Warstat, Matthias u.a. (Hg) 2015: Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis. Recherchen 121. Berlin: Theater der Zeit. 195 Seiten – Rezension
Applied theatre ist wie alle Kunst von Anbeginn der Menschwerdung Ausdruck von Auseinandersetzung des Individuums mit Gesellschaft und Sozialem, und zwar mit ästhetischen Mitteln. Dabei kommt in jedem Fall ein Absicht-Wirkung-Verhältnis zum Tragen.
Das Autorenteam skizziert die Geschichte des applied theatre und richtet in dem Sammelband seinen Blick auf ein Theater, „das meist außerhalb der Kunstsphäre situiert wird und das sich in Deutschland – anders als in Großbritannien und den USA – bisher weitgehend jenseits des Interesses der Theaterwissenschaft entwickelt hat.“ (7)
Mit dem Sammelbegriff „applied theatre“ wird eine sozial engagierte Theaterkunst „mit expliziter politischer, pädagogischer oder therapeutischer Intention“ bezeichnet, […] die sich an klar definierte Zielgruppen“ richtet, „die explizit benannte soziale Merkmale teilen“. (7)
Inhaltsverzeichnis
- Applied Theatre: Theater der Intervention
- Interventionen
- FALLBEISPIELE
- Joy Kristin Kalu: If you die then we will have no play. Therapeutisches Theater als Intervention
- Julius Heinicke: Zwischen Narrenfreiheit und neokolonialem Protektorat
- Lilian Katharina Seuberling: Die Nabelschnur ins Heute
- Fabian Lempa: Intervenierende Bewegungen. Der Walk Act in ökonomischen Kontexten
- Florian Evers: Personalauswahl als intervenierendes Spiel
- Kristin Flade: Das Mittel der Mauer. Vom Entsenden widerständiger Botschaften
- Janina Möbius: La LLeca – oder: Der Körper als Verhandlungsort
- Natascha Siouzouli: Eine Intervention ins Organische. Max und Moritz. Eine Winterreise
- Matthias Walstatt: Das Ende der Quelle. Letzte Interventionen
- Natascha Siouzouli: Die Frage nach der Institution
- BILDSTRECKE
- Marianne Flotron: Fired – Psychodrama – Work
- Methoden
- Aporien
- Epilog
- Bibliographie
- Internetressourcen
- Autorinnen und Autoren
Die Autoren wollen „applied theatre als eine weltweit an Bedeutung gewinnende Art von Theater genauer“ vorstellen (8). „Ein Grundzug dieses Theaters wird dabei im Mittelpunkt stehen: die Wirkungsversprechen von applied theatre.“ (8) Dessen Hoffnungen gelten „dem aktiven Mitwirken und Mitspielen, idealiter über längere Zeiträume. Als Mitwirkender einer Theaterproduktion, so die Annahme, muss man sich mit anderen austauschen, gerät in affektive Relationen, trifft Entscheidungen, erhält Anlass zu Reflexion – und wird in jedem Fall intensive Erfahrungen machen.“ (8)
Die Autoren weisen Theater auf der einen Seite einen Platz innerhalb eines „Kunstrahmens“ (12) zu und sprechen auf der anderen Seite bei applied theatre von einer anderen Rahmung von Theater in einem „kunstfernen Raum“.
