-theaterforschung.de/hentschel-ulrike-2010-theaterspielen-als-aesthetische-bildung/
Ute Pinkert: Transformationen des Alltags. Materialbasierte Theaterproduktionen in der Theaterpädagogik.
Für Pinkert stehen Transformationsprozesse im Zentrum der Theaterpädagogik und die Frage, welche transformativen Wirkungen die Transformationsprozesse des Materials in der Produktion von Theater auf die Darsteller haben. Kennzeichnend für theaterpädagogisches Arbeiten sei das Ausgehen von auf verschiedene Weise generiertem Material und nicht mehr die Inszenierung einer dramatischen Textvorlage. Dabei stelle sich die Frage, in welcher Weise sich Produktionsprozesse dieser Art von Theater strukturieren und untersuchen ließen. Der Bezug auf das Alltagsleben in diesen Eigenproduktionen sei immer auch ein Bezug auf „gedeutete Wirklichkeit“. Dabei kämmen strukturell unterschiedliche Erfahrungshorizonte von Spielleitung und Gruppe zusammen, „die mit (institutionell geregelten) Machtverhältnissen einhergehen.“(73)
Nach Luserke stellten „’sich erst nach praktischen Improvisationen auf der Bühne allmählich inhaltliche Zielvorstellungen“ ein. (74) Vollständige Transformationsprozesse im Hinblick auf Theater sieht Pinkert vor allem im Lehrlingstheater und innerhalb der Berliner Lehrstückpraxis in den 1970er Jahren.
Für die 1990er Jahre sieht Pinkert eine erneute intensive Hinwendung zum Alltag und eine starke Orientierung der Theaterpädagogik am professionellen, avantgardeorientierten Theater. Damit einher gehend würden die jeweiligen Leitbegriffe „Reales“, „Biografie“, „Ort“ und „Forschung“ zum Gegenstand theatraler Transformationsprozesse gemacht. (76) Sich auf Andreas Kotte beziehend formuliert Pinkert eine „handlungsorientierte Theaterdefinition“, die dadurch gekennzeichnet sei, das Alltagserfahrungen hervorgehoben würden und das Theaterspielen konsequenzvermindernd sei. (76) Erkenntnisse darüber finden sich über geronnene Erfahrungsweisen, die sich in Künstlertheorien und umfassenden Projektdokumentationen manifestierten.
2. Fachpraxis und Methoden
Dietmar Sachser: Theaterspielflow. Flow als ein künstlerischer Gestaltungsmodus an der Nahtstelle von Theoriebildung und Praxis der Theaterpädagogik
Sachser kritisiert Hentschels Definition des Dazwischen als substantielle ästhetische Kategorie als unzulänglich, um das Phänomen das Theaterspielflows zu ergründen. Einen entscheidenden Impuls zur Herstellung von Theaterflow sieht Sachser in einer „optimal herausfordernden Aktivität.“ (83) Aus diesem Erleben einer gesteigerten Wahrnehmung erfahre „das Individuum einen Zuwachs an Kompetenz.“ (83) Theaterspielflow sei gebunden „an das Gelingen von außerordentlich herausfordernden schöpferischen Prozessen.“ (84) Insofern gehe es nicht mehr um die Kategorie des „Dazwischen“, sondern viel mehr um die Kategorie eines „Darüber stehen“. Das „Und“ ersetze das „Dazwischen.“ Gegensätze und Polaritäten fielen zusammen. Widersprüchlichkeiten, Unentschiedenheiten und Zwischenräume lösten sich auf. Im Theaterspielflow gelange dem Spieler das scheinbar Unmögliche: „Das gestaltende Herstellen einer harmonischen Kohärenz dieser Parameter.“ (85) Das „Dazwischen“ verflüssige sich und befördere auf diese Weise „persönlichkeitsbildende Prozesse.“ (84) und das Individuum erfahrene „einen Zuwachs an Kompetenz.“ (83) Die entscheidende Frage sei es, wie man Theaterspielflow initialisieren kann.
