[NÄHKÄSTCHEN 1]
Gescheitert – trotzdem Note „Sehr gut“.
Notengebung im Theaterunterricht
Aus dem Nähkästchen eines 40-jährigen Experimentierens und Forschens mit Klausuraufgaben auf der Suche nach geeigneten Benotungsgrundlagen
Seit vielen Jahren wird im theaterpädagogischen Diskurs über die Notengebung im Theaterunterricht gestritten, ob man die Leistungen von Teilnehmern in Theaterprojekten bzw. die von Schülern im Theaterunterricht bewerten und benoten kann und darf. Der Vergleich-und Konkurrenz-Gedanke ist weithin verpönt, weil dieser dem Neoliberalismus zuzuordnen und per se böse sei.
Für Theaterpädagogen und Menschen, die als solche ausgebildet wurden, die nicht in der Schule arbeiten und für die meisten Künstler und Wissenschaftler, die sich im theaterpädagogischen Bereich äußern, ist zumeist klar, bewerten geht gar nicht. Zumindest wird das Bewerten vehement im diesem Bereich vielfach abgelehnt. Man orientiert sich zwar sehr stark an dem, wie die Theaterprofis arbeiten, ignoriert aber, dass auch dort z.T. in heftigster Weise bewertet und „benotet“ wird, in Theaterkritiken (Verrisse und Lob) in Jury-Entscheidungen bei Festival-Wettbewerben, wo auch Schultheatergruppen um Preise konkurrieren; und als ob Applaus und Buh-Rufe keine Bewertungen seien. Nebenbei: Vergleichen, Konkurrieren, Bewerten sind Tätigkeiten, die Menschen von Anbeginn das Überleben sicherten und immer noch sichern.
Selbst der verantwortliche Leiter des einzigen grundständigen universitären Lehramtsstudienganges für Theater-Lehrkräfte im Uni-Verbund Hannover-Hildesheim-Braunschweig, Ole Hruschka, lehnt in seinem neusten Buch „Theater machen“ (2016) kategorisch ab, die Leistungen, die Teilnehmer auch in einem schulischen Theaterprojekt erbringen, zu bewerten und zu benoten. Dies hindert ihn aber nicht daran, gleichzeitig spezifische transparente Bewertungskriterien nach individuellen Qualitätskriterien zu fordern, ohne Lösungsangebote zu machen und diese Forderung zu operationalisieren.
Für weitergebildete Theater-Lehrkräfte ist klar, Theaterunterricht ist Schulfach und sie müssen, jedenfalls dort wo es von der Bildungsbürokratie gefordert wird, bewerten und Noten für die erbrachten Leistungen der Schüler erteilen.
Ein Problem zeigt sich, das noch nicht angemessen aufgearbeitet ist, und um das sich so mancher ganz offensichtlich herumdrückt und die Augen vor der Wirklichkeit verschließt.
Ich möchte hier ein Beispiel beschreiben, wie ein vermeintliches oder tatsächliches Scheitern im theatralen Lernprozess im Theaterunterricht in der Schule als herausragende Leistung transparent bewertet und benotet werden kann. Im Übrigen wird das Scheitern von der gleichen Klientel, die das Bewerten und Benoten ablehnt, als integraler Bestandteil im künstlerischen Prozess angesehen, ja teilweise sogar als notwendig und unverzichtbar für eine ästhetische Erfahrung gehalten. Ich halte nichts davon, meine Schüler vor die Wand laufen zu lassen, weil so eine Scheiterns-Erfahrung für sie angeblich wichtig oder gar unverzichtbar sein soll. Das erinnert mich ein wenig an die Geschichte mit dem Vater, der sein Kind auffordert, von der Mauer zu springen und ihm vermittelt, er werde es auffangen, das aber dann nicht tut. Das Kind fliegt logischerweise auf die Fresse. Der Vater: Jetzt hast du was Wichtiges fürs Leben gelernt: Trau keinem Menschen! Zurück zur Annahme, das Scheitern sei eine zumindest wichtige Erfahrung für Schüler bei der theaterpädagogischen Arbeit und im Theaterunterricht.
