Theaterpädagogik – radikal neu definiert?
Brachwitz, Christian/ Theater an der Parkaue (Hg) 2016: 10 Jahre Winterakademie Theater an der Parkaue. Beilage in Theater der Zeit. Heft Nr. 2. Februar 2016. Berlin: Theater der Zeit Verlag. 33 Seiten – Rezension
10 mal veranstaltete das Theater an der Parkaue in Berlin jährlich eine „Winterakademie“ für Kinder und Jugendliche unter dem Titel „Sagen wir …“; ein stimulierender Impuls zum Konstruieren einer Zweiten Welt.
Leben im Konjunktiv II/ im Konditional, in der Fantasie und der Kunst. Aber nicht als Flucht vor der Ersten Welt, der sogenannten realen, sondern als Welten-Labor, als Experimentier-Raum für Optionen.
Inhalt
- Wuschek, Kay: Denken wir, sagen wir, machen wir
- Marsch, Karola: Editorial
- Willenbacher, Sascha: Die Labore der Winterakademie als Praxismodell für eine strukturierte Offenheit
- Bunge, Sascha: To Be An Artist Or Nothing
- Stang, Christina: Teil von etwas Größerem
- Pinkert, Ute: Die Winterakademie – eine unsystematische Betrachtung in drei mal drei Fragen
- Bilderstrecke
- Boos, Nadine: Mit Kunst forschen und dabei Kunst erleben
- Enders, Doris: Wir sind alle Kollaborateure!
- Ries, Verena/ Schäfer, Janne: Kurzschluss der Labore – Re/En/Action trifft auf Winterakademie
- Winkel, Mirko: Ein echtes Spiel
- Marsch, Karola/ Behrmann, Stephan: Die Winterakademie – ein atmendes System
- Barca, Irina: Ein Haus auf Zeit
Das Projekt bezieht seine Energien aus unterschiedlichen Quellen. Diese möchte ich hier einmal beleuchten, scheinen sie sich vermutlich aus demselben Reservoir zu speisen, das generell (Theater-)Projekte erfolgreich und offen für eine Zukunfts-Welt macht.
Überdies weist das Theater-Labor der Winterakademie im Theater an der Parkaue einige wesentliche konzeptionelle Parallelen zu einer modernen Didaktik des Theater-Unterrichts bzw. Darstellenden Spiels in der Schule auf, trotz der erheblichen Unterschiede zwischen den Rahmenbedingungen bzw. den Formaten theatraler Freizeitgestaltung und Theater-Schulunterricht.
Meine Ausführungen hier beziehen sich auf die unterschiedlichen Perspektiven, die die dreizehn AutorInnen hier zum Besten geben, leider nicht auf eigenes Erleben und Anschauung.[1]
Dennoch, das sei vorab den Autoren bis auf wenige Ausnahmen zurückgemeldet, liefern sie recht prägnante und gut nachvollziehbare Schilderungen ihrer Konzeptionen und der daraus entstandenen Praxis ihrer Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Schon auf der zweiten Seite werde ich eingenommen von der klaren Absage der Macher an das neoliberale Marketing-Geschwätz von den angeblichen „Experten des Alltags“, wenn in Wahrheit doch nur Laien und Amateure gemeint sind. Es geht eben nicht darum, lieben zu lernen, wenn jemand mit Worten verwirren kann.
Rückseite des Heftes Theater der Zeit Nr. 2/2016
Es geht schon eher darum, im Sinne einer aufklärerischen Kunst-Tradition, Kinder und Jugendliche die Möglichkeiten erkennen UND erleben zu lassen, wie ästhetische Prozesse eine Freiheit im Denken und Handeln befördern können, die im Dienste eines emanzipativen Bestrebens stehen. Oder einfacher: Den Kids helfen, reibungsflächenbietend groß zu werden in einer friedfertigen und doch wehrhaften Gesellschaft ohne personale und insbesondere strukturelle Gewalt.
„Jeder hat eine zweite Welt; und manchmal ist es die erste eines anderen. […] Nicht nur in ihren Träumen, Wünschen und Utopien, sondern auch in ihren Selbstbildern, zum Beispiel in ihren moralischen Selbsteinschätzungen, scheinen sich Menschen regelmäßig andere, ergänzende Welten zu fabrizieren. […] Nicht nur (mindestens) zwei Welten gehören somit zu unserem Bei-Verstand-Sein.“ (Pfaller: 156/160) Die Kunst, vor allem das Theater, bietet eine grenzenlose Zweite Welt an (den Konjunktiv II), um Leben zu üben (vgl. auch Hawemann) und eine mögliche Zukunft erahnen zu lassen, im besten Falle eine Vision zu kreieren und ein konkretes Bild von menschlichem Zusammenleben zu konstruieren. Andernorts nutzt man diese Fantasiearbeit auch schonmal im Format des Planspiels.
