Herrig, Thomas A./ Hörner, Siegfried 2012: Darstellendes Spiel und Theater. Braunschweig: Schöningh. 320 Seiten – Rezension
und
Herrig, Thomas A. 2012: Darstellendes Spiel und Theater. Lehrerband. Braunschweig: Schöningh. 324 Seiten und CD – Rezension
Herrig/ Hörner wollen mit ihrem Material Hilfestellung geben bei „der abwechslungsreichen Gestaltung des Unterrichts“ (Methodenwechsel, Auflockerung, Verschriftlichungen, Tafelbild, Lückentext, tabellarische Auflistungen, Protokoll führen, Wissen erwerben, Wissen überprüfen, Wissen benoten, usw.), der von einer Art Sportsgeist getragen wird („Mannschaft“, Schlachtruf in der ersten Stunde einüben: „Jetzt geht’ los!“ (Lehrerband: 8)
Hier deutet sich bereits an, was sich in der folgenden Analyse umfänglicher bestätigen wird, wenn es um die Beschreibung und Umsetzung dessen geht, was Herrig/ Hörner unter Theater als Unterrichtsfach verstehen: eine formal-pädagogische Engführung eines verkürzten professionellen Theaterbegriffs als Lernthema.
Die Autoren haben große Mengen Informationen als Lernstoff angehäuft, die aber keiner Systematik einer modernen Didaktik des Theaters folgen. Dieser Lernstoff „Theater“ wird als ‚bunte Mischung’ von Texten, Grafiken, Fotos usw. als „’Kompendium’“ und „Nachschlagewerk für alle wichtigen Themen“ (Lehrerband: 9) deklariert, den sich die Schüler mit Hilfe aller gängigen Methoden eines formalen, traditionellen Deutschunterrichts aneignen sollen. Der beste Weg dazu sei, das Buch von vorne bis hinten durchzuarbeiten (Lehrerband: 11) In diese Akkumulation allen möglichen Wissens über Theater werden immer wieder Übungen – gemäß eines Methodenmixes – zur Auflockerung eingestreut, die oft nur einen formalen, selten einen theaterdidaktisch begründeten Bezug im Hinblick auf den Erwerb von Theaterkompetenzen zu dem zu erlernenden ‚Stoff’ haben (vgl. auch das Inhaltsverzeichnis).
Herrig/ Hörner empfehlen: „In diesem Buch wird die persönliche Anrede der Schüler („Du“) der förmlicheren („Sie“) vorgezogen. Das unterstützt die Bildung der für dieses Fach benötigten Vertrauensbasis von Schülern und Lehrern – darüber hinaus ist es auch innerhalb der ‚Zunft’ szenischer Künstler üblich.“ (Lehrerband: 8) Ob die bewusst gewählte (aufgezwungene?) vertrauliche Anrede „Du“ tatsächlich geeignet ist, eine Vertrauensbeziehung zwischen administrativ sanktionierten Statusunterschieden zwischen Lehrer und Schülern zu fördern, muss allerdings in Frage gestellt werden und sollte dem Gespür jeder einzelnen Lehrerkraft überlassen werden. Was in der „Zunft“ der professionellen Künstler üblich ist, muss im schulischen Bereich nicht hilfreich sein, es kann auch kontraproduktiv sein. Warum die Autoren in ihrem Buch trotz dieser Ankündigung die sachliche indifferente Form der Beschreibung gewählt haben, ist nicht nachvollziehbar. Diese Theaterverständnis konturiert sich weiter z.B. in den vierzehn Kriterien der „Bewertungskriterien zur unterrichtlichen Mitarbeit“ für die Schüler, die kein Kriterium für Theater enthalten. Hier ist die Frage zu stellen: Was lernen die Schüler durch Theaterspielen und über Theater? Was benotet die Lehrkraft tatsächlich? Darauf wird später noch ausführlicher einzugehen sein, wenn auch Theater-Fachinhalte abgefragt und als Wissen mit Lückentexten abgeprüft werden und der Stellenwert der praktischen Arbeit, der eigentlichen theaterpädagogischen Arbeit, untersucht werden. Eine Differenzierung in fachliche und überfachliche Lernziele bzw. entsprechende Kompetenzen finden sich nicht.
