Rancière, Jacques 2009; erste Ausgabe 1987: Der unwissende Lehrmeister. Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation. Wien: Passagen Verlag. Seiten 168 – Rezension
Der französische Philosoph Rancière greift Joseph Jacotots Anfang des 19. Jahrhunderts aufgestellte These auf, dass ein Unwissender einen anderen Unwissenden lehren könne, was er selbst nicht wisse, denn alle Menschen besäßen die gleiche Intelligenz (29).
Jacotots stellt die grundlegende Überzeugung in Frage, ob nicht eine klassische „pädagogische“ Lehrmeister-Schüler-Konstellation, in der der Lehrer dem Schüler Wissen vermittle und Sachverhalte erkläre, das Lernen eher verhindere als befördere.
Rancière ist der Überzeugung, dass alle gewissenhaften Professoren auf diese ineffektive Weise lehrten (13) und erklärt dem Leser diesen „Mythos der Pädagogik“ der zwangsläufig zur Verdummung führe (17).
Inhalt
Vorwort … 7
- Frühe Politik: Von Pädagogik zu Gleichheit … 15
Althussers Lektion … 16
Platonische Ungleichheit bei Marx, Sartre und Bourdieu … 35
Jacotot und die Radikale Gleichheit … 49
- Geschichte und Historiographie … 63
Les Révoltes Logiques (1975-81) … 64
Die Nacht der Proletarier: Archive des Arbeitertraums [1981] … 85
Die Namen der Geschichte: Versuch einer Poetik des Wissens [1992] … 92
Schluss … 113
- Reife Politik: Polizeiordnung und Demokratie … 117
Politik und ‚die Polizei’ … 120
Rancières strukturelle Beschreibung von Demokratie: ‚Unrecht’ und falsche Zählung … 125
Politische ‚Subjectivierung’ … 130
Die ästhetische Dimension der Politik: ‚Aufteilung’ oder ‚Verteilung’ ‚des Sinnlichen’ (le partage du sensible) … 141
Gesamteinschätzung von Rancières Politikkonzeption … 145
- Literatur … 157
‚Was ist Literatur?’ … 158
Schreiben, ‚Literarität’ … und Literatur… 165
Rancière als Leser … 176
- Kunst und Ästhetik … 191
Ästhetische Erfahrung und Gleichheit: mit Kant und Gauny gegen Bourdieu … 194
Die Regime der Kunst … 202
Kino und Filmtheorie … 208
Zeitgenössische Kunst, Politik und Gesellschaft … 226
Schluss … 237
Ergänzung: Die neueren Schriften (bis 2013) … 239
Bibliographie … 253
Dank … 271
Rancière analysiert das Verhältnis von Lehrer und Schüler und erklärt dem Leser, wie er es zu verstehen habe. Dabei verwischen sich in seinen Erklärungen die Grenzen zwischen einer Rezeption der Position Jacotots und der Übernahme in die eigene Einschätzung. Beim Leser entsteht die Vermutung, dass Rancière hier Nebelkerzen stilistischer Art zündet, um selbst keine eindeutige Haltung zu verantworten.
