Osburg, Claudia/ Schütte, Anne Sophie 2015: Theater und Darstellendes Spiel inklusiv. Unterrichtsanregungen für die Klassen 1-10. Mülheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr. 168 Seiten – Rezension
Osburg und Schütte legen Unterrichtsanregungen für die Klassen 1-10 vor und versprechen mit Ihrem Buch, die folgenden Fragen mit konkreten, praktischen Übungen und Differenzierungshinweisen zu beantworten: Was muss bei Schülern mit unterschiedlichem Förderbedarf beachtet werden? Welche pädagogische Haltung und welche Bedingungen sind nötig? Wie entwickelt man eigene Theaterstücke? Was ist bei Aufführungen zu beachten? Wie bewertet man?
Sie gliedern ihr Buch in die folgenden Kapitel:
1. Theaterspiel mit inklusiven Gruppen
2. Gute Bedingungen für inklusiven Theaterunterricht schaffen
3. Eigene Theaterstücke entwickeln
4. Improvisationstheater spielen
5. Mit dramatischen Textvorlagen arbeiten
6. Aufführungen organisieren
7. Leistungsbeurteilung und Bewertung
und einen Anhang mit Glossar: Diagnosen und Symptome.
Auslöser für das vorliegende Buch war ein zweijähriges inklusives Theaterprojekt der Autorinnen, in dem Schüler einer Förderschule mit den Schwerpunkten Sprache und Lernen gemeinsam mit Gymnasiasten der benachbarten Kooperativen Gesamtschule Theater spielten.
Als Ziel des Projektes wurde festgelegt, die gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung der beiden Schulgemeinden zu erhöhen. Außerdem sollten sich die Schüler wohl fühlen und ihre sprachlichen und stimmlichen Kompetenzen, ihre Bühnenpräsenz, ihre Team- und Reflexionsfähigkeit schulen. (7)
Sting liefert in seinem Geleitwort den theaterwissenschaftlichen Hintergrund zum Projekt: Theater sollte „nicht verkürzt und instrumentalisiert werden …, um soziale oder individuelle Lern- oder Therapieeffekte zu erreichen. Beim Theaterspielen … sollte es immer um ein echtes und ernsthaftes Theatermachen gehen, um ein szenisches Spiel, das zum Theaterereignis für alle werden kann.
Und genau mit diesem komplexen Theaterverständnis, das den kreativen Spielprozess und das produktionsorientierte Theatermachen verbindet, entfaltet sich das bildende Potenzial des Theaters: Theaterarbeit ist dann nicht nur eine Schule des Sehens, sondern auch eine Schule des Handelns, eine Schule des Sprechens, eine Schule des (Sich-)Zeigens, eine Schule des Sich-Begegnens und letztlich eine Schule der Teilhabe und Inklusion.“ (Sting: 6)
Stings Setzung mag als Maßstab für die folgenden Empfehlungen und Anregungen für inklusiven Theater-Unterricht gelten.
Osburg/ Schütte erläutern ihr theatrales Unterrichtskonzept gleich zu Anfang und verstehen Theaterspiel als Teil der inklusiven Schule: „Als Lehrer bereitet man diese Theateraufführungen meist zielorientiert und pragmatisch vor: Man sucht einen dramatischen Text, ein Gedicht oder ein Lied heraus und fordert die Schüler entweder auf, diese mit eigenen Ideen zu inszenieren, oder man übernimmt selbst die Rolle des Regisseurs.“ (10)
Dieses Konzept für schulisches Theaterspiel stellt nach Ansicht der Autorinnen „vielfältige Möglichkeiten“ bereit, der „Individualisierung des Unterrichts, der Beachtung von Heterogenität bei der Unterrichtsplanung“ zu entsprechen und den „einzelne(n) Schüler mit seiner Disposition, seinen Bedürfnissen und Fertigkeiten in den Vordergrund“ zu stellen, so wie es die „Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung 2009“ (11) fordert.