Sachser identifiziert zwei Einflussgrößen. Erstens ein schöpferisches Klima, eine ablenkungs- und unterbrechungsfreie Arbeitsatmosphäre, Die einer Aufmerksamkeitsfokussierung förderlich ist. Zweitens die Aktivierung der Spieler: „ Aktivation bezieht sich nicht im engen Sinne auf ‚Erregung’ (auf die Erhöhung der Herz- und Atemfrequenz), sondern kann sich beispielsweise gezielt auf die Aneignung körperlicher Konditionen und Fähigkeit, auf die Schärfung der Sinne und des Reaktionsvermögens, auf die Präzision des körperlichen oder sprachlichen Ausdrucks ohne auf die Vertrauensbildung zwischen den Spielern richten. Aktivierung kann ferner durch Rituale entstehen.“ (86) Beide Einflussgrößen bildeten die Voraussetzung für eine Aufmerksamkeitszentrierung und Konzentration, zu der viele Künstlertheoretiker Konzepte entwickelten.
Sich auf Spolin beziehend beschreibt Sachser die Elemente, die einen schöpferischen Schaffensprozess strukturieren: „ Eine äußere Struktur entsteht durch die Aufteilung komplexer Arbeitsschritte in Abschnitte, in begrenzte, überschaubare Etappen. Analog hier zu sind es zeitlich nahe liegende, erreichbare Teil- und Etappenziele, die Handlungsspielräume überschaubar machen und das Handeln strukturieren. Innerhalb dieser begrenzten Einheiten sind es Orientierungsmarken, wie zum Beispiel (Improvisations-) Regeln, Spielvereinbarungen, durch dramatische Vorlagen festgelegte Szenenabläufe bis hin zu konkreten Handlungsverabredungen.“ (88) Weiterhin sei eine angemessene Feedbackkultur sei für diese Struktur unentbehrlich.
Theaterspielflow könne nur entstehen, solange es brauchbare Unsicherheit gebe. „Alles Ungewohnte und Unbekannte, neue Problemstellungen, die Erhöhung des Schwierigkeitsgrades, situativer Wettbewerbscharakter, Momente der Überraschung, der Unberechenbarkeit, des Risikos etc. bergen unsicherheitsbildende Potenziale. Diese dienen jedoch nur dann der Entstehung und Aufrechterhaltung des Theaterspielflows, wenn die damit verbundenen Herausforderungen als bewältigbar erlebt werden und die daraus resultierenden Anforderungen dem individuellen Fähigkeitsgrad entsprechen. Darüber hinaus erfordert gerade dieser Aspekt ein hohes Maß an Vertrauen und sozialer Harmonie unter den Spieler. […] Mit zunehmender Erfahrung und da akkumulierten Handlungskompetenzen sind die Spieler mehr und mehr in der Lage, sich nicht nur mit den vorgegebenen Unsicherheiten auseinande zusetzen, sondern selbstständig neue Unsicherheit zu finden beziehungsweise Unsicherheit selbstständig zu entwickeln. Kreativitätsforschung hat gezeigt, dass nicht nur das Lösen von Problemen für schöpferisches Gestalten von Bedeutung ist, sondern auch das Finden und Aufwerfen neuer Probleme.“ (90)
Gerd Koch und Joachim Wondrak: Theater in sozialen Feldern
Die Autoren identifizieren als Merkmale eines Theaters in sozialen Feldern die Mobilisierung von Selbstheilungskräften, die Persönlichkeitsförderung, die Stärkung des Selbstwertgefühls und die Ich-Findung. Dabei sind die Hauptmotive künstlerische Selbsttätigkeit und sozialpolitisches Engagement in gleicher Gewichtung. Teilnehmerorientierung und ein Kompetenzansatz Liegen der Arbeit zugrunde.
Hajo Kurzenberger: Der kollektive Prozess der Theaterpädagogik
Kurzenberger stellt fest, dass für die Theaterwissenschaft das Feld des Theatermachens als Kollektiver Prozess des Theaters lange tabu war. Dies beginne sich zu ändern. Ästhetische Praxis und soziale Wahrnehmung seien in der theaterpädagogischen Arbeit immer miteinander verknüpft, um herauszufinden „wo Stärken und Schwächen seiner Teilnehmer am besten zum Zuge kommen.“ (102) Von Anfang an sei die Selbsttätigkeit von kleinen und größeren Gruppen innerhalb des Gesamtprozesses wichtig, auch die Spielleitung könne ein Kleinkollektiv sein. Die Abschaffung des Spielleiters im gelungenen Gruppenprozess sei deshalb die zwingende Folge.
