Die Klausur einer Schülerin im Theater-Unterricht/ Darstellendes Spiel inspiriert ihre Mutter, diese zum Ausgangspunkt für ihre Abschluss-Arbeit einer Weiterbildung der Palliative Care der Hospiz- und Palliativ Akademie Wetzlar zu machen.
Innerhalb dieses Familien-Projekts entstand als Teil der Abschlussarbeit der Mutter ein Fotoband (mit Texten), der nun vielfach in der Hospizarbeit eingesetzt wird.
Die relativ einfache Konzeption dieser Theater-Klausur wird hier vorgestellt, die sich als differenzierender Impuls für ungewöhnliche Projekte kultureller Bildung erweist, indem sie Transfer und selbstständige Problemlösung einfordert. Kann man hier schon von einer Grenzüberschreitung zu einer ästhetischen Intervention sprechen?
Mit der vorliegenden Beschreibung wird gleichzeitig ein Blick auf die Frage nach der Wirkung von Theater/ Darstellendem Spiel und Theater-Unterricht im außerschulischen Raum geworfen und worauf Partizipation und ästhetische Praxis zielen können (vgl. u.a. Wiederhold 2015; Warstat 2015).
Kompetenzüberprüfungen gehören vermutlich zu den kompliziertesten und aufwändigsten Leistungsbeurteilungen. Als (Theater-)Lehrkräfte sind wir immer auf der Suche nach angemessenen Aufgaben, die es ermöglichen mit möglichst hoher Trennschärfe ein gerechtes und faires Urteil zu fällen.
Die Benotung soll dem Schüler im Abgleich von Fremd- und Selbsteinschätzung eine angemessen kritische und realistische Selbstbeurteilung ermöglichen, die am Ende zu einem gesunden Selbstbild führt und dem Heranwachsenden Möglichkeiten und Chancen von Partizipation in relevanten Lebensbereichen eröffnet.
Das Schulalltag gibt ein enges Korsett vor, in dem sich Lernprozesse und Leistungsüberprüfungen abspielen, man könnte auch sagen: abgespult werden.
In einer Leistungsüberprüfung soll ein Schüler durch eine vom Lehrer gestellte Aufgabe zeigen, was er im Unterricht gelernt hat.
In dem Korrektur- und Benotungsprozess spielt der Effizienzgedanke eine nicht unbedeutende Rolle für Lehrkräfte. Die Arbeiten der Schüler sollten mit möglichst wenig Arbeitsaufwand korrigiert werden können und die Benotung transparent, plausibel für alle und individuell nachvollziehbar sein.
Deutschlehrer schielen neidisch auf Mathematiklehrer. Je enger die Aufgabenstellung ist, umso leichter ist die Korrektur (vgl. multiple choice). Formel richtig eingesetzt? Ergebniszahl richtig? Bewertung fertig! Korrekturbedarf für eine Mathematikklausur laut Aussagen von erfahrenen Kollegen: Fünf bis sieben Minuten.
Interpretationen in Deutsch und politische Analysen in Gemeinschaftskunde benoten? Oh, weh! Das dauert, und Noten stoßen auch schomal auf Unverständnis bei Schülern. Logisch. Einem einfach strukturiert denkenden Schüler begreiflich zu machen, warum er eine komplexe Aufgabenstellung nicht angemessen bewältigt hat, das ist eine echte Herausforderung für die Lehrkraft.
In künstlerischen Fächern Noten zu geben erscheint auch problematisch (vgl. Theater benoten? – Geht nicht!).
Eine besondere Form, die ich seit der Jahrtausendwende nutze, stelle ich hier etwas ausführlicher vor, weil sie etwas in Gang setzt, was die meisten mir bekannten Klausuraufgaben nicht oder nur im Ansatz hervorbringen. Sie beinhaltet Problemlösung und Transfer, die nicht im theoretischen befangen bleibt, sondern Handeln in Sinne praktischer Arbeit induziert.
Die Zielrichtung, das Ergebnis und die Folgen der hier vorgestellten Klausuraufgabe scheinen auch in besonderem Maße Forderungen der EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung im Fach Darstellendes Spiel) zu entsprechen, die da lauten:
- „Lebensweltliche Bezüge in die Gestaltung einbeziehen.
- Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Theater herstellen.