„Die meisten Anbieter oder Anleiter von applied theatre“, so die Autoren, „meinen nicht im engeren Sinne Aufführungserlebnisse, wenn sie von den Möglichkeiten ihres Theaters berichten. Sie denken an längerfristige Lernprozesse, die die Akteure durchlaufen sollen. Wenn etwa Kinder oder Jugendliche in den Probenprozessen zu einer Theateraufführung Stimm- und Sprechtechniken, mimetische Kompetenzen und Improvisationen erlernen, können sie von diesen Fähigkeiten, so die Hoffnung, anschließend auch in anderen Lebensbereichen profitieren.“ (8)
„So bedeuten die neuen Formen eine Herausforderung für das angestammte Autonomie-Ideal, weil sie von explizit definierten Zwecken ausgehen.“ (9)
In Berichten über herausragende Kindertheater-Projekte wird Partizipation wie folgt definiert: „Das Theater wird zum Experimentierraum und setzt das Bild des Kindes als verantwortungsbewusstem Zuschauer und Ko-Produzenten der Aufführung voraus. Nur wer im Spiel üben und ausprobieren kann, welche Auswirkungen das eigene Denken und Handel an sich und seiner Umwelt haben, der ist vorbereitet, sich auch in seinem Alltag im ‚Zeitalter der Partizipation’ zurecht zu finden und reflektiert zu handeln.“ (Wiederhold: 15)
Die Autoren verweisen auf die alte Diskussion der Nützlichkeit von Kunst und Theater. Mit den Versprechungen nach „kreativer Selbstoptimierung“ stelle sich applied theatre „(gewollt oder ungewollt) neoliberaler gesellschaftspolitischen Rezepten an die Seite.“ (13) Andererseits „ist applied theatre aber eine kollektive Praxis“, die die politische Energie besitze, „systemimmanente Veränderungen“ zu bewirken. Sie ziele nicht auf fundamentale Systemkritik, wobei die Frage zu stellen wäre, welche Aufgabe oder genauer, welche Funktion Theater grundsätzlich haben kann und sollte. Wir kennen diese intensiv geführte Diskussion seit es Theater gibt, nicht erst seit Brecht.
Es sei mit den Autoren daran erinnert: „Die Vorstellung von Kunst und Theater als einem autonomen Bereich ästhetischer Erfahrungen ist im Kern eine idealistische Denkfigur des späten 18. Jahrhunderts“. (16)
Die ersten Seiten des Buches machen neugierig darauf, ob und wie der intendierte wissenschaftliche Diskurs gelingen wird und Angebote für ein konstruktives Verständnis von Theater als kultureller Akt und als kulturelle Bildung gemacht werden, die eine analytische und trennende Grenzziehung zwischen einem Theater an sich (Was ist das?) und „funktional bestimmtem Theater“ (7) überwinden, ohne in begrifflicher Unschärfe zu verharren.
„Theater ist weit mehr als eine Kunstform.“ lautet das Vorab-Fazit. (17)
Wir sind gespannt auf den Erkenntnisgewinn.
Als Theaterlehrer kann ich die Einschätzung der Autoren bezüglich der Vernachlässigung von applied theatre durch die Wissenschaft bestätigen. Nicht verwunderlich, hat doch die Theorielastigkeit deutscher Geistes- und Kulturwissenschaften eine lange Tradition bis in die heutige Zeit. Erstaunlich, wenn man davon ausgeht, dass Theater schon immer Gesellschaft reflektiert und verändernden Einfluss nehmen bzw. kulturell gestaltend wirken will. Dass dieser Gestaltungswille seinen Ursprung wiederum eher in der Praxis hat, zeigt sich u.a. in den Curricula deutscher Schulen und Didaktiken des Theaters, die von Praxis-Experten entwickelt wurden, wenn z.B. in der EPA ungewöhnlich konkret zur Partizipation und Intervention aufgefordert wird:
- „Lebensweltliche Bezüge in die Gestaltung einbeziehen.
- Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Theater herstellen.
- Für die eigene Gestaltung Möglichkeiten soziokultureller Partizipation entwerfen.“ (EPA:13)
(vgl. dazu die schulischen Chancen, auch über Kompetenzüberprüfungen dem gerecht zu werden > „Klausur, ästhetische Praxis und Tod – Eine Theater-Klausur und ihre Folgen“).