Mira Sack: Didaktische Radiale. Reflexionswege für die Theaterpädagogik
Eine Theaterpädagogische Didaktik findet ihre Rahmung im Zusammenspiel von Lerngegenständen, Subjekten und Vermittlungsweisen. Diese gelte es unter die Lupe zu nehmen. „In diesen Begegnungen werden Zielvorstellungen von Bildung zu einer je aktuell miteinander er- und gelebten Kultur, die Spielräume des Unkalkulierbaren paradigmatisch zur Praxis machen.“ (107) Welcher Umgang mit dem Körper eine Probenpraxis begleite und wie diese Vorgänge in szenischer Prozesse übersetzt würden, sei zu untersuchen. Dabei komme der Persönlichkeit und Erfahrung, dem Theaterverständnis und Reflexionsvermögen der Theaterpädagogen besondere Bedeutung zu. Ansonsten veröde die Praxis in mechanischer Anwendung stereotyper Methoden oder in beliebigen Handlungschoreografien (vgl. 109).
Reiner Steinweg: Lehrstückspiel als Gegenstand der Friedensforschung
Steinweg geht der Frage nach, ob das strukturierte Spielen von Brechts Lehrstücken der Erziehung von Jugendlichen ohne eine quälend moralisierende Belehrung zur Sensibilität im Hinblick auf Gewalt und Konflikt und Empathie dienen kann, die als lustvoller und spannender Akt erlebt wird.
Kristin Wardetzky: Erzählen
Wardetzky hält ein Plädoyer für die Unverzichtbarkeit des Erzählens für die Theaterpädagogik. Erzählen sei Community building art (Haggarty). Erzählen verbinde. Erzählen provoziere Erzählen. „Mit Stimme, Körper und Mimik schaffe der Erzähler einen „’Referenztext’“, mit dem er den verbalen Text werte, erweitere, kommentiere, und dieser wiederum gewinne erst im situativen Einvernehmen mit dem Publikum seine (variable) Wort-Gestalt.
Norma Köhler: Biografisches Theater
Köhler stellt bei biografischem Theater fest, dass die künstlerischen Ansprüche der politischen Dimensionen der Teilhabe an Öffentlichkeit nachgelagert sein. Im theaterpädagogischen Diskurs gehe es um notwendige spezifische Spielleitungskompetenzen und Interventionstechniken, „um Problematiken im Arbeitszusammenhang, (Emotionale Bewältigung, Stigmatisierung, Ethiküberschreitung) zu begegnen.“ (125) Im Fortgang eines Produktionsorientierten Theaterprojekts solle insbesondere die Dichotomie von Rollen- und die Selbstdarstellung reflektiert und produktiv gemacht werden. „Die Bezeichnung Minimaldifferenz könnte vor diesem Hintergrund als theoretischer und didaktischer Schlüsselbegriff für Biografisches Theater fungieren und diskutiert werden. Sie steht für die Wahrnehmung Erfahrung zwischen Alltag und Theater und dezidiert zwischen biografischen Geprägtsein und Darstellung, die dem Biografiespieler in einem engen Wechselspiel von Vertrautheit und Distanzname ästhische und biografische Lern- und Bildungsmöglichkeiten vermittelt. (128)
Marie-Luise Lange: Performance zwischen Aufführungskunst und kommunikativer Praxis
Lange skizziert die historische Entwicklung der Performance-Kunst und zeigt an Beispielen, wie Site Specific Performances im Sinne von öffentlicher Feldforschung und als soziale Interaktion zwischen Künstlern und Bürgern gesellschaftliche Systemschwachstellen aufzeigen, die auf Brechung eines Alltagsverhaltens der stillen Duldung und des Nicht-Agierens zielen. (136)
3. Arbeitsfelder
Gerd Taube: Jugendtheater und Jugendkultur
Taube skizziert die historische Entwicklung des Jugendtheaters seit Beginn des 20. Jahrhunderts.
