Entwicklung des „Baukasten theatraler Möglichkeiten Nr. 1 Rollen und Figuren.“
Die Rollen-Spiele des „Baukasten theatraler Möglichkeiten“ trainieren lustvoll theatrale Grund-Kompetenzen.
Ausgangspunkt eines jeden wissenschaftlichen Prozesses ist eine Beobachtung im weiteren Sinne.
Eine Beobachtung muss sich nicht zwingend auf einen praktischen Vorgang beziehen, sondern kann auch in der Wahrnehmung einer Aussage, einer Feststellung, einer Vermutung, einer Frage oder der Widersprüchlichkeit von Aussagen bestehen.
Diese Beobachtung wird auf ihren potenziellen Erkenntnisgehalt befragt, wobei sich der vermutete Erkenntnisgehalt an den (Erkenntnis-)Interessen des Wissenschaftlers bzw. seiner Organisation/ seines Chefs oder seines Umfeldes orientiert. Diesen Interessen wiederum liegen verschiedene mögliche andere, substanziellere Motive bzw. Bestrebungen zugrunde.
Lassen wir den idealistischen Fall einer uneigennützigen Wahrheitssuche einmal beiseite, dann zeigen sich die wahren Motive eines Forschers, die einmal ganz unverblümt als die menschlichen Triebkräfte schlechthin bezeichnet werden können: die Suche nach Anerkennung und Wertschätzung seiner Person und seiner Werthaltungen, Geld zu verdienen, Eitelkeiten zu bedienen und rechtzuhaben.
Natürlich wird vermutlich jeder Forscher mehr oder weniger den idealistischen Fall für sich reklamieren oder zumindest mit als Argument ins Feld führen.
So viel zum Start eines Forschungsprojektes und zur Nährung der Vermutungen, welche Motive mich bewogen, einen Trainings-Baukasten für theatrale Kompetenzen zu entwickeln.
Ausgangspunkt war meine Jahrzehnte lange wiederholte Beobachtung, dass die Schüler in meinem Theaterunterricht (Praxis!) meinen Ansprüchen in der Festigung der erworbenen und zu erwerbenden Kompetenzen nicht genügten.
Dadurch hatte ich mehr Arbeit, weil ich die mangelnde Nachhaltigkeit in dem von mir initiierten und gestalteten theatralen Lernprozess durch mehr Regie-Arbeit in der Erarbeitung eines Stückes glaubte ausgleichen zu müssen.
Weniger arbeiten zu wollen ist ein durchaus eigennütziges Motiv. Es ging auch darum, mir selbst die Arbeit zu erleichtern und natürlich auch mehr Anerkennung zu bekommen für bessere Aufführungen. Und auch bei Kollegen Anerkennung zu bekommen, wenn ich ihnen ein Modell für wirkungsvolleren Theaterunterricht würde anbieten können.
Natürlich kann man mit einer erfolgreichen Publikation auch Geld verdienen. So viel zur Offenlegung meiner Motive zum Start eines wissenschaftlichen Prozesses und der Erarbeitung z.B. dieses ersten Baukastens.
Nicht verschweigen möchte ich auch die in der Schlussphase des Erarbeitungsprozesses überraschend hineinplatzende erste Publikation einer Kartensammlung einer Kollegin, die dann doch von meinen Vorstellungen für ein solches Format (zum Glück) deutlich abwich. Eine nicht zu unterschätzende wettbewerbsorientierte Triebkraft, die eigene Publikation richtig gut zu machen.
Die Forschungsfrage konkretisierte sich schnell weiter zu einer Suche nach einer Möglichkeit eben die im Unterricht zu trainierenden Kompetenzen noch in anderen Zusammenhängen oder auf andere Weise zu üben, ohne dass der laufende Prozess der Stückeerarbeitung oder Inszenierung erheblich verlängert oder gar behindert würde. Bei wöchentlich zwei Unterrichtsstunden muss man sehr mit den Minuten geizen, was einem künstlerischen Prozess und dem Erwerb künstlerischer Kompetenzen ganz und gar nicht entgegenkommt.