Herrig beschreibt im Lehrerband (als alleiniger Autor genannt) im Vorwort – unter Mitwirkung von Hörner – das Theaterverständnis, das vermutlich beiden Autoren zu eigen ist.
Als historische Begründung für das Theaterspielen in der Schule wird auf Huizingas „homo ludens“ zurückgegriffen und die Tatsache, dass „seit ewigen Zeiten […] Spiel und Spielen zum Menschsein“ gehörten und „das szenische Spiel seit der Geburtsstunde der Zivilisation ein Grundmuster menschlicher Kommunikation“ bilde. (Lehrerband: 7) Von da an entwickelte sich das komplexe Phänomen Theater. Bereits antiken Autoren sei die Macht des Schauspiels zur Erziehung bewusst gewesen. So sei es gekommen, dass Schultheater bereits im Mittelalter fester Bestandteil der Erziehung Jugendlicher geworden sei. In den letzten Jahrzehnten erinnere man sich wieder dieser Funktion und beschreibe heute wieder das Theaterspielen als mächtiges Bildungsmittel.
Die heutige Zeit sei gerade für junge Menschen bestimmt durch „Pflicht, Zwang, Leistungsdruck und Stress“, so dass Theater „den notwendigen Ausgleich“ gewähren und ein neues Verständnis für das Leben in der Gemeinschaft bieten könne. Theater fördere darüber hinaus „im Kontrast zu Konsum und Medienübersättigung Kreativität und nicht zuletzt Entschleunigung.“ (Lehrerband 7) Aus diesem Gründen werde das „’Darstellendes Spiel’ als Schulfach am Gymnasium […] konsequent in allen Bundesländern“ (7) angeboten. Außer, dass Herring hier irrt, zeigt sich in der Beschreibung des Verständnisses von Theater und Theaterspielen und der Funktion, die insbesondere Schultheater haben soll, dass beide Autoren Theaterunterricht primär in seiner dienenden Funktion als Erziehungsinstrument(!) für einen außerästhetischen Zweck sehen. Die Kunstform Theater wird in ihrer Bedeutung als nachrangig bewertet. Dieses Verständnis von Theater spiegelt sich von Anfang an in der gesamten Konzeption für Theaterunterricht, die zwar das spielerische Moment immer wieder anregt, letztlich aber dem traditionellen Lernen von Stoff unter autoritärer Führung des Lehrers den Vorrang einräumt. Damit erscheinen die beschriebenen spielerischen Impulse weniger als von der Lehrkraft bereitgestellte inspirierende Lernarrangements, um die Schüler in ästhetische Prozesse zu verwickeln und diese zu reflektieren, sondern eher als auflockerndes Beiwerk, dem keine Systematik zugrunde liegt. Auch wird die Struktur eines systematischen Kompetenzerwerbs nicht sichtbar. Dies liegt vermutlich auch an einer eher diffusen Kategorienbildung, in der das am professionellen Theater orientierte Rollenkonzept mit dem entsprechenden Schauspielertraining unkritisch von dem professionellen Theater auf das Amateurtheater übertragen wird (Lehrerband: 221-224). Die folgenden Beispiele differenzieren Herrigs/ Hörners Theaterverständnis und Konzept für ihre theaterpädagogische Arbeit bzw. für Theaterunterricht an einigen ausgewählten typischen Beispielen weiter aus:
- Beispielhafte Struktur einer Unterrichtsstunde
Die Schüler erhalten nach einer kurzen Vorstellungsrunde in der ersten(!) Stunde des Theater-Unterrichts eine umfangreiche inhaltliche Vorgabe in Form einer Liste mit 39 beliebigen(!) Theaterbegriffen und sollen diese Liste vervollständigen. Offen bleibt, nach welchen Kriterien diese Liste erstellt wurde und wann sie vollständig sein soll. Anschließend sollen die Schüler die Begriffe in Dreiergruppen vor der Gesamtgruppe pantomimisch präsentieren. Als Hilfestellung dürfen die Schüler „ein wenig in diesem Buch […] blättern.“ (14) Dann sollen „alle gemeinsam auf Basis ihrer Ergebnisse ein Glossar der Theaterfachworte“ erstellen. (14) Im nächsten Schritt wird zu einer weiteren Übungen zur gegenseitigen Vorstellung angeregt, wobei der Zusammenhang zur Arbeit vorher unklar bleibt. Anschließend sollen die Schüler als Gruppe möglichst schnell auf angesagte Verhaltensbeispiele wie „Wir gehen wie eine Marionette.“ oder „Wir sind ein Elefant im Porzellanladen.“ reagieren und sich entsprechend verhalten. (17) Es bleibt unklar, ob sie dies einzeln und jeder für sich oder als gesamte Gruppe tun sollen. Eine theaterdidaktische Begründung, warum die Schüler diese Übung nach der Erstellung der Begriffe-Liste machen sollen und in welchem Kontext sie beim Erwerb von Theaterkompetenzen steht, gibt es nicht.
