Wie können ästhetische Visionen im theatralen Lernprozess und im System Theater als Orientierung dienen und für alle im Ensemble Richtung weisend sein?
Visionen konturieren – die schwierigste Phase in einem Theaterprojekt.
„Was zählt ist in Dingen der Kunst stets das Eröffnende mehr als das Erreichte […] In dem, was geschieht, registriert ästhetische Erfahrung das Aufblitzen von etwas ‚anderem’, eine Möglichkeit, die noch aussteht, utopisch die Verfassung von etwas unbestimmt Angekündigtem behält.“ (Lehmann 2005: 32f).
In den Visionen zu einer Eigenproduktion können sich die Konturen von Entwürfen neuer Lebenswelten zumindest abzeichnen. Vassen fordert, dass „Theater auf der Grundlage der Erforschung von sozialer Wirklichkeit als Handlungsmodell für Gesellschaft dienen kann“. (Zit nach: Deck/ Primavesi 2014: 141)
Das Thema Ästhetische Vision ist ein ganz Zentrales für Kulturgemeinschaften und zivilisierte Gesellschaften. Ohne eine Vision – oder konkret formuliert: ohne ein langfristiges übergeordnetes Ziel – treten Gesellschaften auf der Stelle.
Es sind zusätzlich zu den bewährten Wahrnehmungsmöglichkeiten neue zu schaffen. Bewährte Dinge sind zu überprüfen, ihrer Selbstverständlichkeit durch bewusste Verfremdung zu berauben (Brecht). Altbekanntes kann auf der Spielfläche als veränderbar gezeigt werden. Fremdheitserfahrungen können ängstigen, aber auch kulturelle Bildungsprozesse in Gang setzen durch eine Fragehaltung und Erzeugung von Neugier, die die traditionelle Schule den Schülern eher auszutreiben scheint.
Wir erleben das ja auch allerorten in der Visionen-Losigkeit der Mächtigen der Welt, seien es nun diejenigen, die sich die Ressourcen aneignen oder bei vielen Politikmenschen. Kurzfristiges Profitdenken und übersteigerte Individualität feiern da fröhliche Urständ des Faustrechts in der Post-Moderne. Nur heute gibt sehr ausgefeilte Techniken und Methoden der Manipulation. Man erkennt undemokratischen Machtanspruch und Machtausübung nicht so leicht.
„Theater stellt also mit seinen Symbolsystemen Möglichkeiten der Kommunikation her, die im Alltag unterbrochen, fehlgeleitet oder entfremdet sind. Der Entfaltungsspielraum der Sprachspiele (Wittgenstein) in der Theatersituation ist ungleich größer als im Alltag, wo die Regeln der Kommunikation einem Prozess der Ökonomisierung und Pragmatik verfallen und in ihm erstarrt sind, wo sie ihren Symbolcharakter weitgehend verloren haben und die Komplexität von Leben nicht mehr erfassen. Die entfremdeten Sprachspiele des Alltags verbergen die lebensgeschichtliche Individualität der Beteiligten fast ganz, sie finden in der Konventionalisierung ihr Ideal. Umso mehr vermag sich das Subjekt im Theaterspiel in seiner lebensgeschichtlichen Besonderheit darzustellen. Dieser Prozess ist als kreatives Moment von größter Bedeutung; das Theater erhält aus der Aktivierung solcher Phantasie- und Spielpotentiale einen wesentlichen Teil seiner Faszination. Andererseits sind lrritation und Schock, den manche Inszenierung für die Zuschauer erzeugen, gerade eben darin begründet, dass diese mit den Tabus ihres Alltags konfrontiert werden. Im Theater wird die Subversion der Phantasie öffentlich.“ (Brauneck 1993: 15)
Darum ist es so wichtig, Kindern und Jugendlichen einen Blick auf ihre eignen Kommunikationsmöglichkeiten und Gestaltungsfähigkeiten zu ermöglichen und ihnen Raum und Zeit zu geben, sich damit selbstreflektorisch in einer Vertrauensgruppe auseinander zu setzen und ästhetische und gesellschaftliche Visionen zu generieren.