Hier geht es um ästhetisches Forschen mit den Techniken und Methoden der Kunst in einem offenen Raum; primär prozessorientiert, ohne ein Abschlussprodukt bzw. eine Präsentation zu vernachlässigen.
Kommen wir zur ersten Quelle erfolgreicher (Theater-)Projekte. Sie wird gleich zu Anfang im Editorial von Karola Marsch benannt: Das gemischte/ heterogene Team: „[…] es versammelten sich die verschiedenen Profile theaterwissenschaftlicher, dramaturgischer und pädagogischer Ausbildung: Neben der Quereinsteigerin mit einigen Jahren Berufserfahrung kamen hier Absolventen der Gießener und Hildesheimer Schule und der Dramaturgieinstitute in München und Hamburg zusammen.“ (2)
Dass Teams, insbesondere klug gemischte Teams, erfolgreicher sind als Einzelarbeiter oder in Kompetenz und Weltsicht gleiche oder gar gleichgeschaltete Teammitglieder lehren Lebenserfahrung, Berufserfahrung und wissenschaftliche Untersuchungen (vgl. z.B. auch die Teamrollen bei Belbin[2]).
Wer (Theater-)Unterricht und (Theater-)Projekte zusammen mit KollegInnen anderer Fachrichtungen und unterschiedlicher Persönlichkeitsmerkmale geleitet hat, weiß um den inspirierenden Impuls der Verschiedenartigkeit, der Diversität.[3]
Berufliche Quereinsteiger sind auffällig engagierter, kritischer und bereichern mit ihrem distanzierteren Blick die Arbeit von Fachteams, wie überhaupt komplexe Berufserfahrungen Kompetenzen erzeugen, die noch jungen Absolventen von Schulen und Universitäten natürlich noch fehlen.
Ein weiteres von offenem Realitätssinn getragenes Statement, das vermutlich den Erfolg des Projektes mitprägt, trägt Willenbacher in seiner Beschreibung schon im Titel vor: „Die Labore der Winterakademie als Praxismodell für eine strukturierte Offenheit.“
Auf ein Paradoxon zu bauen ist wohl nur Künstlern möglich. Diese Chance nutzt das Team, wie in den folgenden Aussätzen zu lesen ist. Ein hohes Maß an Offenheit stellt erhebliche Herausforderungen an die Ambiguitätstoleranz und trainiert das Durchhaltevermögen. Das sind zentrale Kompetenzen (soft-skills), will man Kinder zukunftsfest machen, damit sie eben nicht später im neoliberalen Getriebe zerrieben werden. Nichts Anderes steht ganz oben auf der Agenda eines guten schulischen (Theater-)Unterrichts.[4]
Parallel-Welten kreisen auch im Theateruniversum scheinbar umeinander und nehmen offensichtlich noch keine oder zu wenig Notiz voneinander. Schotten sich die Welten bewusst ab? Pflegt man lieber seine Vorurteile? Ich spitze zu: Auf der einen Seite die Theater-Profis: „Schule richtet Menschen nur für den neoliberalen Markt ab!“ auf der anderen Seite die (Theater-)Lehrkräfte in Schulen: „Künstler haben ja so gar keine Ahnung vom wirklichen Leben und von der aktuellen Schulsituation, sprich: dem Schultheater und Theater-Unterricht im Besonderen sowieso nicht und von Pädagogik schon gar nicht?“
Hier die Kunst, da die Schul-Pädagogik. Es hat sich in der letzten Dekade in dieser Hinsicht noch nicht genug bewegt, mal abgesehen von den Initiativen, Künstler für begrenzte Projekte unter meist unverhältnismäßigem Aufwand in Schulprojekte einzubinden.[5]
Die Aufsätze durchzieht demzufolge neben dem Gedankenstrang Kunst vs. Pädagogik ein weiterer Diskussionszweig, nämlich den der Kontroverse Prozess vs. Produkt. Damit stellt sich gleichzeitig die Frage für das Schultheater, ob Festivals im Format Bestenauswahl und der entsprechenden Präsentation noch zukunftsfähig sind und nicht auch hier eine andere Welt fantasiert und gedacht werden sollte, die dem Endprodukt nicht mehr diese der Profi-Welt nachgeäffte Dominanz im theatralen schulischen Lernprozess überstülpt.
