Im Tutorial zum Modul 9.1 Gestik des Kursbuch Theater machen geht es um die Dialektik von innerer Befindlichkeit und äußerem Körperausdruck und die Frage, mit welchem Training man die Körpersensibilität erhöht und im Schauspiel den Körper zum Werkzeug eines ästhetischen Ausdrucks macht.
Schwerpunkt der Module 9.1 Gestik, 9.2 Mimik und 9.3 Stimme, Sprache, Text ist generell ein Training zur Erhöhung der Körpersensibilität. Das Thema Text wird der Funktion des gesamten Körpers untergeordnet, weil Theaterunterricht nicht Literatur-Theater bedeutet, in dem der Sprechtext geheiligt ist, sprich: Ausgangspunkt einer Inszenierung ist, dem sich alle Mittel unterzuordnen haben.
Der Körper und seine Gestik sind das erste und wichtigste Ausdrucksmittel im Theater, wobei Körper, Mimik und Stimme sehr eng miteinander verbunden sind und natürlicherweise immer zusammenwirken und es schwer ist, diese isoliert zu trainieren. „… der präsente menschliche Körper [ist] wesentlich sowohl Mittel als auch Material der Darstellung.“ (Pinkert 2005: 42)
Dass es dennoch drei Module zu den jeweiligen Aspekten der Körperarbeit gibt, ist zum Einen der Komplexität des Themas und der Verteilung auf Unterrichtsstunden geschuldet, zum Anderen der Möglichkeit in einer oder zwei Doppelstunden einen bedeutenden Aspekt in den Fokus der Arbeit und des Trainings zu holen, ohne dabei die anderen fast immer beteiligten Elemente zu vernachlässigen.
Im äußerlich sichtbaren Verhalten des Menschen wird auch seine innere Befindlichkeit sichtbar. In dem Modul soll es nicht darum gehen, zu lernen sich zu verstellen oder sich zu verbiegen, sondern im Gegenteil zu lernen, wie das Innen und das Außen zusammenhängen und in einem dialektischen Verhältnis sich gegenseitig beeinflussen können. Erst in dieser Dialektik entsteht das, was man ein SELBST nennt, was das Menschliche ausmacht.
Dabei ist eine Grundvoraussetzung, dass die Schüler zunächst lustvoll Erfahrungen mit dem Potenzial ihres Körpers machen, mit ihrer Bewegungs-, Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit.
Stanislawski hat mit seinem „Flügel“-Beispiel anschaulich nachgewiesen, wie schwer bzw. unmöglich es ist während einer großen körperlichen Kraftanstrengung geistig sich auf etwas anderes zu fokussieren. Der Vorteil einer echten körperlichen Anstrengung im Theater liegt in der Glaubwürdigkeit des Tuns, in der hohen Präsenz und Zielorientiertheit der Aktion. Da Stanislawski sich der realistischen Spielform, die vom inneren Erleben ausgeht, verschrieben hatte und es noch keine Postdramatik gab, konnte er zur seiner Zeit für sich als Fazit seiner „Flügel“-Übung reklamieren: „Zeigt das nicht deutlich, dass die Muskelanspannung jeder inneren Arbeit, besonders aber dem Erleben, hinderlich ist? Solange der Körper angespannt ist, kann von richtigem, feinfühligem Empfinden und von einer normalen seelischen Entwicklung der Rolle gar keine Rede sein. Bevor man also mit dem Schaffen beginnt, muss man die Muskeln soweit in Ordnung haben, dass sie die Freiheit des Handelns nicht einschränken.“ (Stanislawski1993: 119)
Wie eingeschränkt sie in ihren Bewegungsmöglichkeiten inzwischen viele sind, ist erschreckend. Der Autor bittet Schüler beim Aufwärmen manchmal in die Hocke zu gehen und die Fußsohlen auf dem Boden zu lassen. Dann fällt mittlerweile über die Hälfte der Schüler nach hinten um, weil sie das Gleichgewicht nicht halten können, selbst mit den Armen nach vorn. Eine Runde Entengang schafft heute kaum noch ein Schüler, so steif sind sie inzwischen von der dauerhaft erzwungenen Bewegungseinschränkung, mit verursacht durch die „Zwangsjacke“ Schule. Ähnlich schlechte Ergebnisse zeigen Versuche, in gerader Linie rückwärts zu gehen. Bei älteren Schülern können Verweise darauf, dass eine vollendete LiebesKunst nicht ohne ein fundiertes LiebesHandwerk bzw. LiebesTechniken und Methoden zu erreichen ist, eine kleine, aber überzeugende Anregung sein. Als Literatur seien beispielsweise Werke über Kamasutra und Taoismus empfohlen. Die kausalen Zusammenhänge zwischen körperlicher Bewegung und geistigem Lernen ist längst u.a. durch zahlreiche Forschungsergebnisse z.B. der Sporthochschule Köln bewiesen.