Im nächsten Schritt begann eine Aufarbeitung des bereits vorliegenden Wissens und der Erkenntnisse zum Thema Üben und Festigung von frisch Gelerntem. Ein Rückgriff auf verschiedene Studieninhalte, angereichert mit den neusten Erkenntnissen aus der Hirnforschung, der Sportwissenschaft und weiterer naheliegender Forschungszweige, aus der eigenen Fort- und Weiterbildungsarbeit zur Qualifizierung von Lehrern zu Theaterlehrern und bereits erarbeiteten Theater-Schulbüchern bereitete das Feld – begleitet von zahllosen Feedback- und Theorie-Praxis-Schleifen und unzähligen Gesprächen mit anderen Theaterlehren, Ausbildern und Wissenschaftlern – auf dem die ersten Annahmen und Setzungen keimten, wie ein Lern- und Üb-System im theatralen Feld aussehen könnte, um die anzustrebende Wirkung hervorzubringen (Arbeitshypothesen).
Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Feststellung, dass die Besonderheit des theatralen Spiels auszeichnet, dass es sich um eine „höchst komplexe Form der Leibeskunst“ (Liebau 2009: 113) handelt, die nach Hentig die Menschen stärken und die Sache klären kann. Kopf, Herz und Hand (Pestalozzi) wirken zusammen, „denn der Mensch ist nunmal ein leibliches Wesen, das – auch bei den kühnsten abstrakten Gedanken – nicht aus seiner Haut kann, ein lebendiges, sterbliches Wesen, das zugleich auf Bewegung und auf Sozialität angelegt ist und das nur auf dieser doppelten Grundlage Kultur erzeugen und erhalten kann.“ (Liebau 2009: 113) Dieser Leib braucht Aufmerksamkeit und Pflege durch Üben. „Das hat auch etwas damit zu tun, dass eben nicht die Sprache das Medium der leiblichen Tätigkeit oder der leiblichen Erfahrung ist, sondern der Leib selbst. […] Tätigkeiten müssen getan, sie müssen bis zu einem befriedigenden Können und dann, bei komplexen Aktivitäten, zur Erhaltung und Weiterentwicklung dieses Könnens immer wieder geübt werden. Es gibt dabei keine Obergrenze einer objektiven Perfektion, sondern nur subjektive Maße. Selbst so scheinbar einfache Tätigkeiten wie das Gehen auf der Bühne bedürfen der regelmäßigen Übung: die Kompetenz steckt hier eben nicht nur im Kopf, sie steckt in den Beinen und Füßen, im Bewegungsablauf, in der Atmung etc.“ (Liebau 2009: 114f)
Verschiedene Anforderungen an dieses Übungs-System sollten erfüllt, zumindest berücksichtigt werden. Dabei galt es zunächst ein Übungs-Format zu erarbeiten, das den Widerspruch zwischen dem immer gleichen Üben (wie beim Vokabellernen) grundlegender theatraler Kompetenzen, also dem häufigen Wiederholen eines Vorganges, um bestimmte Verhaltens- oder Bewegungsmuster einzuschleifen oder nachhaltig zu verankern, der schnell zur Ermüdung und Langeweile führen kann – der damit kontraproduktiv ist – und lernförderlichen, immer wieder neue Begeisterung und Motivation freisetzenden Impulsen überwindet.