Ich setze gegen diese Haltung einmal ein Beispiel des vermeintlichen Scheiterns im theaterpädagogischen Prozess dagegen.
Zuvor müssen wir uns aber noch unterhalten über die zur Zeit allerorten praktizierte Umetikettierung des Theatermachens zum sogenannten experimentierenden Forschungstheater im Theater-Labor (vgl. auch das neuste Themen-Heft FOKUS Schultheater „Forschendes Theater“ 15/2016).
Hruschka z.B. definiert u.a. den Theater-Probenraum als „Versuchslabor“. Die Sprachverwendung lehnt sich an Begrifflichkeiten der vermeintlich „exakten“ Naturwissenschaften an bzw. übernimmt deren Begriffe, ohne aber deren streng methodisches Vorgehen, deren exakte intersubjektiv beschreib- und kopierbaren Kriterien und Gebote für die Abläufe von Experimenten, die zuvor gefasste erkenntnisleitende Hypothesen aufstellt, die es zu überprüfen gilt, um sie zu veri- oder zu fasifizieren, mit zu übernehmen.
Insofern fehlt diesen Experimenten in den Forschungslaboren der Theatermacher das Wesentliche dessen, was die Arbeit zu einem experimentellen Forschen in Laboren ausmacht. Es bleibt im Grunde ein spielerisches Suchen, bestenfalls lustvolles Herumexperimentieren im Sinne eines Wir-probieren-halt-mal-ein-bisschen-rum-und-gucken-was-so-passiert.
Diese Art zu Arbeiten ähnelt mehr dem freien Spiel und kann durchaus Kreativpotenzial wecken und zu interessanten Ergebnissen führen. Mit einer exakten wissenschaftlichen Methode, die durch die entlehnte Begrifflichkeit suggeriert werden soll, hat das aber wenig bzw. nichts zu tun. Hier gelten andere Maßstäbe.
Das, was wir theatral machen, bezeichnen wir als recherchieren, ausprobieren, improvisieren, erproben und dann als Probe. Wir haben die passenden Begriffe im Laufe der Theatergeschichte mühsam herausentwickelt.
En passant: In ähnlicher Weise sind Bestrebungen zu kritisieren über eine Umetiketterung eine Aufwertung zu bewirken, wie das mit der Überhöhung von Laien als „Experten“ und dem „Nicht-Perfekten“ zum neuen künstlerischen (postdramatisch-performativen) Spielprinzip geschieht; in diesem Fall, um das Publikum zu erhöhter Aufmerksamkeit und genauerer Wahrnehmung zu „zwingen“ (vgl. Naumann (2013)). Publikum lässt sich aber zu gar nichts zwingen. Publikum kann man bestenfalls locken.
Nun endlich zum Beispiel. In den 1990er Jahren habe ich versucht, Klausuraufgaben zu entwickeln, die nicht Wissen abfragen sollen, sondern so gestellt sind, dass sie nur mit Kompetenzen zu lösen sind, die alle Schüler in meinem Unterricht Gelegenheit hatten zu erwerben.
Eine Klausur-Aufgabe im Grundkurs der Jahrgangsstufe 13 mit dem Thema „Impro-Theater“ lautet: Übertrage die wesentlichen Merkmale des Impro-Theaters in ein anderes Genre. Eine Schülerin, die u.a. besonders interessiert im Fach bildnerische Kunst war, besprach mit mir vorab ihre sich selbst gestellte („Forschungs-„)Aufgabe und entschied sich dafür zu versuchen, diese Merkmale in Farben und Stofflichkeit zu transformieren. Sie hat für jedes von zehn Merkmalen eine Farbe und eine Stofflichkeit gefunden und ihren Forschungsprozess ausführlich dokumentiert und plausible und stringente Argumentationsstränge entwickelt. Ich habe mich von einem Kunstlehrer beraten lassen.
