Paule, Gabriela 2008: Kultur des Zuschauens: Theaterdidaktik zwischen Textlektüre und Aufführungsrezeption. München: kopaed. 378 Seiten > Rezension
Paule legte diese Arbeit 2007 an der Universität Bayreuth als Habilitationsschrift vor. Sie untersucht darin die Möglichkeiten, die Aufführungsrezeption von Theater in den regulären Deutschunterricht zu integrieren. (12) Dramendidaktik verstehe sich zwar seit langem als „aufführungsbezogen“, habe sich aber nie konsequent der Auseinandersetzung mit tatsächlichen Theateraufführungen gestellt.
Ziel ihres Beitrages ist es, „Grundzüge einer Theaterdidaktik zu entwickeln, die die Rezeption von Aufführungen entschieden zum Gegenstand des regulären Dramenunterrichts macht. Es wird also nicht um die Lektüre dramatischer Texte gehen, auch nicht um szenisches Spiel der Schülerinnen und Schüler oder um eine Auseinandersetzung mit Inszenierungen, wie sie in schulischen ‚Nischen’ – etwa der Schultheaterarbeit (12) [oder in] fakultativen Kursen des gymnasialen Oberstufe“ möglich ist. (251)
Leider untersucht Paule dabei nicht die Möglichkeiten und Chancen fachübergreifender und projektorientierter Arbeit in Bezug auf das reguläre Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel, das zum damaligen Zeitpunkt bereits viele Jahre in mehreren Bundesländern mit ausgearbeiteten Curricula fest etabliert war und überdies seit 2006 seinen Bezugspunkt in ganz Deutschland in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) im Fach Darstellendes Spiel, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.11.2006, hatte.
Diese ungenutzte Chance ist insofern doppelt bedauerlich, da gerade im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel genau jene Grundkompetenzen theatraler Rezeption nachhaltig geübt werden können, die unabdingbare Voraussetzungen sind, auch professionelle Aufführung angemessen wahrzunehmen, zu analysieren und zu interpretieren. Das gemeinsame Sujet ‚Theater’ des Unterrichtsfaches Deutsch und des Unterrichtsfaches Theater/ Darstellendes Spiel schreit förmlich nach Kooperation und gegenseitiger Ergänzung und Zuarbeit. Überdies besitzt der überwiegende Teil der Lehrkräfte, die Theater unterrichten, die Fakultas für das Fach Deutsch. Bessere Voraussetzungen als diese Personalunion sind kaum denkbar, die Atomisierung der Welt in schulischen Unterrichtsfächern aufzulösen. Der eigentliche Ort der Wahrnehmungsschulung als Reflexionsraum gesellschaftlicher Theatralität ist demnach eher im Fach Theater/ Darstellendes Spiel angesiedelt als im Fach Deutsch, das eine Vielzahl anderer Inhalte und Kompetenzen vermitteln muss und nicht annähernd den Rahmen, die Bedingungen und vor allem die Zeit bietet, in dem von Paule geforderten Umfang Aufführungsrezeptionsschulung zu betreiben.