Als zentrale Leitziele für Schultheater definieren die Autorinnen die Bereiche Literatur, Sprache, Gestik und Mimik und heben drei „starke Ziele“ besonders hervor:
• „die Welt der anderen ein Stück zu verstehen,
• Ängste und Vorurteile abzubauen
• und damit auch ihre eigene Sicht auf die Welt zu verändern.“ (12)
Diese „Ziele“ werden ergänzt durch folgende Forderungen, beim „Lernen (in inklusiven Lernkontexten) (…) sich immer auf die Nichtvorhersehbarkeit und prinzipielle Offenheit des Geschehens einzulassen. (…) Schüler dabei zu unterstützen, ihr Potenzial zu entfalten … Und wenn es dann gelingt, den Ästhetikanspruch des Theaters mit den besonderen ‚Kunstausdrücken’ der Individuen zu verbinden – dann sind die Szenarien perfekt.“ (17)
Die Autorinnen beschreiben im Folgenden „Formeln“ – und entsprechende Übungen – dazu, die sie speziell für inklusiven Unterricht für geeignet halten, die sie in Zusammenarbeit mit dem Theaterpädagogischen Zentrum Hildesheim gefunden haben:
„Das Vertrauen der Gruppe wird hergestellt.
Alle machen mit.
Theaterspielen geschieht freiwillig.
Gemeinsames Theaterspielen ist ein langfristiger Prozess.
Es werden Regeln für das gemeinsame Spielen aufgestellt.
Die Spieler werden motiviert.
Die aufkommenden Emotionen beim Spiel werden aufgefangen.“ (19)
Als folge dieser Setzungen fordern die Autorinnen, die davon ausgehen, das jeder Theaterspielen kann (22):
„Die Rolle, die jeder Schüler beim Theaterspiel erhält, muss dem Spieler angepasst werden, nicht umgekehrt.“ (22) Denn „beim gemeinsamen Theaterspielen ist es möglich, nahezu alle Begabungen und Fähigkeiten der Schüler herauszustellen und sie ‚richtig‘ einzusetzen.“ (24)
Folgerichtig werden 10 Kategorien von Schülern beschrieben, die sich an bekannten Klischees orientieren, und den jeweiligen Typen entsprechende Aufgaben beim Theaterspielen zugeordnet:
„Der ‚Kreativ-Junkie’
Der ‚Nörgler und Zweifler’
Die ‚Rampensau’
Der ‚Medienspezialist’
Der ‚Technik-Freak’
Das ‚Träumerle’
Der ‚Musikus’
Der ‚Klassenclown’
‚Stille Wasser’
Der ‚unfreiwillige Mitläufer’.
Das heißt: Der „‚Kreativ-Junkie’“ wird als Drehbuch- oder Skriptschreiber eingesetzt oder als Regieassistent. Dem „‚Nörgler und Zweifler’“ soll unter vier Augen Mut zu gesprochen und ihm versichert werden, „dass er ein wertvoller Teil der Theatergemeinschaft ist.“ Die „‚Rampensau’“ soll „außergewöhnliche Charakter“ (24) spielen. Man neige dazu, ihm die Hauptrolle zu geben, das müsse aber nicht sein. Der „‚Medienspezialist’“ „kann das Theaterplakat, ein Programmheft und Eintrittskarten gestalten. Er setzt die Ankündigung des Stückes auf die Schulhomepage und lädt Bilder hoch … und kann sich auf die Pressearbeit stürzen. In der Grundschule können die Plakate auch gemalt werden.“ (24f)
So gehen die Zuordnungen der Schüler zu den anderen Kategorisierungen weiter, mit der Zielsetzung, dass sie das, was als deren „Potenzial“ erkannte wurde, in den entsprechenden Spezial-Gebieten anwenden.
Im Folgenden werden weitere Empfehlungen für inklusiven Theater-Unterricht gegeben, z.B.
keinen Schüler „in Bühnensituationen“ bloßstellen (27)
„Als Lehrer hat man die Rolle als Spielleiter und Regisseur.“ (28)
„ich führe sie sensibel an das Theaterspielen heran.“ (31)
„Man gibt ihnen von Anfang an geeignete Requisiten und Kostüme zur Hand.“ (33)
„Man gibt ihnen geeignete Rollen.“(33)
„Man bietet an, den Text zu kürzen.“ (33)
„Ich nehme die Schüler ganzheitlich wahr und schätze verantwortungsbewusst ein, was sie körperlich und seelisch zu spielen vermögen.“(31)
„Pädagogische Verantwortung übernehmen“.