Das „Prinzip der Verdummung“ der Pädagogik fuße auf dem Mythos der Pädagogik. Dieser teile die Welt in zwei Teile, in eine niedere und eine höhere Intelligenz. Die erste nehme durch Zufall wahr, behalte, interpretiere und wiederhole empirisch im engen Kreis der Gewohnheiten und Bedürfnisse. Die zweite kenne die Dinge durch Gründe, sie gehe methodisch vor, vom Einfachen zum Komplexen, vom Teil zum Ganzen. Sie erlaube es dem Lehrmeister, seine Kenntnisse zu übermitteln, indem er sie den intellektuellen Fähigkeiten seiner Schüler anpasse und überprüfe, ob die Schüler auch das verstanden haben, was sie gelernt haben. Das sei das Prinzip der Erklärung. Jacoto bezeichne das als „Prinzip der Verdummung.“, so Rancière. (17)
Um Missverständnissen vorzubeugen erklärt Rancière dem Leser, dass es nicht um den Verdummer im Stile eines alten schwerfälligen Lehrmeisters gehe, der die Schädel seiner Schüler mit unverdaulichen Kenntnissen vollstopfe und auch nicht um das bösartige Wesen, welches das Spiel der doppelten Wahrheit spiele, um seine Macht und die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern es sei gerade der Lehrmeister der Meister der Verdummung, der gelehrt, aufgeklärt und guten Willens sei. (17)
Gerade dieser aufgeklärte Pädagoge sei es, dem die Distanz seines Wissens zur Unwissenheit der Unwissenden wichtig sei, der seine Existenz auf den Unterschied zwischen blindem Herumtasten und methodischem Suchen gründe. Das Hauptbegehren dieses aufgeklärten Pädagogen und seine größte Sorge sei es, ob der Kleine versteht oder nicht. Versteht er nicht, dann müsse er neue Weisen finden, es ihm zu erklären, strenger im Prinzip und anziehender in der Form und er müsse verifizieren, dass er verstanden habe. (18)
Das Lösungswort des Aufgeklärten, welches das ganze Übel anrichte, sei das Wort „verstehen“. Dieses Lösungswort der Dualität ist „jede Vervollkommnung des Verständlichmachens, dieser großen Sorge der Methodiker und Fortschrittler, ein Fortschritt in der Verdummung.“ (18)
Der erklärende Pädagoge brauche den Unfähigen, nicht umgekehrt, er erschaffe ihn. Es beweise, dass der Unfähige nicht von sich aus verstehen kann und begründe damit den Mythos der Pädagogik. (16)
Die hinter dieser Verdummung stehende „Logik der Erklärung“ beinhalte das Prinzip des „unendlichen Regresses“, denn nur der Lehrmeister entscheide, „an welchem Punkt die Erklärung selbst erklärt ist“. (14) Das Geheimnis des pädagogischen Lehrmeisters sei die Aufrechterhaltung einer Distanz zwischen dem gelehrten Gegenstand und dem zu belehrenden Subjekt, die Distanz zwischen lernen und verstehen. Der Erklärende sei jener, der die Distanz einsetze und abschaffe, der sie inmitten seiner Rede entfalte und auflöse. (15) Diese privilegierte Stellung der Rede hebe den unendlichen Regress nur auf, um eine paradoxe Hierarchie einzurichten. In der Erklärordnung sei allgemein eine mündliche Erklärung nötig, um die schriftliche Erklärung zu erklären. (15)
Als „Beweis“ (20), so erklärt Rancière dem Leser, gelte eine „Tatsache“ (19), die Professor Jacotot schildere. Seine flämischen Studenten hätten „ohne Hilfe seiner Erklärungen sich selbst Französisch sprechen und schreiben gelehrt.“ (19) Er habe sie alleine gelassen mit einem französischen Text und mit ihrem Willen, Französisch zu lernen. „Es ist eine Tatsache, dass sie alleine ohne erklärenden Lehrmeister gelernt haben.“ (21) Und „Man konnte, wenn man es wollte, alleine und ohne erklärenden Lehrmeister durch die Spannung seines eigenen Begehrens oder durch Zwang der Situation lernen.“ (22) Denn es war nicht das Wissen des Lehrmeisters, das den Schüler bildete. (25) Insofern ist es möglich, dass „man unterrichten kann, worin man unwissend ist, wenn man den Schüler emanzipiert, das heißt, wenn man ihn dazu zwingt, seine eigene Intelligenz zu gebrauchen.“ (25-26) Die sei die älteste aller Methoden, es sei „’universeller Unterricht’“. (26) „Es würde genügen, der Intelligenz, die in jedem Einzelnen schläft, zu sagen: Age quod agis, fahre fort damit, zu tun, was du tust, ‚lerne den Sachverhalt, imitiere ihn, erkenne dich selbst, das ist der Lauf der Natur.’“ (27)
Ein guter Lehrmeister lehrt seinen Schüler sich seiner natürlichen Fähigkeiten bewusst zu werden und diese einzusetzen, denn es gibt keinen Unwissenden, weil jeder Mensch immer beobachtet, wiederholt, ausprobiert, Fehler macht und sie korrigiert. Als Methode reichten drei Fragen:
- Was siehst du?