Inhalt
Vorwort
Einleitung
1 Theater und Theatralität im Kontext kultureller Sozialisation
1.1 Kultur der Inszenierung
1.2 Theatralität als kulturelles Modell
1.3 Theater als Baustein gelingender kultureller Sozialisation
1.3.1 Theater als Ort der Wahrnehmungsschulung und als Reflexionsraum gesellschaftlicher Theatralität
1.3.2 Theater als Ort leiblicher Gegenwart
2 Dramendidaktische Positionen – ein historischer Überblick
2.1 Dramen lesen
2.1.1 Die „pädagogische“ Ausrichtung
2.1.2 Der gattungstheoretische Ansatz
2.1.3 Die literaturhistorische Orientierung
2.1.4 Der semiotische Ansatz
2.2 Dramen inszenieren
2.2.1 Simulierte Dramaturgie und Inszenierung
2.2.2 Dramen aufführen
2.2.3 Szenisches Interpretieren
2.2.4 Lesen und Inszenieren, Schreiben und Inszenieren, Schreiben und Lesen
2.3 Dramen als Theateraufführungen rezipieren
2.3.1 Teilhabe am kulturellen Leben
2.3.1.1 Theaterbesuche
2.3.1.2 Aktualisierung des Lektüreangebots: zeitgenössische Theaterstücke im Unterricht
2.3.2 „Theaterkunde“
2.3.3 Professionelle Inszenierungen als Gegenstand des Unterrichts
2.4 Die aktuelle Unterrichtsrealität: Drama und Theater im Deutschunterricht der Sekundarstufen – Ergebnisse einer Lehrerbefragung
2.4.1 Organisation und Durchführung der Befragung
2.4.2 Inhaltliche Konzeption der Befragung und ihre Ergebnisse
3 Theatertheoretische Grundlagen
3.1 Einblick in ausgewählte theatertheoretische Ansätze
3.1.1 Interaktionstheorie
3.1.2 Theatersemiotik
3.1.3 Ästhetik des Performativen
3.2 Drama und Theater
3.2.1 Dramatische Text und Inszenierung – ein umstrittenes Verhältnis
3.2.2 Zum Begriff der Werktreue
3.3 Aufführungsanalyse
3.3.1 Probleme der Aufführungsanalyse
3.3.2 Theatertheoretische Konzepte zur Aufführungsanalyse
3.3.2.1 Die Korrespondenzanalyse (Guido Hiß 1993)
3.3.2.2 Die semiotische und die phänomenologische Analyse (Erika Fischer-Lichte 2001/2004)
4 Grundzüge einer Theaterdidaktik im Rahmen schulischen Dramenunterrichts
4.1 Rezeption von Aufführungen als zentraler Unterrichtsgegenstand
4.2 Methodische Varianten der Aufführungsrezeption im Unterricht
5 Anwendungsbeispiele: ein Klassiker, ein zeitgenössisches Jugendstück
5.1 Friedrich Schiller: Kabale und Liebe – eine Inszenierung der Studiobühne Bayreuth
5.1.1 Die Spielfassung des Textes
5.1.2 Das Bühnenkunstwerk
5.2 Igor Bauersima: norway.today – Inszenierungen des Staatstheaters Nürnberg und des Landestheaters Rudolstadt
5.2.1 Autor und Stück – eine didaktische Analyse
5.2.2 Ein Inszenierungsvergleich
6 Jugendtheater und Deutschunterricht
6.1 Die deutschdidaktische Diskussion des Jugendtheaters
6.1.1 Dramendidaktische Gesamtkonzeptionen der siebziger bis neunziger Jahre
6.1.2 Einzelbeiträge der achtziger und neunziger Jahre
6.1.3 Verstärkte Forschung seit etwa 2000
6.1.4 Fazit
6.2 Ergebnisse einer Lehrerbefragung zum Thema Jugendtheater und Deutschunterricht
Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
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Paule beschreibt, dass sich das „darstellende Spiel spätestens mit den zahlreichen dramendidaktischen Arbeiten ab Anfang der siebziger Jahre als didaktisches und methodisches Prinzip im Kontext der Dramenlektüre nach und nach etabliert“ habe und sich „bis in die neunziger Jahre methodisch weiter konkretisiert und differenziert worden“ sei. Dies gelte „nicht in gleicher Weise für die genannte zweite Komponente, die Erziehung zum Zuschauen“ (gemeint ist das Zuschauen von professionellen Aufführungen von Dramen) (108). Die Schwierigkeiten sieht Paule vor allem in zwei Gründen: Im schulischen Bereich gebe es bis heute, also 2009(!), keine verbindlichen Regelungen dafür, den Aufführungsort Theater zum Gegenstand des Unterrichts zu machen und Lehrkräfte verfügten in der Regel „über keinerlei theaterwissenschaftliche oder -praktische Ausbildung“ (105). Damit sei aber eine Einführung in die Teilhabe am kulturellen Leben fraglich und ungewiss.