Schüler sollen „sich in ihre Rollen hineinfühlen. Sie sollen auf der Bühne wirklich die Person sein, die sie spielen: das Straßenkind in Bangladesch, der vom Krieg traumatisierte Soldat Beckmann aus Wolfgang Borcherts Drama ‚Draußen vor der Tür’ oder das von Wahnvorstellungen geschüttelte Gretchen aus Goethes ‚Faust’. Die Schüler sollen alle geballten Emotionen dieser schweren Schicksale transportieren – als Spielleiter stehe ich dabei gebannt vor ihnen mit Tränen in den Augen und Gänsehaut am ganzen Körper.“ (30)
Als Arbeits-Methode dafür schlagen die Autorinnen z.B. für das Einstudieren einer Szene mit Schülern einer inklusiven Gruppe aus dem Jugendroman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl.“ folgende Vorgehensweise vor: „Ich führe meinen Schülern die Situation so eindringlich wie möglich vor Augen, indem ich ihnen gleichsam ‚einheize’: ‚Stellt euch doch mal vor! Euer Vater ist morgens einfach weg. Wie fühlt man sich da?’ Katrin bricht in Tränen aus. Ich unterbreche den Unterricht und gehe mit ihr in einen anderen Raum. Dort sagt Karin mir schluchzend, ihr Vater sei gerade von zu Hause ausgezogen. Er liebe Mama nicht mehr.“
Man dürfe Schüler nicht in diesem Prozess allein lassen, sondern es sei „sehr wichtig, ihnen zu erklären, wie sie aus dem Spiel wieder herausfinden.“ Und „ebenso wenig darf die Möglichkeit der Selbsterfahrung im Theaterspiel bewusst für therapeutische Zwecke instrumentalisiert werden. Wenn Magdalenas [nicht Katrins? Anm. v. V.L.] Eltern sich im letzten Jahr getrennt haben und ich als Spielleiter bin der Ansicht, es würde ihr helfen, diese Erfahrung z.B. mithilfe der Rolle der Ich-Erzählerin aus Julia Francks Kursgeschichte ‚Streuselschnecke’ szenisch zu verarbeiten[!], dann sollte ich bei diesem Vorschlag sehr behutsam vorgehen und jeden Schritt mit ihr abstimmen.“ (30f)
Das immer wieder vorgetragene Rollenkonzept der Autorinnen stimmt nachdenklich, wie ein weiteres Beispiel zeigt. Die Lehrerin probt in der Rolle als „Regisseurin“ mit Schülern eine Doppelstunde lang die Lehrerkonferenz aus „Frühlingserwachen“, damit diese „wirklich nachempfinden, wie es ist, ein autoritärer Oberstudienrat im Jahr 1899 zu sein.“ (107)
Diese Nachahmung eines naturalistischen Rollenkonzeptes des professionellen Theaters mit ausgebildeten Schauspieler wird Amateuren und erst recht Schülern mit Förderbedarf vermutlich nicht gerecht und macht ihnen die Grenzen ihres Könnens recht schnell deutlich und hat nur wenig mit fach- und sachgerechtem Theater-Unterricht zu tun, auch wenn ihr Spiel für eine „Gänsehaut“ (30) bei der Amateur-Regisseurin sorgt.
Hier wäre den beiden Autorinnen zu empfehlen, sich sorgfältiger über die letzten 20 Jahre Entwicklung des Schultheaters, der neueren Didaktiken und Curricula des Darstellenden Spiel und Theater-Unterrichts zu informieren und in ihren Anregungen für Theater-Unterricht zu berücksichtigen.
Probleme werden sich bei dem vorgelegten nicht ganz stimmigen Konzept bei der Leistungsbeurteilung einstellen, wenn die Amateur-Regisseurin die Leistung „Einfühlung in die Rolle“ benoten muss und für „Transparenz der Bewertungskriterien“ (133) sorgen muss. Hier wäre ein wenig mehr (Selbst-)Reflexion hilfreich, weniger beim Improvisieren auf der Bühne, wo sie nicht hingehört, sondern spontanes (73) (re-)agieren gefordert ist („ … aufmerksam ihre Mitspieler … reflektieren. Nur wer seine Umwelt bewusst wahrnimmt und sie reflektiert [!], kann Improvisationstheater ‚richtig’ [!] spielen.“ (70)
Die sehr allgemeinen „Tipps und Anregungen für ein faire und transparente Leistungsbeurteilung“ sind für eine erste sehr grobe Orientierung durchaus wegweisend. (135)
Im Kapitel „Rituale einführen“, werden in einem Merk-Kasten „Tipps und Anregungen für den Einstieg in das inklusive Theaterspielen“ (34) gegeben.