In einem weiteren Schritt erhalten die Schüler Informationen („Grundbegriffe“) zum Thema „Ausdrucksträger.“ Das Gelernte wird mit Hilfe eines Lückentextes abgeprüft und mit Hilfe eines Bewertungsrasters benotet. (Lehrerband: 22-23) Diese Reihung „Übung“, „Übung“, „Übung“, „Übung“, „Grundbegriff“, „Text“, „Methode“, „Grundbegriff“ usw. (siehe Inhaltsverzeichnis) setzt sich bis zur Seite 298 fort. Die Lehrkraft erhält im Lehrerband keine Hinweise über eine Struktur oder die Dauer bestimmter „Module“, außer einigen wenigen unvermittelten Angaben zur Zeitdauer einer Erarbeitungsphase für ein Gedicht und den Hinweis, dass die „letzten zehn Minuten der Stunde […] in jedem Fall für die Präsentation der Gruppenergebnisse reserviert bleiben“ sollten. (Lehrerband: 24) Das ist eine Zeitangabe, die erfahrungsgemäß nicht annähernd ausreicht, wenn mehrere Gruppen präsentieren, die entsprechendes Feedback erhalten sollen. Als weitere Hinweise zur Dauer der Module geben Herrig/ Hörner pauschal an, dass „für jede Aufgabe ein fester Zeitrahmen gelten“ soll (9). Dieser wird aber im Folgenden nicht benannt. Dieser Zeitrahmen solle „bei Bedarf flexibel gedehnt werden […], aber niemals mehr als das Doppelte der ursprünglich veranschlagten Zeit.“ beanspruchen. (9) Diese willkürliche Setzung ist nicht nachvollziehbar. Bei Zeitüberschreitungen müsse der Lehrer unterbrechend eingreifen, denn die Schüler müssten „lernen auch ‚unvollständige Konzepte’ vorzustellen. Es gilt: Der Weg ist das Ziel.“ (9) Ungeklärt bleibt hier außerdem die Frage des Verhältnisses zwischen dem ästhetischen Arbeitsprozess und dem Endprodukt der Aufführung. Die Beschreibung eines Arbeitsbegriffes wie Work-in-progress bzw. Erkenntnisse des theaterpädagogischen Diskurses der letzten 30 Jahre in Bezug auf den Dissens Prozess-/Produktorientierung rücken nicht in das Blickfeld der Autoren. Die Wendung „Der Weg ist das Ziel“ ist hier leere Phrase.
Der Lehrerband gibt keine Hinweise, in welcher Weise die im Schülerband beschriebenen Übungen abgearbeitet werden sollen und in welchem inhaltlichen Zusammenhang sie stehen. Eine strukturierte Lernprogression ist nicht sichtbar, obwohl seit langem für Lernarrangements der Grundsatz gilt: Vom Einfachen zum Komplexen und vom Konkreten zum Abstrakten.