Die Gesamtheit des körperlichen Ausdrucks wird in manchen Zusammenhängen auch als Geste bezeichnet und darf beim Training nicht aus dem Blick geraten. Ein wunderbares Beispiel, das durchaus der Illustration für die Schüler dienen kann, ist das beeindruckende Spiel von Natalie Portman in den Film „Black Swan“ aus dem Jahre 2010, in dem es genau darum geht, eine Bewegung zu beseelen.
Lehmann hat einen hilfreichen Beitrag geliefert (das die Gestik im dramatischen vom postdramatischen Theater zu unterscheiden), der als Orientierung dienen kann, die Veränderungen vom kindlichen Rollenspiel (wie es das jeux-dramatique aufgreift, weiter entwickelt und verfeinert), über klischeehafte Darstellungen (im traditionellen Schultheater oft anzutreffen) bis hin zur einer glaubwürdigen Rollenpräsentation im professionellen naturalistischen Theater zu differenzieren. Die Textstelle sei deshalb etwas ausführlicher zitiert und ergänzt auch den wissenschaftlichen Hintergrund des Moduls 4 Figuren entwickeln:
„Der Schauspieler des postdramatischen Theaters ist häufig kein Darsteller einer Rolle mehr (Actor), sondern Performer, der seine Präsenz auf der Bühne der Kontemplation darbietet. Michael Kirby hat dafür die Begriffe ‚acting’ und ‚not-acting’ samt einer interessanten Ausdifferenzierung der Übergänge von einem „full matrix acing’ bis zum ‚non-matrixed-acting’ geprägt. Seine Analyse ist deshalb wertvoll, weil sie über die technischen Unterscheidungen hinaus das Terrain ‚unterhalb’ des klassischen Schauspielens erst deutlich hervortreten läßt. ‚Not-acting’, das eine Extrem, bezieht sich auf eine Präsenz, in der der Schauspieler nichts tut, um die durch seine Anwesenheit entstehende Information zu verstärken (zum Beispiel die Bühnendiener im japanischen Theater). Nicht in die Matrix eines Spielkontextes eingebunden, ist es hier im Stand des ‚non-matrixed-acting’. Kirby bezieht sich für die nächste Stufe – ‚symbolized matrix’ – auf einen Schauspieler, der als Ödipus humpelt. Er spielt das Humpeln aber nicht, sondern ein Stock in seiner Hose zwingt ihn dazu. Er mimt humpelnd also nicht, sondern vollzieht nur eine Handlung. Nimmt der Kontext der von außen hinzukommenden Zeichen zu, ohne daß der Spieler selbst sie hervorbringt, kann man von ‚received acting’ sprechen (in einer Barszene spielen einige Männer in der Ecke an einem Tisch Karten. Sie tun nichts anderes als das, sie werden aber wie Schauspieler wahrgenommen, scheinen zu spielen). Wenn eine klare emotionale Beteiligung, ein Mitteilenwollen hinzukommt, ist die Stufe des ‚simple acting’ erreicht (Performer des ‚Living Theatre’ gehen durch das Publikum und erklären, engagiert: ‚Ich darf nicht ohne Pass reisen’, ‚Ich darf mich nicht ausziehen’ usw. Die Äußerungen treffen zu, sind keine Fiktionen, aber ein einfaches Schauspielen hat eingesetzt. Erst wenn die Fiktion hinzukommt, ist von ‚complex acting’, von Schauspielen im vollen Sinn des gewöhnlichen Wortgebrauch zu sprechen. Das letzte trifft auf den Schauspieler (Actor) zu, während der Performer im Unterschied dazu sich hauptsächlich zwischen ‚simple acting’ und ‚not-acting’ bewegt. Für die Performance ebenso wie für das postdramatisches Theater rückt ‚liveness’, die provokante Präsenz des Menschen anstelle der Verkörperung einer Figur in den Vordergrund.“ (Lehmann 2005: 242f)
Zum Einsatz des Körper und der Gestik schreibt Lehmann weiter: „Im postmodernen Tanz kehrt die Mechanik zurück und steigert sich zugleich die Fragmentierung des tänzerischen Vokabulars. Am Körper tritt weniger die tradierte Qualität der Semiose, die Einheit eines tanzenden Selbst, sondern das Potenzial der möglichen gestischen Variationen des gegliederten Körperapparats hervor. […] An die Stelle des Dramas als Medium der komplexen und subtilen Konfliktdarstellung tritt der körperliche Gebärdentaumel. […] Wie der neue Tanz Diskontinuität privilegiert, so rangieren ihn auch die einzelnen Glieder (articuli) des Körpers vor dessen gestalthafter Totalität.“ (Lehmann 2005: 371f)
Das kennen wir als Destruktion, oder euphemistisch: De(kon)struktion. Es ist schwierig etwas zu destruieren, dass man nicht vorher konstruiert hat. Insofern sollte post-dramatisches Theater klar einem dramatischen Theater – der Logik eines Lernprozesses folgend – nach-gestellt sein.