Warum ein Gedankenstrang Theater in der Freizeit vs. Theater in der Schule nicht entwickelt wird, möchte ich hier als Frage stellen. Ebenso: Was können Theater-Lehrkräfte aus dem Projekt Winterakademie lernen? Und umgekehrt mit Pfeiffer gefragt: Was könnten die Kunst-Experten der Parkaue von Theater-Lehrkräften lernen, unter denen es sicherlich auch ausgewiesene Experten für die Gestaltung von ästhetischen Lernprozessen hinsichtlich der pädagogischen Implikationen gibt? Offener Raum zum Strukturieren einer Welten-Begegnung.
Vielleicht können sich die Macher an der Parkaue auch hier noch weitere Inspirationen holen, um eine offene Zukunft zu strukturieren.
Was gibt es noch an klugen Setzungen der 10-jährigen Erfolgsgeschichte der Winterakademie neben den gemischten Teams zu entdecken?
Weitere Kriterien sind vermutlich auch die Altersheterogenität der Beteiligten und eine durchaus durchdachte pädagogische Struktur ohne Festlegung von inhaltlichen überprüfbaren Endzielen. Der Prozess ist Weg und Ziel. Marsch beschreibt diese „Konstanten“: „Mindestens zwei, besser drei Vorbereitungstreffen mit allen Künstlern, Dramaturgen und Theaterpädagogen, zahlreiche und vielfältige Inputvorträge, gemeinschaftliche Konzeptionsvorstellungen, ritualisierte Eröffnung am ersten Tag der Winterakademie, Arbeit im künstlerischen Labor, abendliche Lounges, lunch lectures, Exkursionen und Expertentreffen in der Woche und schließlich die große, öffentliche Abschlusspräsentation mit anschließendem Buffet und Party.“ […] Sowohl das Format als auch die Methode (entwickelten sich) ständig weiter. Grundsätzliche Fragen blieben dennoch: Wie können Partizipation und Teilhabe zu Kollaboration werden?“ (2)
Bei dieser Beschreibung fallen mir wieder Parallelen zu Projektwochen in Schulen auf, in denen eine ähnliche offene und lerntheoretisch und -praktisch stimmige Struktur Lernräume für die Schüler eröffnen, die zuverlässig zu einem ähnlich konstruktiven Lernklima führen. Auch fühle ich mich bei Marschs Aufzählung an zahlreiche Großgruppenveranstaltungen in Unternehmen und Organisationen zur Initiation und Steuerung von Veränderungsprozessen erinnert, um diese großen Gruppen verschiedenster Menschen strukturiert in eine offene Zukunft zu führen. Eine weitere andere Welt, die aus den Überlegungen ausgeblendet erscheint, in der sich die meisten Kinder später zurechtfinden müssen. Dennoch bilden die beschriebenen Strukturmerkmale des Kunstprojektes in den wesentlichen „Konstanten“ den Raum ab, in dem die Kinder wichtige Kompetenzen trainieren können, die sie später als Erwachsene benötigen. Soviel vorab mal zur Nützlichkeit von Kunst und ästhetischer Arbeit, wenn man kein Anhängsel des Dogmas einer sogenannten Kunstautonomie ist, sondern die Möglichkeits-Welten zum Partizipations- und Kollaborations-Training sucht. Das sollte eigentlich die vornehmste Aufgabe von Schule und Pädagogik sein.
Willenbacher präzisiert diese Verantwortung der Älteren gegenüber den Jüngeren, indem er als das „Wertvollste“ für sich formuliert, dass es bei der Winterakademie „auf die Initiierung und Sichtbarmachung sozialer [sic!] Prozesse ankommt.“ (3) Insofern bietet die Winterakademie Anhaltspunkte dafür, „wie sich Offenheit in künstlerischen Prozessen strukturieren lässt.“ (3) Und das ist gleichermaßen die zentrale Frage und Herausforderung einer Didaktik für schulischen Theater-Unterricht, die sich nicht in endlos wiedergekauten theoretisch-allgemeinen(!) Formulierung, was denn wie gemacht werden sollte, erschöpft, sondern konkrete Hinweise, Impulse und konkrete(!) Anleitung gibt, wie so ein offener Prozess Schritt für Schritt ablaufen kann, in dem die Beteiligten nicht inhaltlich gegängelt werden, aber eine Struktur erhalten, die ihnen eine erste Orientierung vermittelt, in welchem Raum sie sich befinden, welche Regeln dort gelten, wie sich diese Regeln über gemeinschaftsstiftende Rituale und Traditionen manifestieren und welche ersten Schritt unter Anleitung gegangen werden sollten, welche Baukästen, welches Baumaterial ihnen zur Verfügung steht und wie mit den Werkzeugen gearbeitet wird, damit sie eine Kompetenz aufbauen können, die nächsten Schritte alleine weiterzugehen. Das „Paradox“ eines zu strukturierenden offenen Raumes ist auflösbar. Die Winterakademie und guter Theater-Unterricht belegen es.