Sie scheiterte ihrer Meinung nach aber am Ende an einer Zusammenführung ihrer („Forschungs-„)Ergebnisse und konnte ihren Diskurs nicht in eine überzeugende Schlussfolgerung übersetzen und keinen – ihrer Meinung nach – überzeugenden Erkenntnisgewinn erzielen.
Sie war bei der Abgabe ihrer Hausarbeit, die sie als Klausur geschrieben hatte (also in Ruhe zu Hause unter zu Hilfenahme aller ihr zur Verfügung stehenden Mittel und Beratungsorgane), sehr traurig und erwartete eine schlechte Note für ihr „Scheitern“. Ich bat sie, ihr „Forschungsprojekt“, ihr erkenntnisleitendes Interesse und ihren dokumentierten „Forschungsprozess“ samt aller benutzten und erarbeiten Materialien in der Gruppe vorzustellen und ihre Begründungszusammenhänge zu erläutern und zu erklären, warum sie der Meinung ist, dass sie „gescheitert“ sei.
Sie stellte in einem ca. 15-minütigen prägnanten Vortrag – heute würde man sagen in einer „Lecture-Performance“ bzw. der Form, wie man sie bei einem „Science-Slam“ sehen kann – ihr „Forschungsprojekt“ und welche „Experimente“ sie dafür durchgeführt hatte, vor. Sie tat dies in einer Weise, die alle relevanten der zuvor festgelegten Benotungskriterien mehr als erfüllte, was für die gesamte Gruppe problemlos nachvollziehbar war.
Da die Schülerin vorab mit mir ihr „Forschungsvorhaben“ abgesprochen hatte, der Ausgang des „Experiments“ aber ungewiss war, konnte ein Ergebnis nicht als Notengrundlage dienen, sondern nur der nach den bekannten Kriterien durchgeführte Prozess des offenen „Forschens“. Sie hatte den Nachweis erbracht, selbstständig eine individuelle Aufgabe im Rahmen des Kurs- und Klausurthemas kreieren zu können, und diese in propädeutischer Weise auf hohem Niveau bearbeitet. Darum erhielt sie von mir die maximale Punktzahl.
Vielleicht hat ja mein Beispiel der Ansicht, dass in Schule „für Unwägbarkeiten von Forschung […] wenig Raum (Studt (2016)) ist, einen kleinen Fingerzeig geliefert, dass es sich lohnt, am Thema, der Suche – was Wissenschaft ja hauptsächlich tut – dranzubleiben, und die Notengebung im Theaterunterricht doch nicht vorschnell als Teufelswerk darzustellen, sondern ihre Bedeutung ernsthaft weiter zu erforschen.
Weiterführendes
- Hruschka, Ole 2016: Theater machen: Eine Einführung in die theaterpädagogische Praxis. Stuttgart: UTB
- Jurké, Volker/ Linck, Dieter 2006: Das Spiel mit dem „Nicht-Perfekten“. Aus dem Materialien-Reader zum Thema der Fachtagung beim Schultheater der Länder 2006. In: Schul Theater Info Niedersachsen Nr. 29 3/2007, S. 19
- Naumann, Kai 2013: Der ‚gefesselte’ Zuschauer – Leidvolles Sehen in Dario Argentos „Opera“. In: Barz, André/ Paule, Gabriela (2013): Der Zuschauer. Analysen einer Konstruktion im theaterpädagogischen Kontext. Münster: LIT: 69-88
- Studt, André 2016: Wollen – Wissen – Können. Was das Schultheater erforschen müsste. In: Bundesverband Theater in Schulen (Hg) (2016): FOKUS Schultheater „Forschendes Theater“ 15/2016
Zum NÄHKÄSTCHEN 2 – Theaterunterricht und Inklusion
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