In einer Lehrerbefragung stellt Paule fest, dass 73 % der Lehrer mit Methoden des Darstellenden Spiels arbeiten (130). 54% der Lehrkräfte gehen „höchstens einmal pro Schuljahr“ mit Schülern ins Theater und lediglich 17 % der Deutschlehrer mindestens dreimal pro Jahr – also wahrscheinlich einmal mit jeder ihrer Klassen – ins Theater gehen (129). Ähnliche Ergebnisse erbringt die von Paule befragten 158 Lehrkräfte in Bezug auf professionelle Kinder- und Jugendtheateraufführungen.
Allein diese Bestandsaufnahme signalisiert deutlich die Unmöglichkeit einer Forderung, wie sie Paule erhebt, den Lerngegenstand „Theaterrezeption“ im Deutschunterricht signifikant ausweiten zu wollen. Die schulischen Umstände lassen es (auch nach einer sorgfältiger curricularen Analyse!) schlichtweg in dieser Weise gar nicht zu. Paule hätte fragen sollen, wo es realistische Ansätze zu Veränderungen geben könnte. Diese liegen eigentlich sehr nahe, nämlich in der Kooperation mit Fach Theater/ Darstellendes Spiel, werden aber von Paule aus nicht nachzuvollziehen Gründen exkludiert auf das Fach Deutsch und dies offensichtlich vorzugsweise in Bayern. Paule zieht das folgende Fazit aus ihrer Befragung: „Ansätze, die das Theater als Ort künstlerischer Produktion und ästhetischer Kommunikation verstehen und dessen Kunstwerke, also konkrete Theateraufführungen, zum Gegenstand des Unterrichts machen, bleiben bis heute eher die Ausnahme – das hat der Forschungsüberblick in Kapitel 2 klar gezeigt“ (251-252). „Es wird also in Zukunft darum gehen, im Sinne einer Dramendidaktik (auch) als Theaterdidaktik Aufführungen erklärtermaßen zum Gegenstand des Unterrichts zu machen und dabei gerade für den Unterricht der Primar und Sekundarstufe I das Angebot des Kinder- und Jugendtheaters verstärkt zu nutzen“ (172).
Paule gibt einen „Einblick in ausgewählte theatertheoretische Ansätze“ (Interaktionstheorie; Wekwerth, Paul/ 175-180), dem Verweis auf die Bedeutung des Zuschauers; es sei „der Zuschauvorgang, der das Wahrgenommene zum Theater“ mache (Balme/ 179).
Dabei entsteht Bedeutung, so ergänzt auch die Theatersemiotik (180 ff), „nicht automatisch als Folge des Funktionierens eines generativen Systems, es bedarf zu ihrer Konstitution immer eines interpretativen Aktes des rezipierenden Subjekts.“ Allerdings ist der theatrale Text „nicht erst auf der Ebene der Rezeption, sondern bereits auf derjenigen der Produktion vieldeutig und nicht bis ins Letzte intendiert“ (186). Auch Fischer-Lichte verweise in ihrer Kombination von Semiotik und Hermeneutik auf die entscheidende Bedeutung des Zuschauers für den theatralischen Text: „’Da „aus seinen Zeichen und ihrer Ordnung weder ihre Bedeutungen noch sein Sinn eindeutig und für alle potentiellen Rezipienten in gleicher Weise zu deduzieren und festzulegen ist, muß das rezipierende Subjekt sie interpretieren, d.h. ihnen aufgrund seiner individuellen Erfahrung unter Berücksichtigung der spezifischen Textstruktur eine Bedeutung beilegen und so den Sinn des Textes für sich konstituieren.’“ (187) Roselt formuliere, so Paule, die kontigenten Schwierigkeiten des theateralen Settings, wobei beim Zuschauer eine „’stete Überkreuzung von Erlebnis und Analyse, Teilhabe und Erinnerung, Erfahrung und Verständnis bzw. Wahrnehmung und Interpretation’“ vonstatten ginge. Dies seien ‚“Erfahrungen, die sich nicht unmittelbar auf den begrifflichen Punkt bringen lassen. Diesem nicht-begrifflichen Erfassen wurde in der jüngsten Theoriediskussion aber eine entscheidende Bedeutung für die ästhetische Wahrnehmung eingeräumt.’“ (188)