In Bunges Aufsatz „To Be An Artist Or Nothing“ spürt man noch etwas deutlicher in Gedankenfolge und Sprache die Verhaftung im veralteten Lagerdenken in zwei Welten – hier die Kunst und dort die Pädagogik – wenn Bunge in der Winterakademie im Theater an der Parkaue „ein durch und durch unpädagogisches Format“ zu erkennen glaubt. Welch ein verstaubter denunzierter Begriff von Pädagogik ist hier Maßstab, in dem „die Pädagogik der Form und Legitimation halber drüberstand.“
Zweifellos ist seine ernstgemeinte Forderung nach „Überforderung“ der Kinder die zunehmend gesichtete neue Sau, die gerade durch Theatertheoriedörfer getrieben wird, höchst unpädagogisch und widerspricht aller Lebenserfahrung und allen ernsthaften wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sinnvolle Lernprozesse erfolgreich verlaufen können. Ganz sicher nicht durch eine „Überforderung“, sondern im Idealfall durch eine einfühlsam gestaltete Herausforderung, die dem Lernenden als leistbar erscheint. Andernfalls wird er demotiviert. Das ist die Kunst der Pädagogik, mit der sich Bunge mal ernsthaft beschäftigen sollte.
Stang nähert sich in ihrem Beitrag „Teil von etwas Größerem“ mit scheinbar mehr Gespür für die Zusammenhänge des Lernsettingkonzepts der Winterakademie, wenn sie das gemeinsame Erleben von Teilnehmern und Künstlern als zentralen Moment beschreibt. Dies geht nicht, ohne eine entsprechende Vertrauensbasis zwischen den Beteiligten, wie sie jedem Lernprozess zugrunde liegt. Kleines pädagogisches Einmaleins, auf das bereits Marx aus politischer Perspektive verwiesen hat: „Erst in der Gemeinschaft [mit andren hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.“ (Marx: 74) Hier scheint auch die Auseinandersetzung mit der Zweiten Welt den richtigen Stellenwert zu erhalten, wenn sie auf das Ziel der Arbeit verweist: „’Visionen für eine bessere Welt entwerfen und umsetzen’“ (7)
Das Mittel dazu sieht sie, Helga Kempf-Jansen zitierend, im ästhetischen Forschen: „’Forschen’ impliziert hier in erster Linie Gemeinsamkeit, Hierarchiefreiheit, Bezug zur Alltagswelt der Forschenden und Ergebnis Offenheit. ‚Ästhetische Forschung bezieht sich (…) auf alle real gegebenen wie fiktiv entworfenen Dinge, Objekte, Menschen und Situationen. Sie bedient sich aller zur Verfügung stehenden Verfahren, Handlungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten aus den Bereichen der Alltagserfahrung, der Kunst und der Wissenschaft. Sie ist prozessorientiert und hat doch Ziele. Sie ist weitgehend frei in den Organisations- und Entscheidungsformen und wird somit in hohem Maße individuell bestimmt und verantwortet. Sie knüpft an Bekanntes an und führt zu individuell Neuem, sie ist intensiv und erreicht in gelungenen Formen Momente des Glücks.’ […] und so kommen wir von Partizipation über Identifikation zur ‚Ermächtigung’.“ (8) „Ermächtigung“, ein großes, um nicht zu sagen monumetales Wort. Als Politikwissenschaftler erschauderst mich immer ein bisschen. In der Steigerung „Selbstermächtigung“ noch mehr. Selbstentfaltung kann sich nicht individuell, sondern nur in einer Gemeinschaft in einem kollektiven/ politischen Prozess entfalten. Warum ist der treffende Begriff der „Emanzipation“ hier fast vollkommen verschwunden?
