Schneider, Wolfgang (Hg) 2018: Kindertheater in China. Märkte für Millionen. IXYPSILONZETT Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater 02.2018. Berlin: Theater der Zeit – Rezension
Das chinesische Kindertheater, „ein Roll Back in die Frühzeit der ‚Vereinten Nationen‘ des Jugend- und Kindertheaters, nationalistisch und hierarchisch, illusionistisch und perfektionistisch, Teil einer offiziellen Politik zwischen Repräsentation und Renaissance, und offensichtlich einer Strategie folgend: China ist wer! […] Den einzigen unabhängigen Theatermacher trafen wir im Goethe-Institut, das wie eine kleine Insel im Arts District nicht nur das Diskursive ermöglichte, sondern eben auch die Begegnung ohne Kontrolle.“ So formuliert Schneider seinen Eindruck vom Artistic Gathering der ASSITEJ (erstmalig in China) Ende August in Peking. Hätte man etwas anderes erwarten können? Nein.
Kunst in einem militärisch-autoritär ausgerichteten Staatskapitalismus wird eine klare Propagandafunktion zugewiesen. Weiter weg von dem, was Marx und Engels mit ihren Forderungen, eine Gesellschaft zu etablieren, in deren Fokus die Befriedigung der Interessen und Bedürfnisse der Menschen und die Wahrung der Menschenrechte stehen soll, kann ein sich kommunistisch nennender Staat kaum mehr entfernen.
Neben allerlei anderen Themenbeiträgen, Rezensionen, Terminen widmet sich das Heft explizit in vier Beiträgen dem Kinder- und Jugendtheater in China, auf die hier eingegangen werden soll.
Meike Fechner: Groß, finanzkräftig und etwas anders. Zeit für eine Annäherung an China als Kinder- und Jugendtheaterlandschaft: 4-7
Zwei verfochtene Stränge beschreibt Fechner in ihrem Beitrag. Man sehe in China die Entwicklung der Kinder- und Jugendtheaters unter wirtschaftlichem Aspekt „jenseits von Demokratie und Menschenrechten“. Es gibt „Veranstaltungen für Investoren“, insbesondere im Hinblick auf „Innovationen in der Bühnentechnik“, der Nutzung des Internets als „Verkaufs- und Kommunikationsplattform“, die deren „Suche nach profitablen Zukunftsmärkten“ bedienen soll. Man sucht priorisiert nach „Material für den Export“. Das hat Auswirkungen auf die Kunstform. Die Theateraufführungen müssen für ein großes Publikum in großen Hallen, laut und bunt sein, ergo die Bühnentechnik groß und teuer. Und schon würde man in Holland und Beligen Produktionen für diesen Markt entwickeln, so Fechner, um sie nach China verkaufen zu können. Die internationale Agentur BOP, die sich auf Kultur- und Kreativwirtschaft spezialisiert habe, beschreibe Chinas Kinder- und Jugendtheatersektor als „Markt der Zukunft“ innerhalb des Sektors der „Live-Entertainment-Industrie“ Chinas.
Kinder-Theater konsequent als Motor wirtschaftlicher Entwicklung im technikaffinen China gedacht und benutzt. Dazu wird die passende Ideologie ausgegeben. Theater solle wie eine Religion betrachtet werden, so Lu Ang (Rektor des Regiestudiengangs an der Theaterakademie in Shanghai). Aber Religion ist doch Opium fürs Volk, habe ich mal gelesen. Theater solle das Gute im Menschen wecken. „‘Wir sind frei, aber diese Freiheit ist nicht absolut. … Ich denke, dass Theateraufführungen, die soziale Probleme thematisiert, von den Behörden erlaubt werden sollten, wenn diese Probleme wirklich existieren und die Aufführng einen guten Zweck verfolgt.‘“ Man nennt es Zensur.
Auch die CAPA (China Association of Performing Arts) betont im Sinne der staatlich verordneten Richtlinien und wirtschaftlichen Sichtweise auf die Theaterkunst die Kriterien für Bewerbungen von Theatergruppen zu ihren Festivals: „Die Aufführung soll für ein Publikum von mehr als 500 Personen gespielt werden, kreativ und von visueller Schönheit sein und wenig Sprache enthalten.“ Man fühlt sich an die Musicalindustrie der westlichen Länder erinnert. Kritische Impulse und Freiheit des künsterlischen Diskurses haben unter diesem Regime wohl nur geringe Chancen. Fechner schließt mit dem Satz: „Das ASSITEJ Artistic Gathering in China war eine erste Etappe auf diesem Weg ins Unbekannte.“ Es wird vermutlich ein sehr langer Weg mit vielen Etappen.
