Theaterkritiker werden arbeitslos – Gob Squad präsentiert Koch- statt Theaterkunst
Nun ist es scheinbar Zeit, dass sich die Kabarettisten und Comedians des sog. zeitgenössischen, postdramatisch-performativen Wasauchimmers annehmen. Es wird leicht sein für sie. Sie brauchen nur zu dokumentieren und übernehmen die Arbeit von Theaterkritikern.
„Brexit-Spektakel im Hebbel-Theater Berlin – Die kürzeste Theaterkritik der Welt“, titelt SpiegelOnline. Und weiter: „Am 29. März 2019 um Mitternacht wird Großbritannien die Europäische Union verlassen.“ So kündigte das Theater HAU in Berlin die Aufführung „I love you, goodbye“ an. Unser Theaterkritiker Wolfgang Höbel schrieb ratlos an die Redaktion.
Samstag, 30.03.2019 12:22 Uhr
Liebe KollegInnen,
meine Theaterkritik über das Brexit-Spektakel „I love you, goodbye“ im Berliner HAU muss leider ausfallen. Es war keine kritisierbare Theaterinszenierung, sondern mehr ein fünfstündiger Kochabend auf offener Bühne, bei dem die Darstellerinnen und Darsteller ihre Lieblingsgerichte (Frankfurter Grüne Soße!) zubereitet haben.
Das ist, fürchte ich, für die SPON-Leser uninteressant, deshalb schreibe ich lieber nichts.
Herzliche Grüße
Wolfgang“
Manchmal hat man schon ganz stark den Eindruck, dass sich alles wiederholt, geschichtslos. Die jungen Wilden wollen immer alles Alte destruieren. Sie kennen aber offensichtlich die ganze Geschichte nicht. Sie gerieren sich als die Avantgarde, sind aber nur Sitzenbleiber.
1999 hat z.B. Carl Hegemann sehr schön beschrieben, und er war vermutlich nicht der erste, ich rezensiere ihn nur gerade, was die Theater-Revoluzzer vor Gab Squad (in Deutsch: „Maulschaft“ oder so) und Kollegen bereits trieben:
„Sandra Umathums Textsammlung Carl Hegemanns ist für Menschen, die den Dingen auf den Grund gehen und nicht nur wissen wollen, wie das Konstrukt Theater zerstört werden kann und auseinanderfällt, sondern auch wie es theoretisch betrachtet und praktisch zusammengebaut werden kann. 67 Texte aus einem Vierteljahrhundert (von 1980-2005) zeichnen die Denkbewegungen des leidenschaftlichen und komplex denkenden Theatermachers und -analytikers Hegemann nach. So offenbart sich nicht nur manche Paradoxie des Theaters, sondern auch die Suchbewegung nach dem, was Theater ausmacht und wohin es sich entwickeln könnte, sollte, müsste, zuweilen als unfertig, manchmal inkohärent und auch immer mal wieder als Paradoxie. An Castdorf und Marthaler zeigt Hegemann schlüssig, wie deren Bestrebungen, das Theater abzuschaffen gerade die Grenzen und Strukturen von Theater markieren und in einer KREISBEWEGUNG nach der beabsichtigten Zerstörung des Theater durch Gleichsetzung mit Realität wieder beim Geschichtenerzählen hinter der vierten Wand landen, wo sich auf der Bühne die Akteure mit ihren Rollen identifizieren und miteinander sprechen, während das Publikum zuschaut. (135) Nun wissen wir, welche Triebkräfte hinter Aussagen wie der folgenden stehen: „‘Ich bin doch hier der Wilde, ich bin doch der, der alles kaputtschlägt. Ich habe doch schon auf der Straße gestanden und die Leute agitiert, und jetzt bin ich auf einmal ein ganz gewöhnlicher Boulevardregisseur, da stimmt doch irgendwas nicht.‘“, so Christoph Schliengsief. (134).“ [Auszug aus meiner Rezension von: Hegemann, Carl 2005: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Herausgegeben von Sandra Umathum. Recherchen 28. Berlin: Theater der Zeit.]
So warten wir noch ein Weilchen, bis auch die Akteure von Gob Squad und Konsorten entweder mal nachlesen oder von selbst darauf kommen, was bei ihnen nicht stimmt. Und klammern uns an ein schwaches Stück Hoffnung, dass nicht jetzt im Schultheater nachäffend massenweise nur noch gekocht wird. Wäre zwar auch ganz schön, hätte aber nix mit Theater zu tun.
Quellen:
- http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/brexit-theaterauffuehrung-i-love-you-goodbye-in-berlin-geriet-zur-kochshow-a-1260464.html
- https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/gob-squad-i-love-you-goodbye/
- https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/kuenstler-in/adetail/gob-squad/
- https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16579%3Ai-love-you-goodbye-the-brexit-edition-hau-berlin-gob-squad-ueben-schon-einmal-fuer-den-abbruch-der-deutsch-britischen-beziehungen&catid=38&Itemid=40&fbclid=IwAR08DaRMHEA0qP8XecJbAmkZGovT01pezCFlBFaFr891x96Ia6nnYfze5ck
- http://www.gobsquad.com
- Hegemann, Carl 2005: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Herausgegeben von Sandra Umathum. Recherchen 28. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
Wolfgang Rohm meint
Das hat mit Kritik nichts zu tun, sondern ist bestenfalls arrogante Belehrung.
Volker List meint
Sehr geehrter Wolfgang Rohm, vielen Dank für Ihre Einschätzung. Wären Sie so freundlich mitzuteilen, mit welchen Argumenten Sie Ihr strammes Urteil begründen? Vielen Dank!
Beste Grüße
Volker List