Pinkert spricht in ihrem Beitrag „Die Winterakademie – eine unsystematische Betrachtung in drei mal drei Fragen“ ganz unwissenschaftlich unprätentiös über einen besonderen Einbruch des Realen in ihre Familien- und Mutter-Welt, wenn Sie die Erfahrungen ihrer Tochter als Teilnehmerin mehrerer Winterakademien wie folgt beschreibt: „Die Winterakademie hat meine Tochter besonders in ihrer politischen Haltung stark geprägt. Sie hat eine besondere Sensibilität für Gerechtigkeit innerhalb einer Gruppe entwickelt und hat gelernt, kritisch zu denken, Phänomene der sozialen Wirklichkeit zu hinterfragen und als veränderbar zu begreifen. Das THATER AN DER PARKAUE hat sie als einen großen Möglichkeitsraum wahrgenommen; dass man dort auch Theaterstücke anschauen kann, ist eine völlig andere Sache.“ (12) Ich bin verblüfft, liest sich doch dieses Erfolgsagenda wie zu einem Seminar zur politischen Bildung gehörend und nicht nach Lernergebnissen ästhetischen Forschens im Theater. Man kommt wohl nicht um die Erkenntnis herum, dass die beiden Welten Kunst und Leben eine große nützliche Schnittmenge haben können.
Mit dem Akademie-Gedanken scheint die Winterakademie auf dem richtigen Weg zu sein, hat man doch erkannt und so formuliert es Pinkert auch, dass die Einbeziehung von wissenschaftlichem Expertenwissen notwendig wurde. Scheint ja klar: Forschen ohne Wissenswerwerb funktioniert nicht. Kunst ins Blaue bleibt farblos. Und: Ohne Kompetenz keine Kunst. Zum Kompetenzerwerb gehört nunmal Wissen und Handeln. Beides scheint die Akademie zu liefern und liefert damit Anregungen und eine Musterlösung für gutes Lernen und gute Schule.
Eine einfühlsam gemachte Fotostrecke lädt zum sorgfältigen Betrachten ein und vermittelt einen Eindruck des Geschehens.
Boos’ Zusammenstellung in „Mit Kunst forschen und dabei Kunst erleben“ stößt überzeugend zum Kern der ganzen Geschichte vor und belegt damit das offiziell und andernorts denunzierten pädagogischen Impetus der Macher – vermutlich erworben durch trial and error, wohl weniger durch vorgelagertes sorgfältiges Studium der Pädagogik oder Fortbildungen bei kompetenten (Theater-)Lehrkräften. Sei’s drum, die Erkenntnis ist da: „Die Begeisterung der Kinder und Jugendlichen steht und fällt häufig bereits mit einer guten Fragestellung: je konkreter, desto besser!“ (19) Die zentrale Frage eines jeden Anfangs-Lernprozess-Impulses aus dem kleinen Einmaleins der Pädagogik. Die Antwort führt sofort medias in res in forschende Praxis. Geht doch.
Weitere Fragen führen schnurstracks in die heißen Zonen einer guten Lehrerqualifikation: „Wie gelingt die Transformation vom großen, übergreifenden Thema zur greifbaren Fragestellung, die keine bloße Verifizierung einer wahrscheinlichen These ist und eine Selbstvergewisserung eines bereits vorhandenen Gedankenkonstrukts? Braucht es eventuell eine konkrete Versuchsanordnung?“ (19) Ja, braucht es. Jedenfalls für guten Unterricht.
Explizit wird beim Lernen ein „Bezug zur Gesellschaft“ (19) gefordert wo „tatsächliche Handlungen vollzogen werden, welche über den spielerisch-verabredeten Schutzraum [der Zweiten Welt] rein künstlerischer Arbeit/ der Laborräume hinausreich[en].“ (19) Ab in die Zweite Welt, raus aus der Schule, heißt auch das Motto guter Schulen.
Ja, und die „Kunstform (steht) nicht im Vordergrund“, und es gehe auch nicht darum „diese in Perfektion zu ‚erlernen’“ (19), bildet die pädagogische Forderung einer notwendigen didaktischen Reduzierung ab, die dem Lehrer die Pflicht auferlegt, den Lernraum nicht nur altersgemäß abzustecken und auszustatten, sondern auf die mögliche Potentialentfaltung der Teilnehmenden abzustimmen, so dass der Lernraum als eine inspirierend-motivierende HERAUS-Forderung erscheint, nicht als abschreckende und demotivierende ÜBER-Forderung. Die Forderung nach einer Überforderung zeugt von einer pädagogischen Unkenntnis, wie Lernprozesse ablaufen, und wird immer häufiger hörbar als neues aufkommendes Mantra von ausgewiesenen NICHT-Experten (vgl. z.B. Primavesi/ Deck (2014): Stop teaching!).