- Was denkst du darüber?
- Was machst du damit?
Emanzipation setzt für Rancière den Zwang voraus, die eigene Intelligenz zu gebrauchen und in den eigenen intellektuellen Fähigkeiten zu vertrauen. (24) Das bedeutet: „Wer lehrt, ohne zu emanzipieren, verdummt. Und wer emanzipiert, hat sich nicht darum zu kümmern, was der Emanzipierte lernen muss. Er wird lernen, was er will, nichts vielleicht. Er wird wissen, dass er lernen kann, weil dieselbe Intelligenz in allen Produktionen der menschlichen Kunstfertigkeit am Werk ist, er wird wissen, dass ein Mensch immer die Rede eines anderen Menschen verstehen kann.“ (28-29).
Dass diese idealistische Vorstellung nicht haltbar ist, wird deutlich, wenn Rancière beschreibt, was der unwissende Lehrmeister von seinem Schüler verlangen muss: „Was der unwissende Lehrmeister von seinen Schülern verlangen muss, ist zu beweisen, dass er mit Aufmerksamkeit studiert hat.“ (44)
„So kann der unwissende Lehrmeister den Wissenden wie den Unwissenden bilden: indem er verifiziert, dass er kontinuierlich sucht. Wer sucht, findet immer. Er findet nicht notwendigerweise, was er sucht, noch weniger, was er finden soll. Aber er findet irgendetwas Neues, das er mit der Sache in Beziehung bringt, die er bereits kennt. Das Wesentliche ist die kontinuierliche Wachsamkeit, die Aufmerksamkeit, die niemals nachlässt, ohne dass sich die Unvernunft einstellt.“ (46)
Es gibt weitere Forderungen an den unwissenden Lehrmeister: „Um den anderen zu emanzipieren, muss man selbst emanzipiert sein. Man muss sich selbst als Reisenden des Geistes verstehen, ähnlich allen anderen Reisenden, als intellektuelles Subjekt, das an der gemeinsamen Fähigkeit der intellektuellen Wesen teilhat.“ (47) „’Wissen ist nichts, Machen ist alles.‘ Aber dieses Machen ist in fundamentaler Weise ein Akt der Kommunikation.“ (81) „Das Geheimnis des Genies ist das des universellen Unterrichts: lernen, wiederholen, imitieren, übersetzen, auseinandernehmen, wieder zusammensetzen.“ (85)
„Jeder von uns ist Künstler in dem Maße, als er eine zweifache Vorgehensweise wählt; er begnügt sich nicht damit, Mensch eines Berufes zu sein, sondern er will aus jeder Arbeit ein Ausdrucksmittel machen; er begnügt sich nicht damit zu fühlen, sondern er versucht, das Gefühlte mit anderen zu teilen.“ (88)
Rancières lotet die Möglichkeiten des Theorems von Jacotots unwissendem Lehrmeister aus. Der Blick auf DIE Pädagogik bleibt dabei undifferenziert.
Eine Übertragung auf eine Lernsituation, wie sie sich aktuell in Schulen zeigt, ergäbe die Forderung an eine Theater-Lehrkraft wie auch generell an alle Lehrkräfte, dass sie nicht fachlich umfassend auf dem Niveau allerneuster fachwissenschaftlicher Erkenntnisse ausgebildet sein müssen.
Sie müssen vielmehr in der Lage sein, die Schüler in Situationen zu bringen und entsprechende Lernsettings zu kreieren, in denen sie innerhalb eines vorgegebenen Rahmens frei ihre Fähigkeiten und Potenziale entfalten und schulen können.
Das bedeutet, dass die Schüler in der Lehrkraft ein inspirierendes, motivierendes und nachahmenswertes Vorbild und einen solidarischen, beratenden und auch erklärenden Lernbegleiter sehen müssen, sodass sie sich mit Leidenschaft des jeweiligen Problemfeldes hingeben, in dieses eintauchen und erforschen, um für z.B. im Theaterunterricht die wirkungsvollste ästhetischen Gestaltungen zu finden. Das aber weiß jeder halbwegs sensible Lehrer nach wenigen Unterrichtsstunden.