Das Autorenteam konkretisiert seine „theaterwissenschaftliche Theoretisierung und Analyse der Interventionen des applied theatre“ weiter, indem es konstatiert, dass „all diese Verfahren eint, dass sie Einfluss auf die Rezipienten nehmen, die entsprechend der Form der auftretenden Irritiationen zu einer Reaktion herausgefordert sind und gegebenenfalls ihre Haltung reflektieren und sich neu positionieren.“ (32) Die Autoren erkennen im Rekurs auf die Ausführungen Mouffes ein „politisches Potential […], das der künstlerischen Interventionspraxis inhäriert und dem die institutionelle Anbindung [Interessen der Geldgeber und umsetzenden Institutionen] keineswegs entgegenstehen muss.“ (33)
Wir wagen einen ersten gedanklichen Transfer, der monokausale Deutungsversuche lügen straft: applied theatre, zu dem wir auch Schul(theater)unterricht zählen, führt nicht zwangsläufig zur Anpassung und unterstützt nicht notwendigerweise neoliberale Ausbeutungsstrategien, wie wir es andernorts vielfach undifferenziert vorgebetet bekommen (vgl. einige Beiträge in „Stop Teaching“ > Rezension). Impulse des applied theatre „tragen vielmehr zur Schaffung von Orten bei, an denen Subjektivitäten hervorgebracht werden, die hegemoniale Ordnungen hinterfragen und unterminieren können.“ (34)
Im schulischen Bereich kennen alle Lehrkräfte die stoisch vorgetragenen Wünsche/ Forderungen der Schulleitung an die Theaterlehrkräfte zu Weihnachten ein Märchen zu inszenieren oder zu anderen Gelegenheiten das Theater zur Repräsentation der Schule im Wettkampf um Schüler für das Eigenmarketing zu benutzen. Als Beispiele gegenhegemonialer Machtausübung sei hier auf Initiativen verwiesen, in denen Schultheater durch und in Aufführungen, performativen Aktionen, Flashmobs usw. öffentlich Kritik am Herrschaftsanspruch des Systems Schule und seiner Methode übt; trotz Angst vor Strafen und schlechten Noten als Gegenreaktion.
Nach einem kurzen Exkurs in die Welt interventionistischer Praktiken der bildnerischen Kunst und einem Vergleich mit applied theatre schließen die Autoren das Kapitel „Interventionen“ ab – bevor sie zu den Fallbeispielen kommen – mit einer ersten „Einteilung in die dominanten Haltungen von Interventionen des applied theatre – direkt störend, direkt stützend oder eines von beiden mittels der paradoxen Praxis des Behauptung des Gegenteils.“ (48)
Das erste von Joy Kristin Kalu geschilderte Fallbeispiel „If you die then we will have no play. Therapeutisches Theater als Intervention“ zeigt, dass therapeutisches Theater „weder einer spezifischen Theaterästhetik (folgt) noch bezieht es sich auf eine spezifische Schauspieltheorie“ (58). Das öffentliche Rollenspiel als Musicalinszenierung unter Einbeziehung des Publikums ist Teil der Therapie. „Der zynisch anmutende harte Bruch, der auf die ethisch fragwürdige Inszenierung (als Projekt des Studiengangs Drama Therapy der Steinhardt School Of Culture, New York) in die Behandlung einer suizidalen Klientin als Unterhaltungsstück Bezug nimmt, steht dabei paradigmatisch für die Dramaturgie der Inszenierung.“ (57)
Julius Heinicke beschreibt in „Zwischen Narrenfreiheit und neokolonialem Protektorat“ den Kampf neokolonialer Institutionen wie der Weltbank – gegen afrikanische Traditionen für ihre jeweiligen Interessen und Zwecke mit dem Mittel und Werkzeug des applied theatre – am Beispiel der Entwicklung in Simbabwe.
Applied theatre wird damit zum Instrument, das auf der einen Seite zum Schutz des African Spirit vor der westlichen Welt eingesetzt wird, den der Präsident Mugabe repräsentiert, und auf der anderen Seite zur Durchsetzung westlicher, demokratischer Normen und Werte gegen den diktatorisch regierenden Präsidenten genutzt.
Applied theatre nutzt auch hier das Rollen Spielen, denn damit wird der Dialog zwischen den gegnerischen Lagern möglich, weil die Schauspieler im Schutz der theatralen Rahmung nicht die Meinung ihrer gespielten Rollen vertreten müssen und dies ihnen eine gewisse (Narren-)Freiheit verschafft. Das Rollenspiel wird somit zum zentralen ästhetischen Format, das durch Typisierung und humorvolle Überzeichnung erlaubt, auch jeweils unbequeme Wahrheiten unters Volk zu bringen und zu diskutieren. Applied theatre als Rollenspiel erlaubt somit das öffentliche Denken und Diskutieren von politischen Alternativen und Gegenentwürfen.