Und da wir gerade dabei sind, sprechen wir ein zweites Mantra an, das überwiegend aus Künstlerkreisen zu hören ist, es dürfe nicht bewertet werden, weil Notengebung in der Schule praktiziert wird und pfui ist. Dank an die Autorin, dass sie es anspricht, als eine von sehr Wenigen. Selbstverständlich gehört das Bewerten und Vergleichen von Vorgängen zur Überlebensstrategie von Menschen, von Anfang an. Ohne Bewertung gibt es keine Orientierungs- und Entscheidungsfähigkeit bzw. -freiheit. Es kommt darauf an, dass Bewertungen für andere nachvollziehbar begründet sind, dass sie fair sind, dass sie konstruktiv sind. Sie sind Voraussetzungen für Anwendungen und Handlungen: „Da Forschung nur dann relevant ist, wenn sie einen Adressaten findet, welcher die Erkenntnis berücksichtigt und direkt anwendet, zeichnet sich in den vergangenen Jahren eine Weiterentwicklung ab.“ (20) Man erkennt in der Ersten Welt die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Intervention, schreibt wirkliche Petitionen in der Zweiten Welt, gründet in der Zweiten Welt einen wirklichen Verein, testen „Wohnformen“ als „Kulturinstitutionen“ (Winkel: 26) live oder lässt wenigsten das Publikum an Planspielen partizipieren, so dass sich die Grenzen zwischen Erster und Zweiter Welt verflüssigen (auch so ein neues Wort, das gerade durch die Theaterdörfer getrieben wird, aber ganz brauchbar).
Insgesamt scheint Boos in dem Reader zum Jubiläum am klarsten die wesentlichen Dinge zu formulieren und es ist rational nicht nachvollziehbar, warum „pädagogische Begriffe vermieden“ werden (Pinkert: 9), denn die Absicht, in den Laboren die leitenden Künstler mit den Kindern als in einem gleichberechtigten Verhältnis stehend anzunehmen ist Illusion und weltfremd. Vielmehr würden sich die künstlerischen Leiter dem berechtigten Wunsch nach Leitung und Führung der jungen Menschen – wenigstens in der Anfangsphase, bis sie selbstbestimmter und selbstverantwortlicher geworden sind – entziehen und damit die Verantwortung als kompetente Experten im Arbeitsprozess verweigern. Das wäre sehr unpädagogisch. Es wäre darüber hinaus auch unehrlich, diese Expertenrolle zu leugnen, die die Künstler und Impulsgeber nun mal tatsächlich innehaben, und so zu tun als hätten die noch inkompetenten Kinder die gleicher Rechte wie die kompetenten Erwachsenen. Summerhill lässt grüßen!
Behrmann formuliert in diesem Sinne erfahrungsbezogen und realistisch das Konzept der Winterakademie folgerichtig und konsequent als ein pädagogisches: „Themen und Ästhetiken bedürfen der Übersetzung in eine Spielanordnung. Ein spielerisches, künstlerisches Setting beinhaltet zwangsläufig Lenkung, Steuerung und Wissensvorsprung und ein gewisses diktatorisches Moment. Aber solange dieser konzeptionelle, handwerkliche (einen künstlerischen Werkzeugkasten anzubieten) oder organisatorische Vorsprung nicht verschleiert wird und es möglich ist, das eigene Setting in Frage zu stellen und gemeinsam zu verändern, ist gerade das eine Voraussetzung für kollaboratives Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen.“ (Behrmann: 29) und „Kunst als Teil eines sozialen Prozesses“ zu begreifen (Barca: 30).
Boos’ Artikel hinterlässt eine gedanklich-argumentative Lücke, wenn nach einer ganzen Reihe Beschreibungen von Aktionen und Handlungen, welche klar und primär einer politischen Bildung zuzurechnenden sind, plötzlich am Ende alle Aktionen als Kunst bezeichnet werden: „Die Winterakademie war in insgesamt zehn Jahren und 102 Laboren mit 1025 Kindern und Jugendlichen immer eine Herausforderung [keine Überforderung!] für alle – und das im besten Sinne: die einer unglaublich spannenden und wandelbaren Langzeitforschung zur Kunst, mit Kunst zu forschen und dabei Kunst zu erleben und zu schaffen. Nun ist es Zeit für Neues! Deshalb: Sagen wir wir brechen auf!“ (20) Als Leser frage ich mich, warum sollte es nach so viel erfolgreicher Arbeit mit so einem erfolgreichen offenen (!) Konzept, das immer Neues zulässt, jetzt Zeit für etwas Neues sein? Was soll das neue Neue sein? Eine Rückkehr in die Romantik, um den Topos der Verschmelzung von Kunst/ Poesie und Leben zu reanimieren? Ein Hinweis der Autorin wäre hier hilfreich.