Episode
Im Rahmen meiner Ernennung zum Oberstudienrat in den 1990er Jahren hielt ich eine sog. Vorführstunde vor dem entsprechenden Gremium. Ich dachte mir, es sei eine gute Gelegenheit zu demonstrieren, welche Qualitäten das Unterrichtsfach Darstellendes Spiel bietet und entschied mich für eine entsprechende Übungsstunde, in der ich natürlich den Fokus nicht auf die geistige, sondern die körperliche Arbeit gelegt hatte; selbstverständlich mit einer einer entsprechenden kurzen Begründung der Stunde für die Schüler und einer sehr kurzen Reflexion der Arbeit am Ende der Stunde. In der Nachbesprechung meiner Vorführstunde hatte ich große Mühe, die vom beurteilenden Gremium gestellte Fragen nach den jeweiligen ausführlichen Begründungszusammenhängen der Übungen, deren Besprechungen mit den Schülern und den daraus abzuleitenden unterrichtlichen Zielen bzw. Erkenntnissen nebst Hausaufgabe zu beantworten. Die Fragesteller hatten ihrerseits große Mühe zu begreifen, dass es in dieser Stunde nicht schwerpunktmäßig um mentale Arbeit ging, sondern um Körperlichkeit und leibliches Lernen.
Die grundlegenden theatralen Kompetenzen, die mit dem Baukasten im Theaterunterricht geübt werden können, wurden im nächsten Schritt ermittelt. Sie sind abgeleitet aus den gültigen Curricula, den Bildungsstandards und dem, was theatrales, darstellendes Spiel wesentlich bestimmt:
1. Rollen-Spiele, einen Vorgang körperlich darstellen, performen
2. Grundlegende Gestaltungsmittel benutzen (Ort, Motiv, Gefühl)
3. Grundlegende Techniken benutzen (Auftritt, Abgang, Präsenz, Improvisation, peripherer Blick, Status, retardierendes Moment usw. – siehe dazu das Glossar des Baukastens, Kommentarheft, S. 14)
4. Grundlegende Haltungen und grundlegendes Verhalten der am theatralen Setting Beteiligten (Respekt, Achtsamkeit, Feedback-Regeln einhalten, den Prozess selbstständig/ eigenverantwortlich steuern usw.)
Theatrale Kompositionsmethoden und ästhetische Gestaltungskategorien spielen im ersten Baukasten noch keine besondere Rolle. Ebenso Postdramatik und De-Konstruktion. Sie sind folgenden Baukästen mit höherem Anspruchsniveau – auf dem ersten Baukasten aufbauend – vorbehalten.
In einem letzten Schritt galt es nun diese grundlegenden Kompetenzen in ein Übungssystem mit möglichst vielen verschiedenen(!) Übungsgelegenheiten durch entsprechende Impulskarten zu bringen.
Daraus entwickelte ich das Set von vier mal fünfzig Spielkarten:
• 50 Rollen
• 50 Orte
• 50 Gefühle bzw. Eigenschaften
• 50 Motive
und 14 Impulskarten (differenziert nach Anfängern und Fortgeschrittenen), wobei jede Impulskarte durch unterschiedliche Statusangebote zwei Impulse geben kann.
Es ergeben sich demnach grob überschläglich:
50 * 49 * 48 * 47 * 14 * 2 = 154.761.600 Übungsvarianten.
Nicht mitgerechnet sind alle von einer Spielgruppe über das Angebot dieses Baukastens hinausgehenden selbst erfundenen Anregungen.
In einer Doppelstunde kaum zu schaffen.
Nach der Erstellung von zwei Prototypen und einigen Testläufen mit Schülern, die entsprechende Änderungen nach sich zogen, wurde der Baukasten Ende 2014 publiziert. Erstes Feedback über die Nutzung durch Theaterlehrer in Theatergruppen wird bereits gesammelt für die nächste Theorie-Praxis-Schleife und für eine konstruktive Weiterentwicklung.
Ein weiterer Schritt könnte eine entsprechende Studie über die Erfahrungen ausgebildeter Theaterlehrer mit diesem ersten Baukasten in ganz bestimmten und vorab zu definierenden Lerngruppen, Schulformen usw. sein.
und zum Fortbildungsangebot dazu.
Weiterführendes
- Liebau, Eckart/ Klepacki, Leopold/ Zirfas, Jörg (2009): Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. Weinheim und München: Juventa > Rezension
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