• Etablieren Sie Begrüßungsrituale im Kreis frei nach Motto: Schön, dass wir heute wieder zusammen spielen!
• Vermitteln Sie ihren Schülern: Jeder ist einzigartig: Was du kannst und/ oder was du bist, das soll hier auf der Bühne gezeigt werden!
• Zeigen Sie ihre Freude darüber, dass die Schüler bereit sind, Schultheater zu spielen, und begrüßen Sie die Schüler wertschätzend, z.B. so: „Schön, dass ihr alle beim Theater mitmachen wollt“, „Ich freue mich, dass ihr den Kurs Darstellendes Spiel angewählt habt“, „Pia, das du mitmachst, finde ich klasse!“
• Geben Sie den Schülern die Möglichkeit, ihren eigenen Stil zu finden, und lassen sie sie erst einmal „drauflosspielen“ – den „Feinschliff“ können Sie vornehmen, wenn Sie die Szene einmal durchgeprobt haben.“ (34)
Bei den folgenden Übungsbeschreibungen werden häufig Hinweise explizit für das inklusive Lernen gegeben. Einige Beispiele:
• Beim Spiel „’Yiah, ha, ha, ha’ (…) sind so viele Variationen möglich, dass jeder mitmachen und sich als Bereicherung für die Gruppe erleben kann.“ (38)
• Beim Spiel „Hase und Jäger“ wird jeder Spieler „wahrgenommen und berührt.“ (40)
• Bei der Übung „’Hier, für dich!’ – Das Geschenke-Spiel (…) bekommt jeder etwas geschenkt. Jeder wird angeschaut und direkt angesprochen.“ (40f)
• „Niemand wird ausgeschlossen.“ (65)
• „Protokollieren sollten nur Schüler, die sich dazu bereiterklären.“ (67)
Zahlreiche von Johnstone und anderen Autoren übernommene Übungen sollen die zentrale Forderung inklusiven Unterrichts einlösen: „In inklusiven Lernsettings geht es primär darum, das Lernpotenzial aller Lernenden zu entfalten. (…) Den Schülern Wertschätzung entgegenzubringen und an ihren persönlichen Könnenserfahrungen anzusetzen, das sind zentrale Forderungen der Didaktik in inklusiven Settings. (…) Die Wertschätzung der Schüler und das Vermeiden beschämender Situationen sind die leitenden Prinzipien inklusiven Unterrichts sowohl aus lernpsychologischer als auch aus ethischer Perspektive. (…) Jedem Kind wird applaudiert, jedes Kind erfährt sich in der Gemeinschaft als bedeutsam, jedes Kind ist Teil der Gemeinschaft. Wertschätzung folgt dabei natürlichen Regeln und keinen künstlichen Lobszenarien.“ (75)
Ein interessanter Hinweis wird mit dem Stichwort „Hyperzyklus“ und dem damit verbundenen Perspektivenwechsel in Bezug auf die Rollen von Helfer und Hilfsbedürftigen gegeben. (76f)
Der immer wieder geforderten Einfühlung der Schüler in ihre Rollen liegt ein etwas angestaubtes Bild von Theater und Theater-Unterricht zugrunde. Hier hat sich die Didaktik des Theater-Unterrichts seit den 1990er Jahren deutlich weiterentwickelt und macht sehr viel mehr Angebote für Schüler, theatrale Kompetenzen zu erwerben. Überdies machen diese seit langem bekannten Konzepte keine Unterschiede, ob mit Behinderten oder Nicht-Behinderten oder gemischten Gruppen gearbeitet wird (vgl. auch Stings Eingangsrede zur Funktion von Theater!).
In allen Fällen ist das oberste Prinzip, allen Schülern optimale Lernchancen zu bieten, sich zu entwickeln. Insofern ist guter Theater-Unterricht auch immer schon inklusiver Unterricht gewesen.