Lilian Katharina Seuberling beschreibt in „Die Nabelschnur ins Heute“ einen Therapieprozess zwischen Gestalt- und Psychotherapie, der mittels Rollenspiel ein Geburtstrauma aufarbeitet, in dem in einem ersten Schritt eine neue Situation imaginiert und anschließend in eine verkörperte Handlung fortgeführt wird. Die therapeutische Intervention zielt auf „Aktivierung und Selbstverantwortung“ (73) der Klientin durch Einübung.
Fabian Lempa zeigt in „Intervenierende Bewegungen. Der Walk Act in ökonomischen Kontexten“, am Beispiel einer szenischen Intervention im Unternehmenskontext, wie diese zunächst nur auf humorvolle Unterhaltung – mit den Mitteln des Rollenspiels – Bezug zu Firmenthemen angelegt war, einen Raum für Kontingenz eröffnet und unerwartete Reflexionsprozesse bei Unternehmensmitarbeitern auslöst.
Florian Evers fasst in „Personalauswahl als intervenierendes Spiel“ zusammen, wie ein Unternehmen mittels Rollenspiel Auswahlverfahren für die Besetzung von Stellen durchführt. Die Beschreibung gerät zur spitzfingrigen Abwehr und Herabsetzung von Potenzialentfaltung von Menschen aus der Sicht und zum Nutzen der Unternehmen als „Selbstoptimierung“ im Geiste neoliberaler Ausbeutung. Aus den gleichen Gründen wird die Arbeit an soft-skills wie Problemorientierung, kommunikativen Fähigkeiten, Empathiefähigkeit usw. abgewertet. Ideologische Scheuklappen versperren hier leider die Sicht: Potenzialentfaltung an sich ist prima, in Wirtschaftsunternehmen ist sie pfui.
Hier sei auch der schreibende Theaterwissenschaftler Evers angemahnt, wenigsten zu versuchen, eine objektive Perspektive anzustreben. Sicherlich schwierig, wenn er kaum eine Chance hat, sich das Objekt der Betrachtung umfassend anzuschauen, wenn er von der schier unüberwindbaren Hürde spricht, den Mehrwert für ein Unternehmen durch den Einkauf seiner Kompetenzen als Theaterwissenschaftler deutlich zu machen. Dabei gäbe es reichlich publizierte Erfahrungsbericht zu lesen und auskunftswillige Experten zu befragen. Scheuklappen absetzen und Hausaufgaben machen!
Kristin Flade fragt in „Das Mittel der Mauer. Vom Entsenden widerständiger Botschaften“ nach dem Wirksamkeitsraum einer Luftballon-Aktion in israelisch besetztem Gebiet, die als Referenz eine ähnliche Aktion zum 25-jährigen Mauerfall in Berlin hat. Obwohl es hierbei „nur“ um eine medial, per Video, vermittelte politisch-symbolische Aktion handelt, definiert Flade sie als Aufführung mit Adressatenbezug (die internationale Öffentlichkeit) und erhofftem Solidarisierungseffekt.
Ähnlich bewertet sie einen Prozessionszug mit Schauspielern in Olivenbaum-Kostümen und kleinen Theaterszenen als theatrale Intervention, „weit davon entfernt, Orte politisch wirksamer Verhandelbarkeit oder auch nur tatsächlichen Dialogs zu sein“ (96f), die Israel mit Gummigeschossen, Schockgranaten und Tränengas beantwortet.