In den folgenden Artikeln werden die bereits angesprochenen Themen weiter entfaltet, Reibungsflächen komprimiert, Positionen zugespitzt und aus weiteren Perspektiven beleuchtet.
Durchgängig wird sichtbar, dass die Macher es offensichtlich geschafft haben, mit den Kindern die verschiedensten Live-Gegen-Welten zu kreieren und zu konstruieren, die sich nicht von der Ersten Welt abgrenzen oder deren Atomisierungtendenzen durch plattes Dekonstruieren und Gleichmachen der theatralen Mittel auf der Bühne wiederholen, sondern im Gegenteil die Verbindung und den Rückbezug suchen.
„Die Winterakademie dient(e) der Errichtung einer temporären Gegenwelt, in der wir uns – innerhalb eines klar abgesteckten Rahmens und ganz freiwillig – Verantwortungsverschiebungen, Aufgaben und Themen widmen konnten, die in der ‚Echt-Welt’ vielleicht belächelt oder als abgehoben gelten könnten. Diese Beschäftigung, das Durchhalten, die Ergebnisse und Erfolge werden hier, mögen sie auch noch so absurd sein, in einer anschließenden öffentlichen Präsentation anerkannt. Eine große ‚Minecraft’-Welt also, in der man zusammen mit anderen konkrete Lösungswege für die ‚Echt-Welt’ vordenken und ausprobieren kann“ (Winkel: 26) Konstruieren statt de(kon)struieren.
Im letzten Artikel des Heftes werden die zahlreichen vorher gemachten sinnvollen Differenzierungen und das feinfühlige Nachspüren, wie denn nun ästhetisches Forschen und kulturelles Lernen am besten gehen könnten, leider wieder relativiert und in Frage gestellt und die abgedroschenen Floskeln von der „angewandte[n] Dekonstruktion“, der „Überforderung“ usw. zu der bekannten wenig zukunftsfähigen Kunstkonzeption verwoben. Schade. Das Heft hätte einen würdigeren Schlussartikel verdient; dieser ist leider keine „zur Subversion einladende Setzung.“ (Barca: 32)
Zur Subversion kann man nicht einladen.
Subversion geht anders.
Dennoch.
Das Heft könnte helfen sowohl die beiden Welten der Theater-Künstler auf der einen und der Theater-Pädagogen und Theater-Lehrkräfte auf der anderen Seite näher zusammen zu bringen (Oder rechnen sich die Theater-Pädagogen eher zu den Künstlern? Oder sitzen sie zwischen den Stühlen?), als auch Anstoß für professionell mit Theater beschäftigte Menschen geben, weiter an konstruktiven Methoden zu forschen, wie sich Erste und Zweite Welt gegenseitig befruchten können.
Avant-garde ist anfangs wegweisend. Ist sie nicht offen für Neues und verändert sie nicht laufend ihren Fokus und peilt sie keine neuen Räume hinter dem Horizont an, dann tritt sie auf der Stelle, wird irgendwann konservativ, behindert Weiterentwicklung und wird überrollt und vergessen. Kunst die keinem mehr etwas sagt, verliert den Kontakt zum Sozialen, ihrer wichtigsten Basis.
[1] „Ich kann nicht sagen, welches Bild sich die Leser aus den aufgezeigten Blickwinkeln machen werden. Ich wäre gespannt, davon zu erfahren.“, meint Karola Marsch im Editorial. Voilà, hier das Bild eines Lesers.
[2] Einen Hinweis auf die besondere Bedeutung der Zusammensetzung eines Ensembles oder Teilgruppen liefert Belbin mit seiner Teamrollentheorie aus der Sicht der Betriebspsychologie. Belbin (http://www.belbin.com) hat festgestellt, dass Teams dann besonders erfolgreich sind in der Zielerreichung, wenn neun Teamrollen in ihnen vorkommen: Neuerer/ Erfinder, Wegbereiter/ Weichensteller, Koordinator, Macher, Beobachter, Teamarbeiter, Umsetzer, Perfektionist und Spezialist.
[3] Vgl. List, Volker 2014: Kursbuch Theater machen. Stuttgart: Klett: 20f „Synergie durch Vielfalt“.