Im Abschnitt über die Ästhetik des Performativen zitiert Paule weiterhin Roselt, der bei performativen Vorgängen die Aufmerksamkeit „auf die Durchführung von Handlungen, auf das Wie des Vollziehens und auf die Wahrnehmung und Erfahrung solcher Vorgänge und Körper“ gelenkt und gerichtet sieht. (188) Diese Aufmerksamkeit konzentriere sich „’auf sinnliche Qualitäten: auf die besondere Gestalt eines Körpers und seine Ausstrahlung, auf die Art und Weise, in der eine Bewegung ausgeführt, sowie auf die Energie, mit der sie vollzogen wird, auf das Timbre und Volumen einer Stimme, auf den Rhythmus von Lauten (oder auch Bewegungen), auf Farbe und Intensität des Lichtes, auf die Eigenart des Raumes und seine Atmosphäre, auf den spezifischen Modus, in dem Zeit erfahren wird, auf das Zusammenspiel von Laut, Bewegung, Licht u.a. Einer Ästhetik des Performativen geht es sowohl um die Wahrnehmung dieser sinnlichen Qualitäten als auch um die besondere Wirkung, die sie auf den Wahrnehmenden im Akt der Wahrnehmung ausüben können: physiologische Veränderungen wie erhöhten Pulsschlag, erweiterte Atmung, Schweißausbrüche, ebenso wie Ekel, Trauer, Melancholie oder im Gegenteil Freude oder gar Glücksgefühle.’“ (189)
Zusammenfassend hält Paule fest, „dass es gerade die Aufführungen von Theater- und Performance-Kunst seit den sechziger Jahren sind, die die Bedingungen der Entstehung von Aufführungen – Medialität, Materialität, Semiotizität und Ästhetizität – immer wieder demonstrativ herausgestellt haben.“ (201)
In Bezug auf die sich stellende Frage der Werktreue formuliert Paule: „Jede Gegenwart verändert die Werke, das ist eine Grundeinsicht der Rezeptionstheorie“ (217) und stellt Zabkas „fünf Tendenzen, die für die Regiekunst in den letzten Jahrzehnten bestimmend waren und sind“ als Orientierungshilfe für die Beurteilung von Theaterinszenierungen vor: […] Antikonventionalismus […] Konstruktivismus und Elementarismus der Form […] Aufwertung partikularer Inhalte […] Reflexivität und Selbstreferentialität […] Hermetik: Zabka bezeichnet Verrätselung als ein zentrales Phänomen der ästhetischen Moderne“ und sieht darin „verweigerte[…] Sinnaussagen, aber Interpretationsmöglichkeiten.“ (221-223)
Paule schlussfolgert aus der Unmöglichkeit, eine Aufführung objektiv für eine tiefgehende Analyse zu dokumentieren: „Die Subjektivität der Wahrnehmung stellt … die conditio sine qua non für die Analyse dar.“ (226). Insofern müsse sich der Zuschauer immer „der eigenen Wahrnehmungen bewusst […] werden und sie ausgehend davon für eine Analyse […] nutzen.“ (233). Als Beleg verweist Paule auf Hiß’ Korrespondenzanalyse von 1993: „’Denn was der Zuschauer realisiert ist gerade nicht die additive Bedeutung von Einzelzeichen, sondern die des Zusammenklangs, der Zuschauer synthetisiert automatisch, er fügt das Disparate zu einer neuen Einheit.“ (234) Im schulischen Rahmen müsse es deshalb vorrangig ‚“um Wahrnehmungsschulung und um eine klar darauf bezogene Analyse des Bühnenkunstwerks’“ gehen. (234) Eine Interpretation komm demnach zustande ‚“als Synthese aus etwas Fremdem (dem Text) und etwas Eigenem, einer Verstehensdisposition, die durch verschiedene Kontextfaktoren ideologischer, psychologischer, soziologische Art bestimmt’“ sei. (236) Des Zuschauers „wahrnehmendes Bewusstsein ist die Instanz der Bedeutungssynthese, hier findet die Tätigkeit des Zerlegens und Arrangierens, der Selektion und Kombination, der Analyse und der Synthese statt. Für entscheidend hält Hiß dabei, ‚wie sich in den multimedialen Wahrnehmungsakten eine neue Bedeutung ergibt, die mehr ist als die Summe der Bedeutungen der Einzelbestandteile, die Korrespondenzbedeutung.