Es kann nie nur um Inhalte gehen, Inhalt existiert nicht pur. Uta Plate im Gespräch mit Judith Griese über ihre Workshops an der Schaubühne Berlin
Plate skizziert im Interview Ihre Arbeitsweise mit Schüler in Vorbereitungs-Workshops für Aufführungen der Schaubühne.
Kerstin Daiber und Sarit Streicher: Kommunale Theaterpädagogik – Zwischen Jugendhilfe und Kunst am Beispiel des jungen theaters konstanz
Die Autorinnen beschreiben die „gewinnbringende“ Zusammenarbeit des Konstanzer Theaters mit Schule.
Thomas Lang: Interest me! theaterpädagogische Projektarbeit und die „interessierte Öffentlichkeit“
Lang skizziert die zunehmenden vielfältigen Aktivitäten an professionellen Theater im theaterpädagogischen Bereich. Er warnt davon, das theaterpädagogische Praxis nicht im Selbstreferenziellen nur um Kunst kreisen dürfe, um selbstbezügliche Biografien des Künstlers und Kunstschaffender und um Beschwörungen und Verheißungen des Ästhetischen gehen dürfe. Dann verbleibe das Spiel für sich. Das Theater der Gegenwart sei aber ein Theater der Wahrnehmung und der Mitteilung, und erst, wenn theaterpädagogische Projektarbeit diesem Anspruch folge, emanzipieren Sie sich zur Kunstproduktion und würde eine interessierte Öffentlichkeit ansprechen. „Um Gegenwart zu beschreiben, gilt die Konzentration auf das Thematische auf der Bühne, auf die Wirklichkeit und das Dokumentierte.“ (164)
Ole Hruschka: Theaterpädagogik in der Schule
Hruschka beleuchtet in seiner Bestandsaufnahme schlaglichtartig drei Bereiche theaterpädagogischer Arbeit in der Schule: erstens die Inhalte, Methoden und Ziele des Schulfaches Darstellendes Spiel/ Theater, zweitens die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Theater und drittens die bildungspolitische Debatte.
- Theater als Schulfach: Inhalte, Methoden, Ziele
Etwa 20 Jahre hat es gedauert, das Schulfach Darstellendes Spiel/ Theater durch Curricula in den verschiedenen Bundesländern formal zu verankern und für ganz Deutschland Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) im Fach Darstellendes Spiel bereitzustellen.
Dem Föderalismus geschuldet bildet das Unterrichtsfach Darstellendes Spiel/ Theater jedoch in Begrifflichkeit, inhaltlicher Ausgestaltung und Gewichtung den Flickenteppich von sechzehn unterschiedlichen Bildungspolitiken der Länder und jeweiligen zunehmend sich ausdifferenzierenden Schulprofilen ab (vgl. die entsprechenden Bildungspläne, Curricula, Handreichungen usw. der Länder).
Vorreiter für ein reguläres schulisches Theaterangebot für alle Schüler in allen Jahrgangsstufen ist Hamburg. Hier hat man sich auch bereits von dem aus strategischen Gründen gewählten Namen Darstellendes Spiel verabschiedet und nennt das Unterrichtsfach nun Theater.Mit dem ursprünglich eingeführten und noch am häufigsten verwendeten Begriff Darstellendes Spiel wollte man sich vom professionellen und vom Amateur-Theater abgrenzen. Darüber hinaus sollte der Begriff Darstellende Spiel die Dominanz der praktischen Arbeit im Gegensatz zur Verwissenschaftlichung der beiden anderen ästhetischen Fächer Kunst und Musik hervorheben.