Stefan Fischer-Fels: Yin und Yang. Widersprüchliches China. Reiseimpressionen aus einem Land mit ganz eigenem Blick auf das Kindertheater: 8-9
Fischer-Fels bestätigt Fechners Eindrücke und verweist auf Theatersäle mit 1000 und 1500 Plätzen „auf einem fast utopisch anmutenden hohen Ausstattungsniveau“, die in China wie Pilze überall aus dem Boden schössen, aber keine Ensembles hätten. Kinder sollten mit Kunst und Kultur, mit Schönheit konfroniert werden. Das sei offizielle Politik des Landes und diese Projekte würden „mit großem Aufwand finanziell gefördert.“
Die Produktionen zeichneten sich aus durch „mächtige, überwältigende Bilder mit heftigem Dauer-Video und Musikeinsatz und ganz großem Finale.“ Dabei spiele der virtuose Einsatz von Puppen, Drachen und Tieren eine große Rolle. Bestens trainierte junge dynamische Schauspieler_innen könnten tanzen, singen, Puppenspiel und Stanislawski. Man spreche in dialektischer Weise über das Prinzip des weltumspannenden Humanismus, lese Hegel. Man habe nur andere Antworten auf die gleichen Fragen, die man sich im Westen stelle. In der Szene der unabhängigen Künstler spreche man davon, „dass Kulturschaffende in China sich dem Thema Zensur stellen müssen dies natürlich auch in internationalen Koproduktionen zu berücksichtigen sei.“
Trotz dieser klaren Botschaft blickt Fischer-Fels recht hoffnungsfroh in die Zukunft des chinesischen Kinder- und Jugendtheaters: „Bei aller Befürchtung, in China in einen hochkompexen diplomatischen Eiertanz zu geraten, überwiegt doch die Einschätzung, dass hier in Zukunft inspirierende Partnerschaften mit außerordentlich gutem finanziellen Hintergrund zu entwickeln sein werden. Die anregenden Gespräche mit feinsinnigen Künstlern, eine überwältigende Gastfreundschaft und die Offenheit gegenüber ‚westlichen‘ Partnern wie auch die großzügigen finanziellen Möglichkeiten sind gute Argumente, den Dialog mit China zu eröffnen!“
Die Frage bleibt: Sollen sich Länder mit Kunstfreiheit für die Propagandazwecke eines autoritären Regimes missbrauchen (mit den „großzügigen finanziellen Möglichkeiten“ kaufen/ bestechen) lassen? Oder soll der Kontakt genutzt werden, das System zu unterwandern und aufzuweichen? Reichen (bestenfalls) mahnende Worte nach Menschenrechten und die Hoffnung, es wird sich schon was tun, oder sollte man Tacheles reden? Die Folgen kennen wir, z.B. die Ausweisung Ostermeiers und des Berliner Ensembles 2012, nachdem sie in einer Aufführung das Publikum aufgefordert hatten, sich zu äußern … und das taten sie dann auch, aber nicht im Sinne des Schönheitsbegriffs des Regimes. Doch nur Brot und Spiele?
Kindertheater als Privileg. Eine Gastspielreise des Theaters o.N. nach China. Eckhard Mittelstäd im Gespräch mit Vera Strobel: 10-11
Strobel berichtet von einer Gastspielreise ihres Theaters o.N. in China und hat den Eindruck, Kindertheater ist dort eine Prestigesache. Die Eintrittspreis könnten sich nur bessergestellte Familien leisten, alles werde per Handy gefilmt und Wünsche der Eltern, die mit ihren Kindern im Theater waren, nach Selfies mit den Schauspielern, zeigten sollen dokumentieren, dass man sich das leisten kann. In den angebotenen Workshops habe sie frei arbeiten können und sei verwundert gewesen, wie sich die chinesischen Teilnehmer auf die ungewohnte Arbeitsweise einlassen konnten. Aber es sei klar, man müsse sich insgesamt auf Vorstellungen und Bedürfnisse der Gastgeber einlassen. Also sich kaufen lassen und Mund halten? Wie man das auch immer verstehen mag.