‘“ (236) Hiß weiter: „’Wir können aufgrund der offenen Struktur unseres Gegenstands nicht auf objektive Inhalte spekulieren. Wir können indes unseren Zugriff objektivieren, Kriterien unserer Auswahl benennen, Sinnpfade entwickeln und offen legen. Hierin liegt die einzige Möglichkeit, mit dem ‚Vorurteil‘ (auch) der wissenschaftlichen Wahrnehmung umzugehen, jenseits von positivistischen und idealistischen Heilsversprechungen.’“ (242) Fischer-Lichte ergänzt: „’Aus diesem Zusammentreffen emergiert Bedeutung. Sie zu konstituieren, bedarf einer kreativen Aktivität. Sie ist also in vielen Fällen unvorhersehbar und wird möglicherweise für jeden Zuschauer unterschiedlich ausfallen.’“ Also „’werden die Resultate der Analysen sehr verschieden ausfallen. Sie werden jedoch in jedem Fall mit Hinweis und Erläuterung der spezifischen Verfahren intersubjektiv vermittelbar, nachvollziehbar und entsprechend zu diskutieren sein’“. (246-247)
Paule formuliert weiter: „Ziel einer so verstandenen Theaterdidaktik wäre es also, Theater sehen zu lernen: Zuschauen lernen als Ziel. Und zwar ‚kreatives Zuschauen‘, wie es Jens Roselt nennt, ein Zuschauen, das einerseits die affektive Bereitschaft mitbringt, sich tatsächlich einzulassen von seiner sinnlichen Qualität und wach zu sein für eigene Wahrnehmung, und das andererseits mit der notwendigen aufführungsanalytischen Kompetenz aktiv Bedeutungen herstellt im Umgang mit so komplexen Zeichensystemen wie denjenigen des Theaters. Letzteres wird in unterrichtlichen Zusammenhängen vor allem der höheren Jahrgangsstufen eng auf die Lektüre dramatischer Texte bezogen sein, die Inszenierung rückt also auch als Interpretation des Dramas in den Blick. Die Aufführung als theatrales Kunstwerk und als Interpretation eines dramatischen Textes, dies sind die beiden zentralen Perspektiven unterrichtlicher Aufführungsrezeption. Folgende Aufgabenstellungen leiten sich daraus ab. Die Inszenierung als Interpretation des Dramas“ (254), „Theater als eigene Kunstform“ (256), „Zeitgenössisches Theater“ (259) – und insgesamt, als Aufgabe und Ergebnis – „Ästhetische Bildung, gelingende kulturelle Sozialisation“ (261). Es braucht demnach einen „Unterricht, der nicht vorschreibt, was zu faszinieren oder Widerspruch hervorzurufen hat, (er) muss flexibel genug sein, Wege zu finden, die von den Themen der Schülerinnen und Schüler ausgehen“ (258), um diese „im Sinne einer gelingenden kulturellen Sozialisation an die genussvolle Rezeption von Theater heranzuführen“ (261).
Es gehe vor allem um die „kognitive wie affektive Auseinandersetzung mit der Kunstform Theater und die Reflexion eigener Wahrnehmung und um das Ermöglichen ästhetischer Erfahrung.“ (262) Dabei müsse „auch das Reden über Kunst geübt und kultiviert werden.“ (263)
Nützlich und notwendig sei also ein „kontinuierliches Wahrnehmungstraining im Theater“ (253), „reichlich Zuschauererfahrung“ (254) und „Zuschautraining“. (261) Wie all das im regulären Deutschunterricht zu bewerkstelligen sei, erläutert Paule leider nicht. Hier wäre eine sorgfältige Statusanalyse von Nöten gewesen, damit ein Diskurs auf den richtigen Eckpunktes eines Desiderates aufsetzen kann und Forschungsarbeit sich nicht in abgehobenes Wunschdenken und Idealisierungsvorstellungen verliert, sondern über eine präzise Formulierung eines Erkenntnisinteresse letztlich hilfreiche Erkenntnisse erarbeitet, die theoretische Ausgangspunkte für die Umsetzung in eine irgendwie geartete Praxis liefert.