Ein weiterer Dissens um die Benennung des neuen Unterrichtsfaches zeigte sich in der Diskussion, ob das Darstellendes Spiel eher in dienender Funktion als eine Methode sozialen Lernens zu benutzen sei oder der Schwerpunkt auf der künstlerisch-ästhetischen praktischen Tätigkeit und der Reflexion der Kunstform Theater liegen solle. „In einem zeitgemäßen Theaterunterricht sind die körperlich-expressiven Dimensionen des Theaterspielens, die Ausbildung von Zuschaukunst und die Auseinandersetzung mit den theoretischen Implikationen zeitgenössischen Theaters eng aufeinander bezogen.“ (168) Die Einführung eines regulären Unterrichtsfaches Theater/ Darstellendes Spiel wurde unterstützt von entsprechenden didaktisch fundierten Lehrwerken und Schüler-Bücher, zumeist aus der Feder von Theater-Lehrkräften. Dem Kursbuch Darstellendes Spiel gelinge dabei das Kunststück, „durch ein mehrstufiges, modularisiertes Aufbauprogramm […], den Richtlinien der einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abiturfach Darstellendes Spiel gerecht zu werden.“ (168) Alle Publikationen forderten und forderten die Eigeninitiative tätig und die Selbstverantwortung der Schüler bei ihrer praktischen Theaterarbeit und zielten dabei zugleich auf die Vermittlung von Sachkompetenz. Damit zeige sich ein deutlicher Schritt in Richtung fachdidaktischer Professionalisierung. Hruschka hebt hervor, das die Arbeit mit den Schülern im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel im wesentlichen um einen „beständigen Wechsel[…] zwischen praktischem Tun und gemeinsamer Reflexion des er- und bearbeiteten Materials kreist.“ (170) Der experimentelle Charakter des Unterrichtsgegenstandes habe fiefgreifende Konsequenzen für die Organisation und Durchführung des Unterrichts. Daher könne es nicht DIE Didaktik des Theaters geben, und die jeweilige Methodik müsse sich aus dem Gegenstand selbst beziehungsweise aus den Gesetzmäßigkeiten der Kunstform Theater ableiten.
Hruschka favorisiert eine performanceorientierte Arbeitsweise in einem offenen Forschungs- und Rechercheprozess wie sie von Pfeiffer beschrieben wurde. Für die Voraussetzungen und Kompetenzen, die auf Seiten der Theater-Lehrkraft einzubringen seien, formuliert der Autor folgendes: „Die Rahmung und Steuerung entsprechender Prozesse braucht künstlerisches Geschick und pädagogisches Feingefühl. Theater-Lehrer bewegen sich also meistens im Spannungsfeld zwischen pädagogischem Auftrag künstlerischer Autonomie. Dabei nehmen sie in ihrer Funktion als Spielleitung auf den verschiedensten Ebenen Verantwortung war. Sie stellen im Idealfall die organisatorischen Bedingungen für den Proben und Aufführungspraxis sicher und prüfen szenische Verfahren auf ihre (künstlerische) Adäquatheit; sie sorgen für ein ensembleorientiertes Spielprinzip und transparente Bewertungskriterien; sie moderieren assoziative Gespräche und initiieren themen- und situationsgerechte Improvisationen – und Sie helfen schließlich, ein konzeptionelles Gerüst aus schlüssigen, bildhaften Grundsituationen zu erstellen bzw. die verschiedenen Einfälle unter dramaturgischen Gesichtspunkten zu verdichten. Vor allem sind sie mitverantwortlich dafür, dass der Theaterprozess von kollektiven Suchbewegungen und Entscheidungsfindungen und getragen wird. Insbesondere für gelingende Eigenproduktionen braucht es den kontinuierlichen Austausch, damit das Ergebnis sich nicht in einer disparat-beliebigen Materialsammlung ohne roten Faden verliert.“ (171)
Da zum Kerngeschäft theaterpädagogischer Arbeit auch die Rezeption von Aufführungen gehöre, solle diese auch im Theaterunterricht einen angemessenen Platz erhalten. Es gehe dabei nicht um ein richtiges Verständnis eines Stückes, sondern darum Schülern Möglichkeiten zu eröffnen, Theater als ergebnisoffenen Interaktionsprozess und vieldeutiges Kommunikationsangebot zu rezipieren. Schüler sollte die Möglichkeit eröffnet werden, z.B. über die Erstellung von Erinnerungsprotokollen, spezifischen Techniken des kreativen Schreibens und Erinnerungsprotokollen eine Anschlusskommunikation zu generieren, die ihnen hilft, „den eigenen flüchtigen Theatererfahrung zu trauen und sie in Worte zu fassen.“ (173)
- „Perspektivenwechsel“: Künstlerischer Aktivitäten zwischen Schule und Theater
Hruschka beschreibt an einigen ausgewählten Beispielen erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen professionellem Theater und Schule und stellt „eine ‚Sehnsucht’ nach grenzüberschreitenden Projekten und Erfahrungen fest.“ (173), die sich im Verlassen traditioneller Schulspielorte (Aula, Theaterraum) zeige. Das gesamte Schulgebäude werde zum Aufführungsraum (vgl.auch Kursbuch Darstellendes Spiel Grundkurs 1 „Körper, Raum und Improvisation“) und im Sinne des site-specific, wie es Wenzel seit Jahrzehnten praktiziert, wird der gesamte öffentliche und soziale Raum zum Spielort (vgl. B.E.S.T. und die Überarbeitung des Aufbaukurses 2 „Zeitgenössische Theaterformen“ des Kursbuch Darstellendes Spiel, die diese Entwicklung auf Schülerbuchebene abbilden).