Dies geschieht im Theaterunterricht, indem sie beispiel- und vorbildhaft vom Theaterlehrer in ästhetische Prozesse verwickelt und sie sich selbst in ästhetische Prozesse verwickeln und Erfahrungen machen. Der Theaterlehrer wird zum Mentor. Zu den Aufgaben des Theaterlehrers gehört die Betreuung seiner Schüler mit häufigem Feedback zur Orientierung.
Die Dialektik von ausgesuchtem Thema und den gefundenen Rollen und Aktionen konstituiert einen ersten theatralen Ausdruck. Es besteht ein ausdrücklicher Zusammenhang zwischen den Inhalten und Themen, also dem Darzustellenden, und den Mitteln der Darstellung, hier: dem Spiel mit Rollen und Aktionen in bestimmten Spielformen. Dieser Zusammenhang und diese Wechselwirkung wird in der Postmoderne durch die Postdramatik negiert, die die Behauptung aufstellt, dass die Mittel alle gleichrangig seien. Die behauptete Gleichrangigkeit der theatralen Mittel durch die sogenannte Post-Dramatik zerstört die Dialektik ästhetischer Lernprozesse. Der Verweis auf die Selbstreferenzialität der theatralen Mittel und damit des theatralen Ausdrucks löst den Bildungsprozess in Beliebigkeit auf.
Diese als Dogma formulierte Gleichrangigkeit aller theatralen Mittel zerschneidet nicht nur die sinnstiftende Dialektik ästhetischer Ausdrucksmittel, sondern auch den inneren Zusammenhang theaterpädagogischer Arbeit. So betrachtet wäre eine Übertragung dieses Dogmas in den Theaterunterricht fatal, wenn sich der Theaterlehrer auch als Demokratielehrer begreift, der sich einem menschlichen Wertekanon verpflichtet fühlt.
Die Aufgabe als Theaterlehrer besteht darin, die Kinder und Jugendlichen nicht an ein Prinzip von Beliebigkeit heranzuführen, sondern gerade im Gegenteil, sie dabei zu unterstützen ein Wertesystem in und mit Visionen zu entwickeln, das ihnen eine Orientierung in einer zunehmend atomisierten Welt ermöglichen kann.
Aristoteles macht in seiner „Poetik“ u.a. deutlich, dass Mimesis ein wesentlicher Bestandteil von Kultur ist. Hieraus leitet sich die Notwendigkeit für aufgeklärte Gesellschaften und demokratische Staatsformen ab, Theater als kulturelle Bildung zu verstehen und für Heranwachsende die Möglichkeiten bereit zu stellen, das System der Theatralität kennen zu lernen und grundlegende Kompetenzen und Visionen zu erwerben.
Ästhetische Visionen fassen demnach all das zusammen, was einem System Theater als Orientierung dient. Sie wirken wie Leuchttürme in der Ferne, zunächst noch etwas diffus und nebulös sichtbar, dann aber bei weiterer Annäherung immer klarere Konturen zeigend, was für alle im Ensemble Richtung weisend ist.
Natürlich muss am Ende eines längeren Lernprozesses alles nach einer bestimmten Idee oder Vorstellung zusammengebracht werden in einer ästhetischen Komposition.
Ob dem Ensemble das – nämlich eine ästhetische Gesamtwirkung herzustellen – in der abschließenden Aufführung vor Publikum gelungen ist, das zeigt sich in einer sorgfältigen Werkschauanalyse und im Publikumsgespräch.
Die Impulsfrage für den weiteren Prozess lautet:
Welches Handwerk benötigen wir, um uns auf den Weg in Richtung ästhetische Visionen zu begeben?
Literatur
- Aristoteles (1961): Poetik. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Olof Gigon. Stuttgart: Philipp Reclam jun.
- Brauneck, Manfred (1993): Theater im 20. Jahrhundert. Reinbek: Rowohlt
- Primavesi, Patrick/ Deck, Jan (2012)(Hg): STOP TEACHING! Bielefeld: transcript > Rezension
- Lehmann, Hans-Thies (2005): Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren
Schreiben Sie einen Kommentar