Da Paule die Entwicklungen des regulären Unterrichtsfaches Theater/ Darstellendes Spiel seit den 1990er Jahren in verschiedenen Bundesländern (außer Bayern) systematisch ausblendet, verstellt sie sich selbst den Blick durch die Engführung auf Deutschunterricht – und hier auf das Dramen- bzw. Literaturtheater – für einen konstruktiv-produktiven Impuls weg von den die Welt fragmentierenden Unterrichtsfächern hin zu einer fachübergreifenden Zusammenarbeit, die es erlaubt, die Komplexität von Welt und Kunst, wie sie tatsächlich ist, zum Lerngegenstand mit ihren Facetten und Interdependenzen zu machen. Ein wesentliches sehr nahe liegendes und dringlich zu bearbeitendes Desiderat bleibt deshalb leider unaufgearbeitet. Überdies bleibt sie ein Angebote schuldig, ihre Forderung nach einer intensiven Wahrnehmungsschulung und Ausbildung einer ästhetischen Wahrnehmungskompetenz in Bezug auf Theateraufführungen durch eine Beschreibung, wie dieses extrem zeit- und ressourcenaufwändige Lernprogramm für die curriculare Nische Theaterrezeption im Deutschunterricht in Schule und Deutschunterricht gestaltet sein sollte. Man muss ein solches Ansinnen als schlichtweg unrealistisch bezeichnen, wenn man schulische Verhältnisse auch nur im Ansatz kennt. Insofern ist es äußerst bedauerlich, dass fächerübergreifende Zusammenarbeit als Chance, dem gewählten Sujet grundsätzlich mehr Raum zu geben, von Paule grundsätzlich von vorneherein unverständlicherweise ausgeblendet wurde. Schade!
Nickel schreibt dazu: „Paule nennt die Schultheaterarbeit eine „schulische ‚Nische‘“ (12, vergl. 251). Das lässt sich im Vergleich zum Deutschunterricht zwar rechtfertigen, es lässt sich jedoch auch fragen, wie groß diese Nische ist und was darin eigentlich geschieht. Geht man aus von einem Unterschied zwischen „Schultheater“ (einem gelegentlichen Ereignis) und „Theater an einer Schule“ als einer etablierten, langjährigen Theaterarbeit mit regelmäßigen Aufführungen, spezifischem Spielplan, einem durch lange Jahre hindurch erarbeiteten „Repertoire“, einem eigenen Stil, dann hat ein solches Theater auch immer eine Kultur des Zuschauens verbreitet – auch für die nicht mitspielenden Schülerinnen, auch für die Schulgemeinde (Eltern, Freunde). Die eigentlichen TeilnehmerInnen dieser Theatergruppen waren überdies immer auch Mitwirkende an Festivals (örtlichen, regionalen, überregionalen bis hin zum Schultheater der Länder und zum Berliner Theatertreffen der Jugend) – und das bedeutet in aller Regel: mehrere Stücke sehen, darüber diskutieren (untereinander und angeleitet in speziellen Diskussionsforen), in Workshops spielen und arbeiten (zumeist praktisch, an speziellen Theaterthemen); dabei sind Aufführungen und Werkstätten manchmal insgesamt thematisch bestimmt (besondere Inhalte, Ausdrucksmittel, Formen). In summa: Schultheater stellt eine überaus intensive und umfassende Beschäftigung mit Theater und Theaterrezeption dar. Dringend zu wünschen wäre für diesen Bereich eine empirische Aufarbeitung, die zunächst das Ausmaß der Schultheaterarbeit zu eruieren hätte und daraufhin auch die möglichen Auswirkungen diskutieren könnte.“ In: https://www.socialnet.de/rezensionen/7890.php
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