Janina Möbius hinterfragt in „La LLeca – oder: Der Körper als Verhandlungsort“, Absichten und erhoffte Wirkungen eines Gefängnisprojektes in Mexiko-Stadt, von dem die Macher mit ihren Interventionen, „wie die Jugendlichen durch Kirche, Familie, Schule und Arbeit zu – offiziell zunächst gescheiterten – sozialen Subjekten gemacht werden.“ hinterfragen wollen. (101)
„Es kann als eine politische Intervention im Kontext von Macht und Gewalt gedeutet werden, einen Ort zu erschaffen, an dem Freude und ‚Frieden’ erfahren werden kann, als eine Art Schutz(-raum), vom dem aus man mittels einer schönen Erfahrung die Welt kritischer betrachten kann.“ (101) Dies versucht die Gruppe u.a. durch Rollenspiele zu erreichen. So werden z.B. Feiern und festliche Zeremonien gespielt, bei denen beispielsweise jeder der männlichen Insassen sich mit der Braut symbolische verheiraten kann. Nach den wöchentlichen Sitzungen, in denen die Häftlinge Handlungsalternativen zu dem einseitig gewaltvollen Einsatz des Körpers als Machtmittel lernten, konstatierten die Wärter, dass die Häftlinge danach ungewöhnlich friedfertig in den Zellen waren. Das Projekt wurde 2014 offiziell von den Behörden beendet. „Der Gefängnisverantwortliche sagte zu uns: Warum ihr raus musstet – weil wir die Kontrolle im Gefängnis verloren haben, da ihr über mehrere Jahre dort gearbeitet habt.“ (105f)
Natascha Siouzouli berichtet in „Eine Intervention ins Organische. Max und Moritz. Eine Winterreise“ von ihrer großen persönlichen Betroffenheit von einer Theateraufführung in einer Berliner Jugendstrafanstalt, in der die Darsteller ein australisches Stück spielten und dabei die vorgegebenen Rollen nutzten, ihr eigene Persönlichkeit, ihre Biografie zu zeigen, so dass das Rollenspielen in authentische Selbstdarstellung überging.
Matthias Warstat kritisiert in „Das Ende der Quelle. Letzte Interventionen“ eine Aufführung mit ehemaligen Mitarbeitern des in Konkurs gegangenen Quelle-Konzern als wenig kohärent und mit „sozialtherapeutische(m) Gestus“ (114), die als Trostmaschine Trauerarbeit leistete, als Theaterpraxis, die „keine eigentlich neuen Perspektiven eröffnet, sondern eher dazu dient, die Scherben zusammenzukehren.“ (117)
„Man traf sich in dem kleinen Theatersaal zu einem gemeinsamen Klagelied, kompiliert aus vielen individuellen Litaneien, in denen ein letztes Mal der treue, aufrechte Arbeitnehmer als ehrbare und würdevolle Figur des spezifisch westdeutschen, paternalistisch christlich konturierten Kapitalismus gefeiert wurde. […] Die unverhohlene Nostalgie in der Schilderung des Arbeitsalltags erlaubte Einblicke in die Unternehmenskultur der alten Bundesrepublik, eröffnet aber keine zukunftsgerichtete Perspektive – etwa im Sinne von konkreten politischen Forderungen oder gesellschaftlichen Anliegen.“(117f)
Warstat geht in seiner Kritik noch weiter und bezeichnet die Fürther Aufführung als Inszenierung mit einem „neoliberalen Einschlag“, in dem „das Hohelied des kreativen Individuums“ gesungen wurde, und damit Menschen als zukunftsfähige Verfügungsmasse des Neoliberalismus als „nur noch vollständig individualisierte, marktgängige, auf eigene Rechnung arbeitende Akteure“ vorführt. (119)
Als Gegenmodell favorisiert Warstat eine Aufführung von Rimini Protokoll, in der die Agierenden „aus einer Position von Wissenden – Inhaber eines spezialisierten, professionellen Alltagswissens – […] Einblicke in ihren besonderen Erfahrungsschatz geben.“ (118) Worin die Erkenntnisleistung eines in sich widerspruchsvollen Sprach(de)konstruktionskonglomerats, in dem die Begriffe All(!)tag, spezialisiert und professionell bezogen auf Laiendarsteller liegt, erfährt der Leser leider nicht.
Im letzten Beitrag „Die Frage nach der Institution“ erzählt Natascha Siouzouli von Künstlerinitiativen in Griechenland, die geschlossene Räume (ein Theater, ein Café) für die Kunst auf dem Wege der „Selbstinstitution“ (120) zugänglich machten, dabei auf „Fluidität“ und „Ephemeralität“ insistierten, um ein Potenzial an Unkontrollierbarkeit zu schaffen, das eine Institutionalisierung verunmöglicht.