Zuweilen lassen widersprüchliche Setzungen – auch im Schreibstil verschiedener Textpassagen und Kapitel wird das spürbar – vermuten, dass hier die jeweiligen Ko-Autorin am Werk war. Wie anders lassen beispielsweise Widersprüche und Unstimmigkeiten wie die folgenden erklären.
Einmal heißt es, man solle die Schüler „drauflosspielen“ lassen und hinterher, wenn die Szene einmal durchgeprobt ist, mit „Feinschliff“ noch verbessern und andererseits wird genau davor gewarnt, „dass die Akteure ihre Rollen nicht gut spielen und das Stück nicht ‚stimmt’.“ (137)
„Michael und Jan machen folgende ‚Fehler’“ bei ihrer ersten Improvisation und die Lehrerin verschlimmbessert, weil sie nicht die grundlegende theatrale Gestaltungstechnik „Status“ einführt und erläutert, die genau diese „’Fehler’“ verhindern kann. (72)
Die Forderung von den Stärken der Schüler auszugehen, also deren Persönlichkeit mit zum Ausgangspunkt der Überlegungen für einen Lernprozess zu machen, ist eine alte Erkenntnis (vgl. u.a. Roth). Sie zum „Prinzip der inklusiven Pädagogik“ (137) zu deklarieren, wirft die Frage auf, ob diese Vereinnahmung in dieses Etikett einer angemessenen Beschreibung von Lernen, egal ob theatral oder anders, gerecht wird oder eher dazu dient einen Claim abzustecken, der (Denk-)Grenzen errichtet, statt fächerübergreifend den Kontakt und Austausch zu suchen. Ich habe im Übrigen viele Jahre in privaten und öffentlichen Schulen im Unterricht mit verhaltensauffälligen Schülern gearbeitet, mit Autisten, Stotterern, Hyperaktiven, Soziopathen verschiedenster Erscheinungsformen, Neo-Nazis und anderen, die von einer gesellschaftlich definierten Norm abweichen. Insofern ist mir das Thema auch aus eigenem Erleben und Erfahrungen bekannt. Und immer war der Schlüssel zu ihnen der zumeist zeitaufwändige, mühsame und von Rückschlägen gezeichnete Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Erst auf dieser Grundlage war es den Schülern möglich, von mir Anregungen für Veränderungen anzunehmen.
Unbedingt zuzustimmen ist den Autorinnen bei ihren Forderungen, dass Menschen mit Behinderung durchaus auch mit für sie neuen Angeboten herausgefordert (139) werden sollen, genau wie alle Menschen; möchte man ergänzen, und nicht über- oder unterfordert werden, damit sie eine Hoffnung, eine reale Chance auf Leistungserbringung erkennen – ganz im Gegenteil zu der von künstlerischer Seite zunehmend häufiger geforderten „Überforderung“ (vgl. u.a. Primavesi), die angeblich Voraussetzung (!) für ein ästhetisches Erleben sei. Dass nur ehrliches und im Kontext konkret vermitteltes Feedback (137) beim Lernen hilft, ist ja selbstverständlich; wie bei allen anderen Menschen auch; möchte man ergänzen.
Bei der Bewertung und Benotung im „Schulfach Darstellendes Spiel“ werden durchaus die richtigen Fragen gestellt: „Was will ich, gerade bei Schülern in inklusiven Lernkontexten, bewerten.“ (139). Sogenannte nicht-inklusive Lernkontexte unterliegen prinzipiell den gleichen Anforderungen und sie unterscheiden sich in Bezug auf die Verschiedenheit und Vielfalt der Beteiligten lediglich graduell; möchte man ergänzen.
„Dient die Klasse – gemessen an Durchschnittswerten – als Bezugspunkt (…) oder kann man die Leistungen des Schülers anhand seiner eigenen Entwicklung beurteilen? (…) Es ist zu vermuten: Wer das Theaterspielen benotet, mus damit rechnen, dass es bald weniger aktive Akteure in der Klasse gibt.“ (139)
Welcher Umstand mag wohl diese Vermutung genährt haben? Die Ahnung, dass man die Kriterien einer fairen und transparenten Benotung nicht stemmen kann? Ich kann die Autorinnen beruhigen, denn bei einer entsprechend vermittelten Benotung, passiert das Gegenteil.
