Rancière, Jacques 2015; Originalausgabe 2008: Der emanzipierte Zuschauer. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Richard Steurer. Wien: Passagen Verlag. 158 Seiten – Rezension
Der Zuschauer müsse in den magischen Kreis der theatralen Handlung eingeführt werden, „wo die Anwesenden etwas lernen, anstatt von Bildern verführt zu werden, wo sie zu aktiven Teilnehmenden werden, anstatt passive Voyeurs zu sein.“ (14)
Ausgehend von der Gegenüberstellung einer distanzierenden Haltung des Zuschauers, wie sie Brecht in seinem epischen Theaterkonzept forderte (nicht so bei seinen Lehrstücken!) und Artauds Theater der Grausamkeit verweist Rancière auf Platons „choreografische Gemeinschaft, […] wo niemand ein unbewegter Zuschauer bleibt, wo jeder sich im gemeinschaftlichen Rhythmus bewegen muss.“ (15) Theater werde so zu einer „exemplarischen Gemeinschaftsform“, einer „Gemeinschaft als Selbstgegenwart, im Gegensatz zur Distanz der Repräsentation.“ (16)
Inhalt
Der emanzipierte Zuschauer 11
Die unglücklichen Abenteuer des kritischen Denkens 35
Die Paradoxa der politischen Kunst 63
Das unerträgliche Bild 101
Das nachdenkliche Bild 125
Anmerkungen 153
Rancère greift eine Idee der deutschen Romantik auf, in der das Theater als eine Form der ästhetischen Verfassung von Gemeinschaft verstanden wurde, als Körper in Aktion, als Gesamtheit von Wahrnehmung, Gesten und Gebärden, die Gesetzen und politischen Institutionen vorausginge und sie damit vorforme als eine Zeremonie von Gemeinschaft nach dem Motto: Je weniger der Zuschauer nur zuschaue, umso mehr lebe er.
Das Theaterkollektiv „Fräulein Wunder AG“ hat scheinbar oder offensichtlich diese Form eines Konzeptes eines (vor)politischen Theaters in z.B. in ihrem Stück „Auf den Spuren von – Eine Reise durch die europäische Migrationsgeschichte“ (2010) > http://fraeuleinwunderag.net/?page_id=1427&lang=de) als ‚handelndes Theater’ modellhaft umgesetzt, in der die Haltung des Zuschauens aller Anwesenden eine neue Qualität erreicht und sich nicht in anti-emanzipativer Passivität erschöpft, sondern einer geschickten Dramaturgie einer spannenden pädagogisch durchdachten Lernprozesskonstruktion folgend alle in höchst gemeinschaftsbildende Aktionen, Handlungen, Rituale führt, in der das Individuum nicht aufgelöst wird und verschwindet, sondern sich in einer respektvollen Weise aufgehoben fühlen kann.
Das Theaterkollektiv hat damit ein Konzept umgesetzt und eine Form von Theater präsentiert, das die vierte Wand durchbricht und den Orchestergraben zuschüttet und Zuschauer-Teilhabe, Selbstgestaltung und Selbstpräsentation praktiziert, die nicht auf einer Ernennung von Laien zu Experten basiert, sondern von achtsamer Animation und Aufforderung Persönliches einzubringen, ohne es als authentisch zu plakatieren. Dabei stellen sich en passant tatsächliche authentische Momente von Selbstvergessenheit im Handeln mit anderen ein, denen sich Beteiligte erst später bewusst werden bzw. sie als solche im Nachhinein erkennen.
„Anstatt sich einem Schauspiel gegenüber zu stehen, sind sie von der Performance umgeben und werden in den Handlungskreis gezogen, der ihnen ihre kollektive Energie zurückgibt.“ (18) Theater stelle sich somit als Vermittlung dar, die ihre eigene Aufhebung ausrichte.