- Für die eigene Gestaltung Möglichkeiten soziokultureller Partizipation entwerfen.“ (EPA: 13)
Nach etwa einem halben Jahr Improvisations-Training nach den Angeboten des „Kursbuch Impro-Theater“ erhalten die Schüler folgende Aufgaben zur Auswahl (vgl. Modul 11 Kompetenzüberprüfung, S. 76):
Eine bevorzugt gewählte Aufgabe lautet erstaunlicherweise:
Übertrage die wesentlichen Merkmale des Impro-Theaters in ein anderes Genre.
Offensichtlich sind die Schüler fasziniert von der ungewöhnlichen Aufgabenart. Sie kennen diese Aufgabenform möglicherweise von einer Impro-Disziplin, bei der sie eine gespielte Szene unmittelbar danach in mehrere andere Genres übertragen und spielen. Sie stellen im Laufe ihrer ersten Überlegungen und Vorarbeiten ( > 10-Zeilen-Expose) häufig fest, dass sie in der Schule nicht gelernt haben, Entscheidungen (dieser Art) selbst zu treffen und viele sind zunächst hilflos und benötigen den Zuspruch und ein gezieltes Coaching durch die Lehrkraft, die versucht, den Blick der Schüler auf ihr eigenes biografisches Potenzial zu lenken und ihnen die Angst nimmt zu versagen und eine schlechte Note zu bekommen, da sie sich ja auf einen experimentellen Forschungsprozess einlassen sollen, dessen Ausgang sie vorab wenig oder gar nicht einschätzen können (vgl. das Training von Ambiguitätstoleranz).
Es gibt nichts zum Auswendiglernen, das bulimisch zu einem festen Zeitpunkt für alle gleich in Schul-Käfighaltung-Klausuren wieder erbrochen werden kann. Nur auf einer entsprechenden Vertrauensbasis zwischen Schüler und Lehrkraft ist dieses Problem zu lösen (vgl. das Interview mit Holger Höhn, weiter unten, und das Tutorial zum „Kursbuch Theater machen“ Modul 2. Vertrauen aufbauen).
Die Aufgabe ist eine sogenannte Klausur-Ersatzleistung und kann als Hausarbeit in einem bestimmten Zeitraum erstellt werden.
Zunächst sollen sich die Schüler selbst ein Genre aussuchen. Alles geschieht immer mit kontinuierlicher individueller Beratung der Schüler durch die Lehrkraft.
Innerhalb dieses Abstimmungs- und Coaching-Prozesses spielen die folgenden Themen und Fragen eine besondere Rolle:
- Kennen die Schüler das gewählte Genre so gut, dass es sich hinsichtlich der Breite und Tiefe der Merkmale für eine Übertragung eignet?
- Haben die Schüler einen biografischen Bezug dazu, der ihnen die Transformation erleichtert bzw. sie entsprechend motiviert?
- Ermutigt die Aufgabe fachübergreifend und -verbindend zu forschen?
- Wie hilft ein 10-Zeilen-Expose den Forschungsauftrag sprachlich-begrifflich zu fassen und zu verdichten, dass daraus ein Handlungsauftrag abgeleitet werden kann? Welche nächsten Schritte sind zu gehen?
- Wie überprüft man, dass der Forschungsprozess ein Ergebnis, eine Erkenntnis hervorbringt?
- Wie geht man mit Abweichungen zwischen der eigenen Erwartung und dem Arbeitsergebnis um?
- Wie werden Falsifikationen während des Forschungs- und Schreibprozesses oder nach dessen Abschluss konstruktiv nutzbar gemacht?
- Wann ist ein Forschungsprozess gescheitert? Kann ein experimenteller Forschungsprozess überhaupt scheitern?
- Wie wird das Forschungsergebnis überzeugend vor/ mit der Gruppe präsentiert?
Das vorgestellte Beispiel beschreibt, wie das Kernthema der Klausurarbeit einer Schülerin von deren Mutter als Impuls für eine Abschluss-Arbeit im Rahmen der Palliative Care Weiterbildung in der Hospiz- und Palliativ Akademie Wetzlar aufgegriffen und umgesetzt wurde. Darüber hinaus ist aus dieser Arbeit ein Buch, eine Art Fotoband, entstanden, der nun vielfach in der Hospizarbeit eingesetzt wird. Im Arbeitsprozess kam es zu vielfältiger Kooperation innerhalb der Familie (vgl. den Tonmitschnitt des Interviews mit Felicia und Maria Schmukat, weiter unten).
Die Präsentation der Schülerin und der mit ihr verbundene biografische Hintergrund des Wanderns hinterließ bei ihren Mitschülern einen starken Eindruck und sie zollten ihr Anerkennung mit einem entsprechend qualifizierten Feedback.