Informationswert und ästhetische Qualität der abgedruckten Bildchen der „Bilderstrecke. Fired – Psychodrama – Work“ tendieren gegen null. Das ist schade, denn den verschwendeten Platz hätte sich der Lesen gefüllt gewünscht mit Ausführungen zur Arbeit Flotrons, die mit „auf Rollenspielen basierende Techniken“ die „Auswirkungen der Sozialwissenschaften auf das Verhalten in der Gesellschaft“ (126) untersucht. Interessant wäre es auch zu erfahren, welche Erfahrungen sie gemacht hat, wie sie mit dem Widerspruch einer Intervention in einem niederländischen Versicherungsunternehmen umgegangen ist: „Das Projekt zielt darauf ab, die Idee der Demokratisierung von Arbeit anzustoßen, und das Theater der Unterdrückten in seiner ursprünglichen Intention anzuwenden, also als Werkzeug, um Unterdrückung aufzudecken und Formen des Widerstandes zu entwickeln.“ (134)
Im Methoden-Kapitel werden bedeutsame Analysemethoden für Theater skizziert, um „die eklatante Lücke in den Studien zum applied theatre zu schließen“ (138). Die Autoren konstatieren: „Alle bisher vorgestellten Methoden verstehen sich im Kern als kunstwissenschaftliche Verfahren, die nicht speziell darauf ausgerichtet sind, Theaterprojekte mit primär gesellschaftlichen, politischen und therapeutischen Wirkungsversprechen zu untersuchen. Applied-theatre-Projekte sind dagegen in hohem Maß mit Intentionen und Zielsetzungen verstrickt, die zunächst relativ unabhängig von der Theaterarbeit im Raum stehen.“ (143) „da deren Wirkungsfeld meist über die raumzeitlichen Begrenzungen von Aufführungen hinausgeht und Probenprozesse oder Diskussionen mit dem Publikum ebenso wichtig sind wie die Aufführungen selbst.“ (140)
Da der Blick deutschsprachiger Theaterwissenschaft – (un)verständlicherweise – in der sogenannten Kunstszene verhaftet ist, schauen die Autoren einmal über den Tellerrand in die englischsprachige Welt, weil beispielsweise in Großbritannien die Beschäftigung mit applied theatre selbstverständlich Teil von Forschung und Lehre an den Drama- und Performance-Studies-Departements der Universitäten ist. „Eine Trennung zwischen Theorie und Praxis, wie sie in Deutschland zwischen den theaterbezogenen Studiengängen an Universitäten einerseits und Kunstakademien andererseits praktiziert wird, gibt es dort nicht. […] Viele einschlägige britische Autoren sind in der Praxis des applied theatre zum Beispiel als Spielleiterinnen tätig und lehren zugleich an den Drama Departements der Universitäten. Sie verfügen über eine Doppelqualifikation, die sich auch in der Fokussierung und im Stil ihrer wissenschaftlichen Arbeit äußert. Nicht selten machen sie ihre eigene Theaterpraxis zum Gegenstand ihrer Untersuchung.“ (144)
Angewandte Theaterforschung macht demnach mit seiner Forschungsarbeit einen ersten Schritt, diese Forschungslücke im deutschsprachigen Raum zu schließen (vgl. List, Volker (2015): Kursbuch Theater machen – Erste Evaluation).
Es rücken damit neue Forschungsfragen in den Fokus, z.B. „Wie können Räume, die stark hierarchische Strukturen aufweisen [wie Schule], durch applied theatre verändert werden? […] Aufgrund ihrer regulären Nutzung etwa als Schule oder Gefängnis sind diese Räume sozial kodiert, so dass ihnen auch ein bestimmter Verhaltenskodex zugrunde liegt. Das Theaterspiel versucht nun nicht nur, den architektonischen Raum umzuorganisieren, sondern soll den Teilnehmenden auch ein anderes soziales Raumdispositiv vermitteln, indem es die am Ort geltenden reglementierenden Strukturen transformiert.“ (145) (Vgl. die Beschreibungen einer ehemaligen Theater-Schülerin, diesen (Proben-)Raum als etwas Besonderes und Verhalten Veränderndes erlebt zu haben, in: Grieb, Marina (2011): Alles nur eine Frage des Respekts? – Die ehemalige Theater-Schülerin erinnert sich. In: Spiel & Theater. Heft 188. Weinheim: Deutscher Theaterverlag: 8-9: „Der Umgang miteinander war im Theaterunterricht allerdings schon seit der Neunten etwas Besonderes. […] Nach ca. einem halben Jahr war es Gang und Gebe, dass wir uns automatisch im Sitzkreis treffen und darüber sprachen, was wir in der Stunde machen und wie wir starten. Keine Basisdemokratie, aber Mitspracherecht – jeder darf sich äußern, jeder wird gehört.“ (Vgl. auch: List, Volker (2011): Alles eine Frage des Respekts? – Gedanken zum Verhalten von Jugendlichen bei Aufführungen. In: Spiel & Theater. Heft 188. Weinheim: Deutscher Theaterverlag: 2-3)
Da moderner Theater-Unterricht in der Schule auch ergebnisoffen sein sollte – die konkret ausdifferenzierte Aufführung entsteht erst durch den ästhetischen Arbeits-Prozess und ist kein pedantischer Versuch von sogenannter werktreuer Inszenierung eines fertigen Stückes oder des chronologischen Abarbeitens von Modulen in Schulbüchern oder eines Techniken-Methoden-Paukens – haben die Theater-Lehrkraft und die Schüler Freiräume, die jeweils sehr unterschiedlich verlaufenden (ästhetischen) Gruppenprozesse zu gestalten und zu steuern.