[4] Vgl. die EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung im Fach Darstellendes Spiel), die da lauten:
„Lebensweltliche Bezüge in die Gestaltung einbeziehen.
Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Theater herstellen.
Für die eigene Gestaltung Möglichkeiten soziokultureller Partizipation entwerfen.“ (EPA: 13)
[5] Jurké schildert ein Beispiel eines solchen Projektes: „Den ca. 60 SchülerInnen steht also ein Projekt-Team von 16 BetreuernInnen […] gegenüber, pro Klasse entsprechend ein Team von ca. 4-5 BetreuerInnen“. Das wäre wünschenswert für Schule generell, aber von einer solchen Welt können Lehr-Kräfte nur träumen. Wenn solche Projekte dann nur funktionieren „dank des extrem [sic!] hohen engagierten Einsatzes der KünstlerInnen und KollegInnen“, wird die Fragwürdigkeit solcher Aktionen offensichtlich. (Jurké: 38) –
Pfeiffer entwirft – ganz im Gegensatz zu Jurké – ein realistisches Konzept schulischer Theaterarbeit, die die beiden Welten langfristig zusammenbringen kann: „Vielleicht könnten Ministerien, Schulleiterinnen und Schulbehörden Strukturen schaffen, die Theaterschaffende nicht als pop-up-artist in Schulen verpflanzen, sondern als Wegbegleiter installieren. Vielleicht ließen sich Coaching- oder Beratungsstellen schaffen, in denen ein kleines Team von Künstlern für ein festes Gehalt ein bestimmtes Kontingent an Beratungsstunden anbietet, die von Schulen abgerufen werden können. So wird mal ein frischer und professioneller Blick von außen oder ein Feedback auf die Arbeit im Kurs eingeladen, mal Impulse für die Weiterarbeit eingeholt – ein Coaching in ästhetischen oder methodischen Fragen. Das schafft für alle Beteiligten größere Kontinuität. Lehrerinnen hätten langfristig eine künstlerisch geschulte Partnerin an ihrer Seite. Künstlerinnen könnten Wissen um spezifische Arbeitsumstände, bisherige Produktionen, Unterrichtsstil und die Besonderheiten der Schülerschaft in ihren Impulsen mit einbinden, die damit wiederum produktiver würden – und hätten darüber hinaus auch die Möglichkeiten eines kalkulierbaren Einkommens.
Andersherum könnten Lehrerinnen Methoden- und Vermittlungskompetenz an Künstlerinnen weitergeben und sie motivieren und befähigen, auch die Vermittlung ihrer Arbeit zu gestalten: Wie können Formate für Aufführungsvor- und -nachbereitung oder Publikumsgespräche aussehen, die für Schülerinnen unterschiedlicher Altersstufen interessant sind und im Idealfall sogar praktische Impulse für die Arbeit im Unterrichtszusammenhang geben? So etwas lässt sich nicht ohne das Expertenwissen von Lehrern konzipieren, die uns spiegeln, was sich als Ausgangs- oder Anknüpfungspunkt eignet und welcher Aspekt einer Produktion möglicherweise aus einer schulischen Perspektive heraus überhaupt interessant sein könnte.“ (Pfeiffer: 35)
Weiterführendes
- Hawemann, Horst 2014: Leben üben. Improvisationen und Notate. Recherchen 108. Hg. von Christel Hoffmann. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Jurké, Volker 2015: Achtung Erkenntnis! Teil II. Theater macht Schule – SprachRäume-SprechOrte. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik. Heft 66. 2015. Uckerland: Schibri: 38-42
- Kämpf-Jansen, Helga 2004: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Tectum
- Kultusministerkonferenz 2006: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) im Fach Darstellendes Spiel. Beschluss der vom 16.11.2006
- Marx, Karl/ Engels, Friedrich 1972: Die deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3. Berlin: Dietz Verlag
- Ostermeier, Thomas 2016: Wir Ichlinge. Wie Theater als vorpolitischer Raum der Vereinzelung im Neoliberalismus entgegenwirken kann. Thomas Ostermeier im Gespräch mit Wolfgang Engler. In: Theater der Zeit. Nr. 2 Februar 2016. Berlin: Theater der Zeit Verlag: 25-28
- Pfaller, Robert 2012: Zweite Welten. Und andere Lebenselexiere. Frankfurt a. M.: S. Fischer
- Pfeiffer, Malte 2015: Beziehungen statt Affären! Für eine kontinuierliche Zusammenarbeit von Künstlern an Schulen. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015. Uckerland: Schibri: 34-35
- http://www.winterakademie-berlin.de