Die besonderen Mittel Raum und Zeit sind im Theater immer an allen Aktionen beteiligt und haben eine herausragend hohe Gestaltungsqualität und -intensität.
Im Modul 8 werden besondere Werkzeuge in den Fokus der Arbeit geholt, weil sie üblicherweise nicht sofort als solche erkannt werden. Sie werden bei jeder Aktion unbewusst benutzt, zwangsläufig. Menschen und Dinge bewegen sich immer in Zeit und Raum. Die Erfahrung, diese Dimensionen als geplante Gestaltungsmittel zu benutzen, ist eine große Chance für Lernende auf einfache und schnell Art und Weise zu begreifen, was es heißt (bewusst) zu gestalten.
Rollenspiele verlieren – beim bewusst gestaltenden Einsatz der Mittel Raum und Zeit – schnell ihre platte Mimesis. Ihnen wird etwas Fremdes hinzugefügt, das sich dem unmittelbaren Verständnis durch einfache Mustererkennung (> Klischee) versperrt.
Mit der Einführung der Mittel Raum und Zeit eröffnet sich ein weiteres, sehr großes Experimentierfeld für alle Schüler, denn diese beiden Mittel sind mit Hilfe sehr einfacher Gestaltungstechniken – und wenn es anspruchsvoller sein soll – mit Methoden anzuwenden.
Die Veränderungen, der Erfolg, ist sofort sichtbar und einsichtig, heißt: Das Geschehen auf der Spielfläche kann mit einfachen Worten erfasst und beschrieben werden. Im Übrigen eine weitere überfachliche Kompetenz, die in der Mittelstufe insbesondere im Fach Deutsch trainiert wird (> Vorgangsbeschreibung). Diese Kompetenz ist eine Voraussetzung, anschließend in eine – jetzt fundierte – Interpretation und Reflexion einzutreten: einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Gesehenen, das intersubjektiv versprachlicht ist, und dem daraus abgeleiteten Verständnis und einer für andere nachvollziehbaren Begründung, in welcher Weise das Gesehene in dem Rezipienten gewirkt hat, welche Assoziationen es hervorgerufen und welche Gefühle es geweckt hat. Eine Voraussetzung für kulturelle Verständigung, für Inklusion und insbesondere für interkulturelle Verständigung.
Esslin rückt die Bedeutungskonstituenten des Raumes in den Fokus, wenn er auf den Unterschied verweist, der allein dadurch entsteht, das etwas als ausgestellt erklärt wird, dadurch dass es sich an einem besonderen Ort, in einem besonderen Raum befindet: „Der Raum der Aufführung – sei es die Bühne des Theaters oder die Filmleinwand oder der Bildschirm – hat einen entscheidenden und wirklich wesentlichen Aspekt: Durch seine bloße Existenz ruft er Bedeutung hervor. Er verwandelt die einfachsten und alltäglichsten Kleinigkeiten des Daseins in Träger von Bedeutung. (…) Jeder, der einmal die Erfahrung macht, auf eine Bühne zu treten, wenn auch nur in einem leeren Theater, wo er herumgeführt wird, erlebt dieses merkwürdige Gefühl, dass plötzlich alles, was er oder sie tut, bedeutsam wird. (…) eine Person, die zufällig auf eine Bühne tritt, sofort in etwas Bedeutsameres, etwas Ausgestelltes verwandelt wird, ist aufgeführtes Drama menschliches Leben, das auf einen Sockel gesetzt wurde, um ausgestellt, angeschaut, untersucht und bedacht zu werden. Und jedes Detail dessen, was im Verlauf einer dramatischen Aufführung auf Bühne, Leinwand oder Bildschirm ausgestellt wird, wird zum Zeichen, zum ‚Signifikanten‘, einem der vielen, grundlegenden Bestandteile, aus denen im Kopf jedes einzelnen Zuschauers die grundlegende Information darüber, was in dem Drama passiert aufgenommen und festgelegt wird. Aus diesen grundlegenden Fakten müssen die höheren Ebenen seiner ‚Aussage‘ schließlich hervorgehen.“ (Esslin, 1989: 38f)
Bei vielen Übungen – und so auch hier im Modul „Raum und Zeit“ – hilft der Zufall.
Er kann viel Kreativität hervorbringen. Ein weiterer Vorteil der Zufalls besteht darin, dass er durch seine vielen Impulse viel Material erzeugt und damit eine breite Grundlage schafft zum Experimentieren und Schüler ermutigt, erste Schritte im Regiehandwerk zu gehen und mutig auch etwas Ungewöhnliches zu wagen und vermeintlich Schräges auszuprobieren. Der Zufall ist sozusagen der Pate der Methode trial and error.
In den Feedbackgesprächen in der Gruppe sollte die Lehrkraft darauf achten, immer wieder bewusst zu machen, dass beliebiges Kombinieren und Ausprobieren ein erster Schritt sein kann, einen ästhetischen Ausdruck auf der Bühne zu erzeugen.
In einem zweiten Schritt erfolgt das anschließende Komponieren. Dies geschieht nach bewusst gewählten Kriterien in Abhängigkeit von der ästhetischen Vision, der Inszenierungsidee, des Regie-Konzepts, der zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen.
Dabei ist es notwendig, dass die Schüler lernen, ihre Kompositionen zu begründen und Argumente dafür zu finden.