Weiterführende Hinweise:
Konzepte zur Körperarbeit
Auf drei recht unterschiedliche Beispiele, Anregungen und Konzepte für Theaterarbeit, bei denen der Körper im Fokus steht, ist in diesem Kontext zu verweisen:
Zaporah, eine Art Tanz-Performerin aus Kalifornien, hat in den 1990er Jahren ihre betont körperliche Arbeitsweise in dem Buch „Action Theater“ so konkret dokumentiert, dass man es direkt als Anleitungsvorlage benutzen kann (vgl. Zapora 1995). > Ruth Zaporah > http://www.actiontheater.com
Hackel, Schauspieler und Theaterpädagoge, zeigt ein schönes Beispiel, wie man mit Kindern mit einfachen Techniken körperbetont Theater machen kann. Ein sehr schönes Beispiel, wie nur mit Körpern und Bewegung – ohne zu sprechen – komplexe Vorgänge gespielt werden können. > Thiemo Hackel > http://www.thiemohackel.de/Thiemo_Hackel/Home.html
Graham Smiths Projekt „Learning by moving“ gibt ein anregendes Beispiel dafür, wie leicht man Kinder bei ihrem natürlichen Bewegungsdrang abholen und sie in die Welt der künstlerischen Bewegung locken kann. Auch er dokumentiert sehr konkret, wie er arbeitet. Und das lädt zum sofortigen Nachmachen und Ausprobieren ein. > Graham Smith > http://learningbymoving.wordpress.com
Literatur
- Pinkert, Ute (2005): Transformationen des Alltags. Theaterprojekte der Berliner Lehrstückpraxis und Live Art bei Forced Entertainment. Modelle, Konzepte und Verfahren kultureller Bildung. Berlin, Strasburg, Uckerland: Schibri
- Lehmann, Hans-Thies (2005): Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren
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Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch (1993): Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Teil 1 Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozeß des Erlebens.Berlin: Henschel
- Zapora, Ruth (1995): Action Theater. The Improvisation Of Presence. Berkeley, Kalifornien: North Altantic Books
Richard Kleditsch meint
Um was handelt es sich bei dem erwähnten „Flügel-Beispiel“ (Absatz 6, 2. Zeile?)
Handelt es sich dabei um eine gewissermaßen andeutenden Vergleich bzgl. des starken Aufstieg der Schauspieler zur jenen Zeit, oder wie genau hat er dieses „Flügel-Beispiel“ für sich bzw. für das allgemeine Agieren des Schauspielers untersucht?
Mein Name ist Richard Kleditsch, und für eine wissenschaftliche Facharbeit möchte ich gerne mehr über Stanislawski und sein Flügel-Beispiel erfahren.
Ich freue mich über jedwede, zielführende Antworten oder Hinweise dafür.
Dr. Volker List meint
Lieber Richard Kleditsch,
vielen Dank für Ihre Anfrage und danke, dass Sie mich indirekt auf eine kleine Nachlässigkeit aufmerksam gemacht haben. Natürlich fehlte die genaue Literaturangabe in dem Beitrag, in welchem Stanislawskis Konzert-Flügel-Beispiel nachzulesen ist. Ich habe das gerade nachgeholt.
In dem Beitrag geht es u.a. darum, auf die Unterschiede zwischen einer dramaturgisch vorbereiteten und prozesshaft durchdeklinierten theatralen Darstellung und einem performativen Akt/ Situation hinzuweisen. Stanislawski hat sich dazu schon frühzeitig Gedanken gemacht und mit seinem Konzertflügel-Beispiel aufgezeigt, wie eng körperliche und geistig/emotionale Bereiche miteinander verflochten sind. Während des Anhebens eines schweren Gegenstandes (z.B. eines Konzertflügels) kann man nur sehr schwer geistig/emotionale Aufgaben bewältigen. Körper und Geist – so Stanislawski – müssen im Einklang sein, damit eine glaubwürdige Darstellung möglich wird.
Wir planen für diese Website einen Beitrag des Psychotherapeuten und Theaterexperten Dr. Stephan Engelhardt (Wien), der sich explizit mit dem Unterschied zwischen theatraler Darstellung und Performance am Beispiel Marina Abramovićs und Robert Wilsons befasst.
Gerne dürfen Sie mich auch anrufen, um das Thema zu vertiefen > 0151-41822409
Beste Grüße
Volker List