- Die Feedback-Kriterien
Im Schülerband schlagen Herrig/ Hörner vor, ein dreigeteiltes Feedback zu geben: Plus; positiv – Minus; negativ – I; interessant, das sie als „PMI-Modell“ bezeichnen. (12). Die Autoren weichen hier deutlich von einer bereits seit längerem tradierten Anregung für ein pädagogisch sinnvolles Feedback ab, das Negative nicht zu exponieren. Außerdem haben die Schüler zu diesem frühen Zeitpunkt noch keine Kriterien erarbeitet, was als positiv oder negativ bzw. was als „interessant“ zu klassifizieren ist. Insbesondere in der Anfangszeit des Theaterspielens kann eine negative Beschreibung eines ersten Auftritts einem Schüler alle Lust am Spiel nehmen. Außerdem widerspricht diese Form des Feedbacks der von Herrig aufgestellten Forderung, der Lehrer müsse deutlich machen, dass beim Theaterspielen „die ‚Freude am Spiel’ oberstes Prinzip“ sei. (Lehrerband: 20) Irritierend in diesem Zusammenhang ist, warum die Aussage „Freude am Spiel“ von Herrig mit Anführungszeichen versehen ist. Unbewusste ironische Selbstdistanz?
- Die Kategorienbildung
Eine genauere Untersuchung der von den Autoren vorgenommenen Kategorienbildung des Systems Theater bzw. der Inhalte des Unterrichtsfaches Theater zeigen erhebliche Disparitäten. „Übungen“, „Grundbegriffe“, „Geschichte“, „Theorie“, „Text“, „Bühnenformen“, „Technik“, „Methode“ bezeichnen zum Teil völlig verschiedene Bereiche und Ebenen des Darstellenden Spiels und besitzen keine didaktische Trennschärfe. Die Folge dieser Verwirrungen im Begriffssystem sind Unklarheiten bei dem behaupteten systematisch-modularen Aufbau des Lernsystems Theater und in der Logik der Abfolge der Lernschritte. Dies spiegelt sich in der inhaltlichen Abfolge. Sichtbar wird dies auch im Inhaltsverzeichnis, das alle Lernschritte auf einer begrifflichen Ebene zeigt. Das System Theater ist aber nur als hochkomplexes interdependentes Netzwerk verschiedenster Einflussgrößen zu denken, da es nur auf diese Weise hochkomplexe ästhetische Wirkungen hervorbringen kann. Dies muss sich demzufolge auch entsprechend in einem theatralen didaktisch fundierten Lernprozess abbilden, der den vielen Gleichzeitigkeiten Rechnung trägt und doch einen Lernfortschritt in kleinen Schritten gestaltet. Dies gilt auch für postdramatisch-performative Spielweisen, die eine Gleichrangigkeit der theatralen Mittel behauptet. Dies gilt z.B. auch in Ausbildungsgängen theaterwissenschaftlicher Studiengänge. So jedenfalls der Leiter des Studiengangs Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen Heiner Goebbels, der darauf hinweist, dass man z.B. auch in der „Regieausbildung (…) lernen (muss) alle theatralen Mittel (Raum, Licht, Ton) ebenso wie den Umgang mit Schauspielern durchzubuchstabieren, bevor man der Komplexität gewachsen ist, die es bedeutet mit all diesen Ebenen gleichzeitig umzugehen.“ (Goebbels (2012: 158)
Die Problematik, dass beim Theaterspielen fast immer alle wesentlichen Mittel „anwesend“ sind und Wirkungen immer durch ihre Gleichzeitigkeit entstehen, ist eine besondere Herausforderung für die Entwicklung eines theatralen Lernkonzept für Theaterunterricht, weil Entscheidungen über eine Abfolge der Lernbereiche getroffen werden müssen im Wissen, dass alle anderen Einflussgrößen und Wirkmechanismen immer präsent sind. Es geht also bei der Formulierung einer Didaktik für Theater und einer daraus abzuleitenden Unterrichtskonzeption für Theater darum, in geschickter lerntheoretisch begründeter Weise einen jeweiligen Lernfokus zu isolieren innerhalb dessen geübt und praktisch trainiert werden kann, während die Schüler gleichzeitig alle anderen Einflussgrößen im Bewusstsein behalten bzw. nicht vernachlässigen. Es gilt, daraus eine Nacheinander, eine Lernchronologie zu entwickeln, die systematisch vom Einfachen zum Komplexen schreitet und die Einzelfertigkeiten und Einzelkompetenzen mit Hilfe zunächst einfacher, später komplexeren Techniken und zunächst einfacher, später komplexeren Methoden das handwerkliche Können zu erweitern, um Themen im weiteren Sinne im kreativen Raum der unendlichen Anzahl von Kompositionsmöglichkeiten zu gestalten und ihnen eine ästhetische Form zu verleihen.