- Bildungspolitische Rahmenbedingungen: Zukunftsfragen des Schultheaters
Einige bedeutsame Fragen stellen sich in Bezug auf die Zukunft das Theaterspielens in der Schule: Kann sich ein Unterrichtsfach Theater gegen einen europaweiten Prozess der Vereinheitlichung von Bildungsstrukturen (vgl. Bologna-Prozess) mit systematisch geordnetem und durchgängig evaluierbarem Wissens- und Kompetenzerwerb behaupten? „Ist Eine fruchtbare Wechselbeziehung Zwischen künstlerischer Praxis und Reflexion im Rahmen der geforderten ‚Kompetenzziele’ und ‚Qualitätsstandards’ überhaupt möglich?“ (177) So unüberschaubar wie die Vielfalt dessen, was als Theaterspielen in Schule praktiziert wird, ist die Qualifizierung der entsprechenden Spielleitungen beziehungsweise Theater-Lehrkräfte. An einer Hauptforderung habe sich die Weiterentwicklung des Unterrichtsfaches Theater zu orientieren: Das Angebot Theater zu spielen müsse bereits möglichst frühzeitlig und für alle Schüler bereitstehen (vgl. dazu auch Theater in der Grundschule. Wie aus (fast) nichts Theater wird).
Maik Walter: Theater in der Fremdsprachenvermittlung
Walter beschreibt den Nutzen theaterpädagogischer Methoden für das Erlernen von Fremdsprachen. Dabei werde das ästhetische Lernen durchaus ernst genommen, da ein Auftritt vor Publikum „essenzieller Teil des dramapädagogischen Prozesses“ sei. (186)
Wolfgang Sting: Interkulturelles Theater
Interkulturelles Theater, so Sting, beschäftige sich ganz allgemein mit dem Verhältnis, der Wechselwirkung und dem Austausch der Kulturen. Professionelles Theater habe die Entwicklung der letzten Jahrzehnte verschlafen, während Kinder- und Jugendtheater in diesem Bereich deutlich aktiver gewesen sein. Die Zahlen sprechen für sich: in Großstädten liegt der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bereits über 50 %. Dass sich Theaterpädagogik je in einem bedeutsamen gesellschaftlichen Feld engagiert ist offensichtlich. Und dass bei der Darstellung von biografischen Erfahrungen keine platte Selbstdarstellung herauskommt, verhinderten professionelle Anleitung und Regie.