Es stellt sich bei einer ergebnisoffenen Arbeit die Frage: „Wie können die Projekte, neben dem oben beschriebenen Wandel des Raumes, ihr politisches, soziales, therapeutisches Interventionspotential entfalten?“ (146)
Auf Nicholson und Thompson verweisend bezeichnen die Autoren das Rollenspiel als grundlegende Methode des Theaterspielens, das ein „Oszillieren von Realität und Fiktion“ ermöglicht und „soziale Strukturen aufzubrechen vermag.“ (146f)
Als Mangel an den britischen Ansätzen der Beschreibung des applied theatre sehen die Autoren das Fehlen von genauen „Beschreibungen der Theaterform“ (153) und „Überhaupt ist auffällig, dass die hier vorgestellten britischen Ansätze wenig Neigung entwickeln, jene Bereiche, die gemeinhin dem ästhetischen zugeschrieben werden, d.h. die Formen und Techniken des künstlerischen Schaffens eingehender zu beschreiben und zu analysieren.“ (153)
Auf die Frage, wie „eine Analyse von Applied-theatre-Projekten auf der Basis der verschiedenen analytischen Traditionen der Theaterwissenschaft sinnvoll durchgeführt werden kann“, um die „vielfältigen Praktiken, Formen und Kontexte von applied theatre in den Blick zu bekommen (153), empfehlen die Autoren, vertraute theaterwissenschaftliche Verfahren zu erweitern.
Für die weitere Vorgehensweise beschreiben die Autoren ein Vier-Punkte-Programm, in dem teilnehmende Beobachtungen und qualitative Interviews eine zentrale Rolle spielen sollen.
Im Kapitel „Aporien“ versuchen die Autoren den komplex-heterogenen Forschungsgegenstand für eine wissenschaftliche Bearbeitung zu strukturieren und schlagen ein Drei-Phasen-Model vor, das die Betrachtung von Applied-theatre-Projekten handhabbar machen soll: 1. Zielsetzung, 2. Produktion und 3. Reflexion.
Fünf beschriebene Aporien, die als verharrende und unaufhebbare Widersprüche verstanden werden, zeigen die Reichweite des applied theatre an. „Was dennoch noch einmal betont werden sollte, betrifft jene Eigenschaft des Theaterspiels, sich eine gewisse Kontingenz und Unverfügbarkeit zu bewahren.“ (174)
Das Autorenteam muss sich nach seiner sorgfältigen „theaterwissenschaftliche(n) Theoretisierung und Analyse der Interventionen des applied theatre“ (32) der Frage stellen, warum der vermutlich mit Abstand größte Bereich des applied theatre, nämlich Schultheater, Darstellendes Spiel und Theaterunterricht, auf den die Definition des Autorenteam auf den Seiten 8 (siehe oben) und 20 recht präzise zutrifft – „Applied theatre ist ein durch und durch prozessuales Geschehen; wichtig ist immer der gesamte Planungs-, Arbeits- und Reflexionsvorgang, einschließlich der Präsentationen und der ihnen folgenden Auswertungsgespräche.“ (20f) – in der Betrachtung einen so geringen Stellenwert einnimmt und darüber hinaus entsprechende Verweise fehlen.