Dass sich Theaterunterricht zunehmender Beliebtheit bei den Schülern erfreut – trotz oder wegen der Benotung? – ist ja eine nicht zu übersehende Tatsache, seit vielen Jahren. Und dass diese nicht geschieht, weil man angeblich im Darstellenden Spiel leichter bessere Noten bekommt als in Musik und Bildnerischer Kunst, ist ein Ammenmärchen, das gerne in der Anfangszeit des regulären Theater-Unterrichts vor 20 Jahren in Kollegenkreisen der anderen (ästhetischen) Fächer erzählt wurde. Das ist aber lange vorbei.
Aktuell ist eher umgekehrt. Schüler geben mehrheitlich zu Protokoll, dass DS (Darstellendes Spiel) deutlich arbeitsintensiver und das eher ein Grund sein könnte oder für manchen Schüler auch ist, DS nicht zu wählen. Dieser Umstand führte aber auch nicht zu einer geringeren Anwahl von DS. Offensichtlich wollen Schüler hier Leistung erbringen. Das ist doch erfreulich.
Um Theaterunterricht zu evaluieren bieten die Autorinnen Fragebogen an (140ff), die die Einstellungen und Haltungen der Schüler vor und nach einem Theaterprojekt ermitteln sollen. Diese können ein angemessenes Instrument sein, wenn die Schüler in der Lage sind, damit umzugehen und die entsprechende Lese- und Verständniskompetenz haben, was ja für inklusive Gruppen nicht zutrifft.
Zielführender sind da vermutlich genaue Beobachtungen der Schüler insbesondere beim Start des Projektes und wie sie sich in den entsprechenden Übungen verhalten. Das setzt allerdings eine entsprechende Kompetenz bei der Theater-Lehrkraft voraus.
Leider erfährt der Leser zur Nutzanwendung des Fragebogens „NACH dem Theaterprojekt“ (143) nur etwas zur statistischen Auswertbarkeit der Daten und nichts Hilfreiches, wie nun genau und mit Hilfe welcher praktikablen, transparenten und dem Unterrichts“gegenstand“ Theater angemessenen Kriterien eine Note im sogenannten inklusiven Theater-Unterricht zustande kommen soll. Dabei gibt bereits seit längerem Kriterien und ausführliche Kompetenzbeschreibungen auch im Rahmen von Bildungsstandards für eine sachangemessene Notengebung im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel, die inhaltlich auch für sogenannten inklusiven Unterricht mit entsprechenden Anpassungen im Umfang und Intensität gelten können.
Leider werden erst im Anhang (151ff) einige bekanntere Erscheinungsformen von Behinderungen und ihre Ursachen etwas ausführlicher beschrieben, ihre Bedeutung für (Theater)-Unterricht erläutert und Anregungen für den Umgang mit diesen Menschen gegeben. Es zeigt sich, dass nicht nur die „wissenschaftlich-medizinischen“ Diagnosen teilweise unklar, uneinheitlich bis umstritten sind, sondern diese Unklarheit die Schwierigkeit nochmals in Hinsicht zumeist unausgebildeter Theater-Lehrkräfte, die verschiedenen Formen von Behinderungen „richtig“ zu erkennen, potenziert und daraus abgeleitet, die „richtigen“ Lernimpulse zu geben bzw. Fördermaßnahmen durchzuführen.
So habe ich mit Stotterern auch die gegenteiligen Erfahrungen gemacht, die hier als Maßnahmen empfohlen, werden. Beim Training in der Gruppe und in relativ entspannten Gruppengesprächen war das Stottern deutlich ausgeprägter als in Präsentations- und Aufführungssituationen. Und beim Improvisations-Theater vor Publikum (also ohne Konzept und dem Zwang spontan zu reagieren) sprachen sie nahezu fließend und stotterten „plötzlich“ kaum noch. Wie wäre eine solche Erscheinungsform einzuordnen? Und welche Konsequenzen hätte das für die Gestaltung von Theater-Unterricht?