Ranciére verweist auf die herausragende Bedeutung des Erwerbs von Kompetenzen des Beobachtens und Vergleichens bei der Menschwerdung, die für eine (meist überlebenswichtige) Bewertung unabdingbar sind. Erst im Vergleich eines Zeichens mit einem anderen und der Feststellung der Differenz, der Differenzerfahrung (vgl. u.a. Hentschel (2010)), bilde sich ein Wissen um Bedeutung und Wert einer Wahrnehmung, die ihm erlaube, das Beobachtete/ das Angeschaute zu verifizieren. Von einem Unwissenden, der gerade die Zeichen erst erlernt, bis Gelehrten, der zur Hypothesenbildung in der Lage sei, „ist immer dieselbe Intelligenz am Werk, eine Intelligenz, die Zeichen in andere Zeichen übersetzt“ und vergleicht, „um ihre intellektuellen Abenteuer zu kommunizieren und zu verstehen, was eine andere Intelligenz ihr zu kommunizieren versucht.“ (20-21)
Ranciére verweist auf die herausragende Bedeutung des Erwerbs von Kompetenzen des Beobachtens und Vergleichens bei der Menschwerdung, die für eine (meist überlebenswichtige) Bewertung unabdingbar sind. Erst im Vergleich eines Zeichens mit einem anderen und der Feststellung der Differenz, der Differenzerfahrung (vgl. u.a. Hentschel (2010)), bilde sich ein Wissen um Bedeutung und Wert einer Wahrnehmung, die ihm erlaube, das Beobachtete/ das Angeschaute zu verifizieren. Von einem Unwissenden, der gerade die Zeichen erst erlernt, bis Gelehrten, der zur Hypothesenbildung in der Lage sei, „ist immer dieselbe Intelligenz am Werk, eine Intelligenz, die Zeichen in andere Zeichen übersetzt und die durch Vergleichen und durch Figuren verfährt, um ihre intellektuellen Abenteuer zu kommunizieren und zu verstehen, was eine andere Intelligenz ihr zu Kommunizieren versucht.“ (20)
Rancière hat in seinem Konzept des unwissenden Lehrmeisters die Rolle eines im theaterpädagogischen Prozess Führenden weiter ausdifferenziert. Der „unwissender Lehrmeister“ lehrt seine Schüler nicht sein Wissen (wie Herrig/ Hörner), sondern „trägt ihnen auf, sich ins Dickicht der Dinge und Zeichen vorzuwagen, zu sagen, was sie gesehen haben, und was sei über das denken, was sie gesehen haben, es zu überprüfen und überprüfen zu lassen.“ (21)
Der Theatermacher oder Regisseur wolle, dass seine Zuschauer dieses oder jenes sehen und fühlen. Dabei fielen Ursache und Wirkung zusammen. Die Botschaft solle so ankommen, wie sie gedacht ist. Das sei die „Logik der verdummenden Pädagogik“ (24). „Was der Schüler lernen muss, ist das, was der Lehrer in lehrt. Was der Zuschauer sehen soll, ist das, was der Regisseur, ihn sehen lässt. Was er fühlen soll, ist die Energie, die er ihm überträgt. (24)
Der Sinn des Paradoxons vom unwissenden Lehrmeister bestehe darin, dass der Schüler vom Lehrmeister etwas lernt, was der Lehrmeister selbst nicht wisse. Er lerne durch „die Wirkung der Lehrmeisterschaft, die ihn dazu zwinge, zu suchen und diese Suche zu verifizieren.“ (25) Aber er lerne nicht das Wissen des Lehrmeisters.
Die Emanzipation des Zuschauers beginne mit dem Einbezug dessen, was sie gesehen und gesagt, was sie gemacht und geträumt hätten. Es erschöpfe sich nicht in der vermeintlich gemeinschaftsbildenden gleichzeitigen Anwesenheit mit anderen (Schauspielern und Zuschauern) in einem Raum bei einer Aufführung, sondern in den Kreuzungen und Knoten, die erlauben „etwas Neues zu lernen, […] wenn wir erstens die radikale Distanz, zweitens die Verteilung der Rollen und drittens die Grenzen zwischen den Gebieten ablehnen.“ (28)
Rancière macht es sich mit seiner Behauptung, jeder Mensch sei ein Intellektueller (31) etwas einfach. Es erinnert an die unsägliche Rede, dass jedes Kind hochbegabt sei. Wenn er dann noch von einer Gleichheit zwischen Lehrern und Schülern ausgeht, zwischen denen es keine Wissensunterschiede gäbe, demzufolge der Schüler nichts vom Lehrer lernen nicht an seinen Erfahrungen partizipieren könne, dann liegt das weitab der Realität, in einer Theorie des Wunschdenkens, bestenfalls. Geschuldet mag diese Denkweise einem romantischen Nachtrauern seiner Zeit als marxistischer Agitator („Dieser biografische Umweg führt mich ins Zentrum meiner Absicht.“ (31)).