Interventionistische Situationen zielen immer auf Veränderung. Veränderung impliziert zumeist – insbesondere wenn sie freiwillig geschieht – einen Lernvorgang. Insofern könnte man mit Bezug auf Butollo und Karl (68) formulieren, dass ein Lernvorgang sowohl auf ein Bewusstmachen und -werden der eigenen Ressourcen und Potenziale (vgl. Gestalttherapie) als auf eine Verhaltensänderung (Verhaltens-/ Psychotherapie) abzielt. Mit dem Blick aus dieser Perspektive erscheint selbstverständlich auch Schul(theater)unterricht als eine Form von applied theatre, die ihn wertvoll für eine entsprechende wissenschaftliche Untersuchung macht. Immerhin haben wir es vermutlich mit der größten Gruppe von Menschen zu tun, die von dieser Fragestellung betroffen ist bzw. darin involviert ist. Ein Grund mehr sich damit intensiver zu beschäftigen.
In den geschilderten Fallbeispielen wird offensichtlich, welch große Rolle das Rollenspielen spielt. In allen geschilderten Fallbeispielen bestimmt das Rollenspiel Form und Methode der als Intervention bezeichneten ästhetischen Praxis im Rahmen kultureller Bildung.
Nicht verwunderlich, wenn Kunst und Theater auf Wirklichkeit treffen. Ist doch das Rollenspielen überwiegend der zentrale Ursprung und das zentrale Format von Theatralität von Anfang an. Im Rollenspiel wird es möglich (s)eine Geschichte zu erzählen, ihr Körper und Gestalt zu verleihen und das nur Gedachte, die Vision reflektierend probend zu erhandeln und eine neue Wirklichkeit zu kreieren.
Wenn sich Theater aus der abgehobenen Sphäre der Selbstgenügsamkeit und Selbstbespiegelung in imaginierter Autonomie in die Niederungen menschlicher Beziehungen, des Sozialen und der Kultur begibt, die Menschen wirklich betrifft, in die sie einbezogen sind – ob sie wollen oder nicht – kann kulturelle Bildung gelingen.
Auf der Ebene des Rollenspiels kann Theater seine Kraft entfalten, die viele Menschen erreicht. Aufgabe der Theater-Experten ist es, den Agierenden und den Betroffenen zu zeigen, das Theater noch mehr ist als Rollenspiel, dass eine angemessene ästhetische Formung das Rollenspiel zu etwas Herausgehobenem, zu etwas Besonderem machen kann.
„Und überall dort, wo Kunst sich nicht zur Illusion verspielt, ist Schönheit, gar Erhabenheit dasjenige, was eine Ahnung künftiger Freiheit vermittelt.“ (Bloch 1973: 250)
Weiterführendes
- Bloch, Ernst 1973: Das Prinzip Hoffnung. Erster Band. Frankfurt/M: Suhrkamp
- Grieb, Marina 2011: Alles nur eine Frage des Respekts? – Die ehemalige Theater-Schülerin erinnert sich. In: Spiel & Theater. Heft 188. Weinheim: Deutscher Theaterverlag: 8-9
- Hawemann, Horst 2014: Leben üben. Improvisationen und Notate. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- List, Volker 2016: Klausur, ästhetische Praxis und Tod – Eine Theater-Klausur und ihre Folgen
- List, Volker 2015: Unternehmenstheater – Theatermethoden im Business
- List, Volker u.a. 2013: Interaktive Großgruppen. Lebendig lernen – Veränderung gestalten. Heidelberg: Springer Medizin
- List, Volker 2011: Alles eine Frage des Respekts? – Gedanken zum Verhalten von Jugendlichen bei Aufführungen. In: Spiel & Theater. Heft 188. Weinheim: Deutscher Theaterverlag: 2-3
- Wiederhold, Sarah 2015: In gleiche Stücke schneiden und verteilen. Partizipation in der ästhetischen Bildung. In: ASSITEJ e.V. (Hg) (2015): IXYPSILONZETT. Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater der ASSITEJ Deutschland 03.2015. Berlin: Verlag Theater der Zeit: 14-15