- Das Rollen-Konzept
Herrig/ Hörner grenzen ihr Konzept von Darstellendem Spiel explizit gegen die Unterrichtsfächer „Musik“ und „bildender Kunst“ ab, da „hier niemand im Vorhinein [aufgrund mangelnder Begabung] ausgeschlossen“ würde. Der „homo ludens“ stecke in jedem Menschen und erlaube Jugendlichen, Ihre darstellerischen Fähigkeiten in der Schule zu entdecken und frei zu entfalten.“ Spielen und Präsentieren auf der Bühne liege also durch „sich ausprobieren, das Kennenlernen in der Gruppe, Partnerspiele, Verständnis und Gefühl für Gemeinschaft, Experimentieren mit fremden Rollen, Freude am Nachahmen, Wiederentdeckung des gesprochenen Wortes, Theaterproduktionen, Verkleidung, eigene Darstellung und Darstellung anderer […] voll im Trend.“ Als Referenz für diese unsortierte Stichwortsammlung verweisen Herrig/ Hörner auf Brecht, der diesen Facettenreichtum betont habe. Deshalb biete ihre Unterrichtskonzeption „ein breites Themenspektrum, das von klassischen Stücken der Literatur über moderne Dramen bis hin zu avantgardistischen Tendenzen, postdramatischen Werken und Performancekunst reicht.“ (Lehrerband: 7) Herrig/ Hörner regen – in ähnlicher Weise wie es bereits bei Ritter beschrieben wurde – dann aber einen Schauspielerunterricht an, der ein naturalistischen Rollenkonzept bemüht, das auf Stanislawskis Schauspielerunterrichtskonzept basiert. Eine unkritische Übernahme dieses Authentizität des Spiels anstrebenden Rollenkonzepts für professionelle Schauspieler in die theaterpädagogische Arbeit mit Schülern sollte sehr ktitisch hinterfragt werden.
Im Kontrast dazu – und einer meist unvermittelten Aneinanderreihung unterschiedlichster Elemente des Theaterspielens – steht die Trainingseinheit „Klischee“, wobei das Klischee als „wesentliches Element des Theaterspiels“ bezeichnet wird. Es gibt in diesem Modul entsprechend der Aneinanderreihung der anderen Module auch keine weiteren Hinweise über Sinn und Nutzen innerhalb der versprochenen Systematik des Konzeptes und Aufbaus außer der Begründung, dass die Mehrheit der Zuschauer die Situationen und Handlungen auf der Bühne deswegen verstehen würden, weil sie eine klischeehafte Vorstellungen von ihnen hätten. Als Fazit formulieren die Autoren: „Klischees machen Theater wiedererkennbar. Sie schaffen eine Verbindung zu unserem realen Leben und unseren Vorstellungen.“ (45) Hinweise, wie Klischees gebrochen werden können bzw. wie Klischees im Rollenspiel der Schüler mit Hilfe ästhetischer Mittel, Techniken und Methoden zu einem ästhetischen Gesamtausdruck geführt werden können, werden nicht gegeben. Stattdessen wird im Lehrerband empfohlen, Klischees von Berufen, Religionen, Nationen usw. in einer Tabelle zu sammeln und nach einer konkreten Textvorlage eine Handlung zum Thema „Beamte sind faul“ zu inszenieren (52). Als weitere Spielanregungen ist eine Werbung für „Liebig&Company’s Fleichextract“ mit einer martialischen Militärszenerie mit der Überschrift „Von den Ufern des Rheins. Die Wacht am Rhein, 1870“ abgedruckt und es wird auf das Gedicht „Die Wacht am Rhein“ verwiesen, das aber dann nicht abgedruckt ist. Wie solche Spielimpulse in einen kontinuierlichen Kompetenzaufbau bei Schülern integriert werden sollen, bleibt offen.