Dass er in seinem Denkansatz, in dem es undifferenziert nur DIE Pädagogik und DIE Lehrer gibt und MAN als Subjekte auftreten, dennoch ein progressiver Impuls sichtbar wird, zeigt sich in der andeutungsweisen Beschreibung eines Lernsetting, das den Schülern viel Raum gibt, eigene Erfahrungen zu machen, dass ein Ansatz von „durcheinanderzubringenden Rollenverteilungen“ (32) impliziert, der Wissens- und Kompetenzhierarchie zwischen Lehrer und Schüler als Folge nicht nur akzeptiert, sondern fordert, der nicht nur zulässt, sondern fordert, dass der Schüler den Lehrer (irgendwann) überflügeln kann und der Lehrer sich zufrieden zurücklehnen kann im Bewusstsein, seinem Schüler alle Möglichkeiten eröffnet zu haben, zu lernen, was er zu lernen vermag. Das schließt alle Möglichkeiten des Lernens ein, das Lernen am Vorbild, Modell und Muster Lehrer, das Lernen durch trial & error, durch Zufall, ohne Angst vorm Scheitern, in Ambiguität, in Solidarität, im konsequenzverminderten Improvisieren, Ausprobieren und Proben als Darsteller im Rollenspiel, als Akteur in der Performance, als Spielleiter in der Prozess, als Produktionsleiter in der Projektsteuerung, als Dramaturg bei der Gestaltung und in allen anderen beim Theaterspielen notwendigen Verrichtungen.
Er vergisst allerdings dass diese Lernsetting von jemandem kreiert und anfangs stärker, später weniger stark begleitet werden müssen, damit überhaupt ein Lernfeld vorhanden ist.
Die Schlusssätze seines Aufsatzes, seines Fazit und des Erkenntnisgewinns, mögen für sich sprechen: „Ich bin mir bewusst, dass man all dem hier sagen kann: Wörter, immer wieder und nichts als Wörter. Ich würde es nicht als Beleidigung verstehen. […] Die Phantasmen des fleischgewordenen Wortes und des aktivierenden Zuschauers zu verabschieden, zu wissen, dass die Wörter nur Wörter sind und die Schauspiele nur Schauspiele, kann uns helfen, besser zu verstehen, wie die Wörter und die Bilder, die Geschichten und die Performances etwas an der Welt ändern können, in der wir leben.“ (34)
Weiterführendes
- Geimer, Peter 2010: Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Kunst kommt nicht von Kundenbefragung. Warum sollte Partizipation denn schon Emanzipation bedeuten? Jacques Rancière widmet sich mit Schwung und Scharfsinn einigen Gemein- plätzen des gegenwärtigen Kunstbetriebs > http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/jacques-ranciere-der-emanzipierte-zuschauer-kunst-kommt-nicht-von-kundenbefragung-1999120.html
- Hentschel, Ulrike 2010, erste Auflage 1995: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. Uckerland: Schibri
- Liza 2013: “Der emanzipierte Zuschauer“: Eine Begriffsdefinition nach Jacques Rancière > http://imschlaglicht.blogspot.de/2013/08/der-emanzipierte-zuschauer-eine.html
- Prüwer, Tobias 2010: Der emanzipierte Zuschauer von Jacques Rancière > http://www.theaterforschung.de/rezension.php4?ID=1053&PHPSESSID=
- Quarti, Adi 2010: Der emanzipierte Zuschauer von Jacques Rancière > https://www.kritisch-lesen.de/rezension/der-emanzipierte-zuschauer
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