Esslin verweist darauf, dass jeder Bewegung eine Funktion innewohnt: „Über die Bühne gehen, stillstehen, den Abstand zwischen zwei Figuren vergrößern oder verkleinern, das Arrangement der Figuren in bedeutungsvollen Bildern, das alles sind Beispiele für die bedeutungstragende Kraft der Bewegung der Schauspieler im Raum des Dramas (in semiotischem Jargon: Proxemik).
Solche Bewegung hat ihre offensichtlich ikonische Funktion, kann aber auch zum deiktischen Signifikanten werden. Eine Figur, die plötzlich aufsteht, sich setzt oder über die Bühne geht, zieht Aufmerksamkeit auf sich. Doch manchmal erhält Bewegung im dramatischen Raum auch symbolische Bedeutung. (…) Wechsel in der räumlichen Verteilung der Figuren dienen nicht nur als notwendiges Ausdrucksmittel für den Handlungsverlauf als Indikatoren dafür, wann eine Pause oder ein Teil der Szene vorbei ist und ein neuer beginnt; sie müssen immer auch aus der psychologischen Situation der Figuren zu rechtfertigen sein und die dramatische Situation an eben dem Punkt der Handlung zum Ausdruck bringen.“ (Esslin 1989: 69)
Die Übungen bieten viele Gelegenheiten in den Feedback-Gesprächen zunächst deutlich zu unterscheiden, was jeweils auf der Bühne gesehen wurde, also das, was z.B. jemand konkret gemacht hat und im zweiten Schritt beschreiben, was es im Zuschauer für Gefühle und Fantasien auslöst.
Das Thema site-specific, bzw. environmental ist aufgrund des Aufwandes und der unterschiedlichen Gegebenheiten der Räumlichkeiten von Schulen in der Sekundarstufe 1 als eher schwierig zu realisieren anzusehen und sollte aus diesem Grund eher in der Oberstufe einen Platz finden.
Die Schwierigkeiten, die die Theaterform site-specific mit Amateuren mit sich bringt, dokumentiert anschaulich das Heft „Spielraum. Stadtraum“, dass auch Oberstufengruppen nicht immer die Anmutung, die Impulse und die spezifische Struktur des gewählten Raumes für ihr Spiel sahen und nutzten. „Ortsspezifisches Arbeiten benötigen unter Umständen einen längerfristigen Zeitrahmen, der im schulischen Kontext möglicherweise schwer umsetzbar ist.“ (Pfeil 2010: 61)
Bühnengänge als PDF zum Herunterladen
Die Leiterin der Studiobühne Theaterwissenschaft München Dr. Katrin Kazubko berichtet in einem Video über die Ausbildung der Studenten und die Erfordernis Theorie und Praxis miteinander zu verknüpfen > https://www.youtube.com/watch?v=py99UlAA_GQ
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Kleine Anregung, wie man en passant die Kompetenz von Zeitgefühl und gestalterischem Umgang damit üben kann:
Ein hilfreicher Bestandteil einer konstruktiven Feedback- und Trainingskultur ist der sogenannte kleine Ritual des Zwei-Sekunden-Applauses, mit dem mehrere Kompetenzen, auch Ensemblekompetenzen häufig trainiert werden können.
Jede Präsentation in der Gruppe wird mit diesem Applaus grundsätzlich ohne Wertung wertgeschätzt, d.h. es wird lediglich die Leistung des Auftretens und das Zeigen einer zuvor erarbeiteten Darstellung vor Publikum mit einem positiven Feedback honoriert. Damit es zu keiner Wertung durch den Applaus kommt, im Sinne mal frenetisch, mal aus purer Höflichkeit, erhält der Applaus ein Format, in dem die Gruppe immer wieder ihre Kompetenz trainieren kann, präzise chorisch zu agieren. Der Applaus soll stark sein, alle klatschen in gleicher Weise in die Hände, und alle sollen ein präzises Timing einhalten für den Start und das Ende dieser Mini-Performance „Zwei-Sekunden-Applaus“. Der Theaterlehrer sollte anfangs dieses Format mit den Schülern regelrecht trainieren, also öfter wiederholen, bis es alle exakt ausführen können, es diszipliniert beherrschen. Nach den Erfahrungen des Autors macht den Schülern diese Aktion großen Spaß, erleben sie doch immer wieder eine Vergewisserung, wichtiger Teil einer Gruppe zu sein und vollwertiges Mitglied bei einer Aktion, einem kleinen Ritual, einer Mini-Tradition zu sein, so klein sie auch scheinbar sein mag. Es ist ritualisierte Wertschätzung und Einüben ästhetischer Formen.
Literatur
- Esslin, Martin (1989): Die Zeichen des Dramas. Reinbek: Rowohlt
- Hawemann, Horst (2014): Leben üben. Improvisationen und Notate. Recherchen 108. Hg. von Christel Hoffmann. Berlin: Theater der Zeit. (Besonders hilfreich die Übungen auf den Seiten 149-164) > Rezension
- Pfeil, Martina (2010): Ortsspezifisches Theater. In: Bundesverband Theater in Schulen e. V. (Hg) (2010): Spielraum. Stadtraum. Zeitschrift für Theater und ästhetische Bildung. Heft 9. Hamburg: edition Körber-Stiftung: 58-61
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