- Stimme, Sprache, Text
Zwischen einem Text über Klischees und einer Übung, bei der Klischees trainiert werden (46) und einem geschichtlichen Text über das „Theater der Ägypter“, ist unvermittelt ein zweiseitiger Text mit Informationen zum Thema „Stimme und Sprache“ platziert. Es gibt keinen Hinweis, was das eine mit dem andern zu tun hat, und wie mit Hilfe dieser Abfolge die „praktische Seite des Schauspiels systematisch erarbeitet werden soll.“ (8) Die Informationen zu „Stimme und Sprache“ werden mit einem Nietzsche-Zitat zur Verständlichkeit der Sprache eingeleitet, mit einer Schnittzeichnung durch den menschlichen Kopf, auf die nicht Bezug genommen wird, illustriert, um mit drei wesentlichen Grundregeln, deren Einhaltung die eigene Bühnensprache enorm verbessern könne: Langsam, laut und deutlich sprechen! Übungen dazu gibt es nicht, außer dem Hinweis, dass „es wohl kaum etwas Besseres [gibt], als ein Gedicht vor Publikum vorzutragen“, will man erfahren, „wie gut man mit Sprache und Sprechweisen ‚spielen’ kann.“ (47) Sucht man einer dem Buch zugrunde liegenden Konzeption, so kann man feststellen, dass eine Fülle von Material überwiegend in beliebiger Weise oft fragmentarisch unvermittelt aneinandergereiht ist und immer wieder Inhalte, Themen und Übungen angeboten werden, die das Thema „Theater“ als einen erweiterten Deutschunterricht bzw. als Anhängsel dieses Faches und abfragbaren Wissens-Lernstoff erscheinen lassen.
- Die Rolle des Lehrers
Nach Herrig soll die Lehrkraft als „’Spielleiter’ wesentliche Impulse geben, die dann von den Schülern aufgenommen werden. Für den Großteil der Zeit bedeutet dies: Der Lehrer gibt (nur) den Rahmen vor, in dem die Schülerinnen und Schüler arbeiten. […] Die Lehrer stellt dem Kurs ein Spielprojekt vor und schafft einen entsprechenden Einstieg (Beispiel: ‚Entwickelt eine Szene zum Thema Ausländerfeindlichkeit.’) Dann bilden sich Gruppen und die Schüler beginnen mit der Arbeit.“ (Lehrerband: 8) Diese praktische Arbeit in Gruppen soll etwa 50-70% der Unterrichtszeit beanspruchen. Diese Größenordnung kann nach Überprüfung der vorgeschlagenen Arbeitsaufgabenarten, die vielfach an traditionellen Deutschunterricht erinnern, aber nicht annähernd erreicht werden. Der Lehrer soll außerdem „oft die Rolle des distanzierten Beobachters einnehmen. […] Grundintention ist es, den Lehrer zu entlasten, damit er sich verstärkt in seiner Rolle als Spielleiter den Schülern, Ihren Fragen, aber auch der Bewertung ihrer Arbeit widmen kann.“ (Lehrerband: 8-9) Herrig empfiehlt, „aufgrund der gezielten Abstimmung der Inhalte […] dem Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu folgen.“ (Lehrerband: 9) Diese behauptete „gezielte Abstimmung der Inhalte“ wird aber nicht im Sinne einer zeitgemäßen Didaktik für Theater transparent und auch nicht begründet. Im Schülerband findet sich lediglich der Hinweis zum Konzept: „Schritt für Schritt sollen die theoretische und praktische Seite des Schauspiels systematisch erarbeitet werden. Die einzelnen Teile bauen dabei aufeinander auf – die konzeptionell bedingte Reihenfolge mag im ersten Moment unübersichtlich wirken. Dafür wird der Interessierte den größten Erfolg erzielen, wenn er diesem Buch von der ersten bis zur letzten Seite folgt. […] Das Buch will vor allem Denk- und Spielanstöße geben sowie durch Impulse neugierig machen.“ „In seiner Funktion als ‚Kompendium’ versteht sich das Schülerbuch darüber hinaus als Nachschlagewerk für alle wichtigen Themen.“ (Lehrerband: 9)
Es werden keine Hinweise gegeben, welche Inhalte, welche Abschnitte des Buches für welche Jahrgangsstufen und für welche Zeiträume und für welche Zeitdauer sinnvoll sind. Es wird kein Bezug zu curricularen Setzungen hergestellt. Der theaterpädagogische Diskurs, insbesondere in Bezug auf die Theaterarbeit in Schulen und das Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel der letzten 20-30 Jahre bleibt unberücksichtigt.