Man stellt fest, dass Behinderte zumeist „ebenso unterschiedlich wie andere Schüler auch“ (158) sind, und die Empfehlungen erschöpfen sich demnach folgerichtig zumeist in allgemeinen Verhaltensanweisungen wie „den Schülern wertschätzend begegnen“ (159), „ihnen genügend Zeit geben“, „beschämende Situationen vermeiden und ihnen Zutrauen schenken“ (160), sie bedürfen „keiner ‚Sonderbehandlung‘ (160), also etwas, das jeder gute Lehrer sowieso für alle seine Schüler in seinem Kompetenz-Portfolio hat.
Mit Recht verweisen die Autorinnen auf die vermutlich fahrlässige Überdiagnostizierung von ADHS zumeist bei Jungen (30% der Fälle werden medikamentös behandelt!), das als „Erkrankung“ noch nicht ausreichend erforscht zu sein scheint.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht, so Roth, liegt bei ADHS ein multifaktorielles Störungsbild vor und man geht von genetisch-epigenetischen Faktoren und Entwicklungsstörungen aus, die Folge vorgeburtlicher und früh-nachgeburtlicher Einflüsse sein können. Insgesamt ist unklar, ob und inwieweit es sich um separate, d.h. auch unabhängig auftretende, oder um genetisch bzw. funktional gekoppelte Störungen handelt. ADHS werde oft überdiagnostiziert.
Für viele Schüler könnte das stundenlange „Festnageln“ auf ihren Stühlen und die Einschränkung ihrer Potenzialentfaltung durch Verengung auf Kopflernen und wenige motorische Fähigkeiten wie Schreiben in veraltetem kontraproduktivem Schulunterricht, Ursache für einen starken Drang nach Entfaltung aller Verhaltens-Möglichkeiten, die in den Menschen angelegt ist, sein. Menschen sind „Bewegungs-Tiere“.
Theater-Unterricht bietet hier ein Lernfeld, in dem Menschen alle in ihnen angelegten Potenziale entfalten können. Theater kann wie kaum ein anderes Lernfeld, individuellen Dispositionen Rechnung tragen. Theater-Lehrkräfte sollten das erkennen und ihren Unterricht an einer modernen Didaktik des Theaters orientieren und entsprechend gestalten.
„Zu guter Letzt“ möchte man als Leser gerne einer übergeordneten Absicht des Buches glauben, „ein stärkeres Bewusstsein für die Disposition (…) (meiner) Schüler bekommen“ (147) zu haben „und diese nicht als Hindernis, sondern als Chance“ begriffen zu haben.
Zum Thema Inklusion sei dem Leser auch der Artikel von Katrin Hummel „Die Illusion mit der Inklusion“ empfohlen, der das Problem auf den Punkt bringt.
Weiterführendes
- Amaya, Melanie (2013): Die Kunst sie „schön zu machen“ – Theaterpädagogischen Arbeit mit geistig behinderten Menschen. Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zur/zum Theaterpädagogin/en BuT® > http://www.theaterwerkstatt-heidelberg.de/uploadverzeichnisse/downloads/AA_TP13_1_Amaya_M.pdf
- Hummel, Katrin (2014): Die Illusion mit der Inklusion. In: Frankfurter Allgemeine vom 17.06.2016
- Kluge, Meike (2014): Verzauberung-Entzauberung. Das Bilder- & Objekttheater ein kommunikationsunterstützender theaterpädagogischer Ansatz für die Inklusion von sprechenden & nicht sprechenden Menschen mit besonderem Förderbedarf !? Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung zur Theaterpädagogin BuT® > http://www.theaterwerkstatt-heidelberg.de/uploadverzeichnisse/downloads/AA_BF10_1__Kluge__M_Objekttheater.pdf
- Mirka, Constanzi (2014): Biografische Theaterarbeit mit Menschen geistiger Behinderung. Was steckt hinter dieser Performance: Kunst oder Aufklärung? Abschlussarbeit im Rahmen der Ausbildung Theaterpädagogik BuT ® an der Theaterwerkstatt Heidelberg > http://www.theaterwerkstatt-heidelberg.de/uploadverzeichnisse/downloads/AA_TP14_1_COSTANZI_M_Biographische_Arbeit_m_Menschen_mit_Behinderung.pdf
- Primavesi, Patrick/ Deck, Jan (2014)(Hg): Stop teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript > Rezension
- Roth, Gerhard (2015): Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta > Rezension
- http://tpz-hildesheim.de