Versteck dich nicht! Royston Maldoom im Gespräch mit Dietmar Sachser
Maldoom spiegelt in diesem Interview ein bei Künstlern häufig anzutreffendes Verhalten. Alles Pädagogische wird radikal ohne theoriebasierte Argumentation und ohne Diskurs abgelehnt und denunziert: „Ich habe mich niemals ausgiebig mit Tanz- oder Pädagogiktheorie beschäftigt. Ich empfand die Theorie immer als einschränkend. […] Was ich mache, tat ich instinktiv.“ (198) Maldoom gründet seine Kompetenz auf seine eigene umfangreiche Erfahrung und Praxis. Seine Arbeit sei „in erster Linie nicht pädagogisch.“ (199). Im gleichen Absatz reklamiert er aber ein grundlegendes pädagogisches Prinzip für sich, nämlich „Begeisterung“ bei seinen Schülern zu wecken und Ihnen eine „Vision“ zu vermitteln. Dabei ginge es ihm im wesentlich um „Verhaltensänderungen, mehr Selbstbewusstsein und Selbstachtung, weniger soziale Ausgrenzung, mehr Integration.“, also grundlegende pädagogische Ziele. Auch seiner Gegenüberstellung: „[…] ich mache keine integrative Arbeit.“ und „Ich mache Choreografien, Theater, Kunst, Tanz.“ (199-200) zeigt eine eigentlich überflüssige Disparität in seiner Argumentation, die er im folgenden Satz sogar selbst wieder auflöst: „Ich glaube, wenn ich das als Künstler tue, kommt die Integration von ganz alleine.“ (200)
Im weiteren Verlauf des Interviews formuliert Maldoom weitere Kernelemente einer modernen Pädagogik: „Lehren bedeutet, Begeisterung für etwas zu teilen. Es geht um das Gleichgewicht zwischen vorhandenen Fähigkeiten und Herausforderungen. […] Es geht auch nicht um Unterrichtsplanung, sondern um Beobachten, Erkennen und Reagieren.“ (200), ganz so, als ob eine sinnvolle Unterrichtsplanung ohne sorgfältiges Beobachten, Erkennen und Reagieren möglich wäre. „[…] Mach dir unbedingt vorher einen Plan, bevor du den Probenraum betrittst. Aber sei jederzeit bereit, diesen Plan zu verwerfen. […] Disziplin ist sehr wichtig. Es muss Regeln geben. Es braucht Disziplin für die Kunst, für das Leben wie für das Überleben. Wollen wir junge Menschen zu einem persönlich erfüllten, kreativen Leben erziehen [sic!] , dann werden wir daran scheitern, sofern wir den Wert der Disziplin unterschätzen.“ (201)
Maldoom ist es wichtig, seine Schüler zu dem Punkt zubringen, „wo sie selbst die Kontrolle der künstlerischen Gestaltung übernehmen. Das ist der Transfer.“ (204) Wie sollte man ein modernes theaterpädagogisches Konzept besser auf den Punkt bringen? Also warum die ständige Denunziation des Pädagogischen? Oder haben wir es bei Maldoom und anderen Künstlern schlichtweg mit einem Theoriedefizit zu tun, wobei diese Leerstelle mit altbackenen und angestaubten Pädagogikvorstellungen vielleicht aus der unaufgearbeiteten eigenen Kindheit gefüllt wird?
Eva Renvert: Theaterpädagogik in Organisationen zwischen Unternehmenstheater und ästhetisch reflexive Abbildung
War es in Maldooms Interview ein erkennbares Theoriedefizit, so wünscht man sich in Renverts Aufsatz ein wenig Mehr an Auffütterung der Argumentation durch Praxiserfahrungen, die ja bereits in Buchform vorliegen (vgl. z.B. „Unternehmenstheater – Theatermethoden im Business“).
Katharina Kolar: Lehrlingstheater
Kolar skizziert die historische Entwicklung des Lehrlingstheaters bis hin zu aktuellen Projekten der Unternehmen dm, Alnatura und Budnikowsky. Bei allen Projekten stehe die Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund, die bei der Theaterarbeit ganz bewusst auf einer Verknüpfung zu beruflichen Tätigkeiten verzichtet, „und ganz und gar auf den ‚Mehrwert’ ästhetischer Bildung vertraut.“ (214)
In den folgenden Aufsätzen werden weitere theaterpädagogische Arbeitsfelder skizziert, beispielsweise „Theater mit alten Menschen“ (Ute Karl), „Kirche und Theater“ (Maren Schmidt), „Die Gedanken sind frei. Theater mit Strafgefangenen“ (Sandra Anklam), „Auch das Theater kann zum Gefängnis werden. Armando Punzo im Gespräch mit Nicole Gronemeyer.“, „Theater – Therapie“ (Dieter Kraft), „Theaterpädagogik in der Psychiatrie“ (Norbert Knitsch) und „Spielen, um zu leben – leben, um zu spielen. Ein Gespräch mit Gisela Höhne, Mitbegründerin und künstlerische Leiterin des „total verrückten Theaters Ramba Zamba.“
Den Sammelband beschließt eine Auflistung von „Ausbildungsstätten im deutschsprachigen Raum“ mit entsprechenden Informationen.
Der Sammelband zeigt ein breites Spektrum theaterpädagogischen Engagements und spiegelt eine lebendige Diskussion.