- Benotung
Das Raumverhältnis – so Herrig – bestimme die Funktion des Lehrers (und seiner Notengebung). Er soll „die Arbeit der einzelnen Schüler begutachten“. Herrig verweist auf die Wichtigkeit der Transparenz der Notengebung und benennt die Kriterien:
- „Wie stark bringt sich ein Spieler in die Gruppenarbeit ein?
- Begreift er sich als Teil der Gruppe?
- Geht er auch auf die Vorschläge anderer ein?
- Bringt er neue Ideen ein?
- Arbeitet er konzentriert mit?
- Kann er Probleme erkennen und selbstständig lösen?
- Wendet er die korrekten Fachausdrücke an?“ (8)
Als „Vorschläge zur Leistungsbewertung“ wird eine umfangreiche Liste von Möglichkeiten zusammengestellt (z.B. Protokoll, Minidramen schreiben, Subtext formulieren, Kurzreferat, Lückentext usw.) und ergänzt durch die Beschreibung der vier Kompetenzebenen, wie sie die EPA vorgibt, allerdings ohne Zitatquelle zu nennen. In den Beschreibungen des Buches tauchen diese Möglichkeiten aber nicht mehr auf. Herrig hebt den „großen Nutzen [hervor], Schüler beziehungsweise den ganzen Kurs damit zu beauftragen, zu einem bestimmten Thema oder eine Einzelstunde ein schriftliches Protokoll anzufertigen.“ Als Begründung schreibt Herrig: „Das hilft nicht nur den Schülern dabei, den Inhalt der Stunde(n) zu sichern, sondern bietet gerade den introvertierteren Kursteilnehmern, die sich in Gruppenarbeiten nicht ‚lautstark’ bemerkbar machen, eine Möglichkeit, dem Lehrer und sich selbst die eigene aktive Teilnahme zu bestätigen.“ (Lehrerband: 25) Protokolle werden geschrieben, damit der Lehrer Individualnoten machen kann, nicht weil sie im theatralen Prozess einen Sinn haben, z.B. dramaturgische Schritte oder szenische Lösungen festzuhalten, die nach und nach zu einem gemeinsamen Regiebuch bzw. Stücketext bei einer Eigenproduktion zusammenwachsen oder eine Agenda festzuhalten, wer welche Aufgaben für die nächste Probe zu erledigen hat oder eine Materialmappe sukzessive mit Material zu füllen, das allen zugänglich ist. Durch ein entsprechendes „Plus“ oder „Minus“ könnten dabei z.B „unvollständig-fehlerhafte“ Protokolle definiert werden.
Lernen stellt sich in diesen Beschreibungen einerseits als ein überwiegendes Lernen von Inhalten dar, in diesem Fall eklektizistisches Wissen über Theater, und andererseits, dort, wo es praktisch wird, als ein eingeschränktes Lernen einer bestimmten „Schauspieler“-Praxis, wie sie Stanislawski entwickelt hat, die auf einem naturalistischen Rollen-Konzept basiert oder Klischees einübt(!). Damit würden in der Tendenz an die Leistungen der Schüler grundsätzlich die gleichen Bewertungskriterien angelegt wie in der professionellen Schauspielerausbildung, nur ohne eine entsprechende langjährige Ausbildung. Dies ist äußerst kritisch zu sehen. Es scheint, als hätten die Autoren viel Material zum Theater, was man so finden kann, angehäuft und in Buchform gebracht; allerdings ohne die notwendige Kenntnis und Berücksichtigung des seit den 1980er Jahren geführten theaterpädagogischen Diskurses, der bereits seit Jahren zahlreich vorliegenden Curricula, der anerkannten fachdidaktischen Literatur und der enormen Fortschritte in Bezug auf eine Didaktik für Theater und Theaterunterricht.
Weiterführendes
- Goebbels, Heiner 2012: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater. In: Theater der Zeit. Recherchen 96, Berlin: Theater der Zeit