„Wir Europäer müssen uns mehr auf die chinesische Kultur einlassen.“ Wolfgang Schneider im Gespräch mit Ivica Simic über große Opern, buntes Kindertheater und einen Markt für kulturelle Bildung: 12-14
Simic lehrt seit 2017 als Professor an der Eurasia Universität in X’ian und konstatiert, dass die „Aufgabe des Theaters“ in China die „Erziehung zu den moralischen und ethischen Werten der Gesellschaft“, „Loyalität gegenüber Familie und Gesellschaft“ sei. Im chinesischen Bildungssystem spiele Theater allerdings keine Rolle, und der Schwerpunkt des massiv voran getriebenen Ausbaus der Theater liege auf Business, Kommerz und Unterhaltung. Inzeniert würden überwiegend Stücke aus dem klassischen Märchenrepertoire, traditionelle Volksmärchen und Geschichten aus der „heldenhaften“ Vergangenheit, aber „mit neuestem ausgefeilten technischen Equipment, LED und Videoproduktionen“.
Auch die wenigen von privaten Theater produzierten Aufführungen seien „oft kommerziell ohne künstlerische Ambitionen.“ Oft würden Film- und Fernsehproduktionen eine zu eins auf die Bühne kopiert, manchmal sogar Computerspiele.“ Das chinesische Publikum sei „nur daran gewöhnt, unterhalten zu werden.“ „Die meisten Theater [folgen] nur den Marktmechanismen und riskieren nichts.“ Man kenne in der Schauspielausbildung Stanislavsky und Brecht, der Fokus liege aber auf der Entwicklung von „handwerlichen Fähigkeiten“. Es fehle aber an Kreativität und Innovation. Genau diese Beoachtung konnte man in dem chinesischen Gastbeitrag auf dem 8. Deutschen Kindertheater-Fest in Minden 2018 bestätigt sehen. Und der chinesische Betreuer der Kinder, der Polit-Kommissar, kam sofort herbeigesprungen, als ich in der Pause mit einer jungen Darstellerin begann, einen Small-talk zu führen.
Warum Simic nach dieser Beschreibung nun fordert, dass sich Europa mehr auf die chinesische Kultur einlassen soll, bleibt – vorsichtig formuliert – rätselhaft.
Die Veränderungsprozess habe gerade erst begonnen, sagt er. Wenn die Funktion der (Theater-)Kunst eines militärisch-autoritär strukturierten Polit-Kaders darin gesehen wird, die Größe und Macht eines Nationalstaates (Make Dingens great again! Kennen wir irgendwoher) zu beschwören und die Bevölkerung (insbesondere die Kinder) eines Landes in ihrem Denken danach ausrichtet, wie ist dann wohl dieses „sich mehr einlassen auf die chinesische Kultur“ gemeint? Eine interessante Einschätzung zur chinesischen Entwicklung gibt z.B. Tobias Zick (siehe Weiterführendes!). Auch Christof Kerkmann und Stephan Scheuer warnen vor zunehmender Einschränkung der Meinungsfreiheit in China: „‚Die Meinungsfreiheit hat sich unter Xi Jinping systematisch verschlechtert – sowohl auf der ideologischen als auch auf der praktischen Ebene,‘ klagt Kristin Shi-Kupfer. Sie leitet den Forschungsbereich Politik, Gesellschaft und Medien am Chinaforschungsinstitut Merics.“ Die Pressefreiheit unter Xi Jinping sei als eines von sieben Tabus erklärt worden, „die nicht mehr in der Gesellschaft diskutiert werden dürften, berichtet Kristin Shi-Kupfer. Zudem habe Xi den Medien im Land nicht den Raum für unabhängige Berichterstattung gegeben und stattdessen Loyalität zu Partei verlangt.“ (Handelsblatt vom 28.01.2019)
Weiterführendes
- Kerkmann, Christof/ Scheuer, Stephan 2019: China schottet sich ab. In: Handelsblatt Nr. 19 vom 28.01.2019, Seite 19
- List, Volker 2018: Kindertheater-Fest 2018 in Minden – ein Programm der Vielfalt und Kontraste
- List, Volker 2019: Kindertheaterfest 2018 in Minden – ein Programm der Vielfalt und der Kontraste. In: Spiel & Theater. Heft 203. April 2019. Weinheim: Deutscher Theaterverlag
- Zick, Tobias 2019: Ein Mann mit Feinden. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 22 vom 26./17.01.2019
- Theater-Zensur. Berliner Schaubühne bricht China-Tournee ab. Spiegel online. Mittwoch, 12.09.2018 12:37 Uhr
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