Der Schauspiellehrer Hawemann beschreibt einfühlsam die Theatralität jeglicher Präsentation: „Man tritt mit einer Idee vor eine Gruppe von Menschen. Zuerst möchte man deren Aufmerksamkeit und Interesse, ihre Neugier. Also wird für die Idee geworben. Nicht immer gelingt das sofort. Die Idee muss vorstellbar werden. Gestalt nimmt sie noch nicht an, aber Ahnungen entstehen, Möglichkeiten werden spürbar. In diesem Stadium hat es auch die beste Idee nicht leicht. Sie steht unter Beobachtung, wird kontrolliert auf ihre Machbarkeit, auf die Möglichkeiten einer eigenen Beteiligung, auf ihren Spielreiz, auf ihre Haltbarkeit. Das alles muss die vorgelegte Idee aushalten. Sie darf nicht in einer endlosen Diskussionen untergehen oder durch vorauseilende Bedenken zerfranzt werden, sondern muss auf das Mitdenken der anderen vorbereitet sein und reagieren können. Um eine Idee beweglich, entwicklungsfähig und haltbar, also belastbar zu machen – umgangssprachlich sagt man auch sehr sinnfällig ‚tragfähig‘ –, muss sie sehr intensiv vorbereitet werden. Vorbereiten heißt: Schreiben!“ (177f)
Die Schülerin kreierte eine Plastik, mit der sie die Analogien der Wesensmerkmale des Impro-Theaters mit einer Wanderung im Gebirge veranschaulichte. Als Erfahrungshintergrund, Modell und Muster diente ihr eine eigene achtstündige Wanderung auf den Kanisfluh in Österreich.
Textlich fundierte sie das Objekt mit einem Wanderführer, in dem sie die Wesensmerkmale des Impro-Theaters (in den Wander-Etappen ihrer Plastik vergegenständlicht) und ihre Form der Übertragung erläuterte.
Die Beurteilungskriterien für die Benotung wurden den Schülern natürlich vorab mitgeteilt und orientierten sich an den theoretischen und praktischen Inhalten des Unterrichts, die in den Modulen 1-10 des „Kursbuch Impro-Theater“ ausführlich beschrieben sind.
In der Anfangsphase der Erarbeitung der Hausarbeit werden die Kriterien durch die Erstellung des 10-Zeilen-Exposes und die intensive individuelle Beratung durch die Theater-Lehrkraft nochmals zusammengefasst und präzisiert.
Die Leistung dieser individuellen Betreuung wird deutlich, wenn es am Ende um die Erteilung der Note geht und Akzeptanz durch die Schüler. Es kommt zu keinen Diskussionen der Note oder gar zu einem Feilschen, weil die Kriterien vorab klar, präzise und transparent formuliert wurden und in vielen Arbeitsphasen während des Unterrichts durch die kurzen Präsentationen der jeweiligen Zwischenschritte und sorgfältigen Reflexions- und Feedbackgesprächen allen Schülern präsent sind.
Einige grundlegende Benotungs-Kriterien, aufbauend u.a. auf Johnstones und Spolins Ausführungen und auf dem Katalog der Zehn Grundregeln des Improvisationstheaters von Andersen (21):
- “ Geht auf alle Vorschläge ein.
- Zusammenarbeiten – helft einander.
- Verwendet euern ersten Einfall.
- Vertraut auf eure Phantasie.
- Macht Vorschläge und geht auf sie ein.
- Lasst das Vorausplanen sein.
- Konzentriert euch auf den Fokus.
- Kreiert eine Geschichte.
- Benutzt unterschiedlichen Status.
- ‚Kommt wieder!’“
- Sind die Wesensmerkmale des Impro-Theaters (die Theorie) umfänglich und differenziert im gewählten Genre erkennbar und werden sie entsprechend stringent und plausibel von den Schülern formuliert?
- Ist die Übertragung mit der gebotenen Sorgfalt ausgeführt und im Endprodukt erkennbar? Sind die geschriebenen Texte fehlerfrei und auf einem entsprechenden sprachlichen Niveau? Sind die Objekte und die Plastiken mit einer angemessenen Sorgfalt erstellt?
- Wird die theatrale Kunstform des Improvisations-Theaters im Zuge des Transfers und der Analogienbildung als kulturelle Bildung erkannt? Zeigt sich dabei Abstraktionsfähigkeit, die Theater generell als Ausdruck von Kultur mit gesellschaftlicher Bedeutung und Einflussfähigkeit erkennt? Wird die Arbeit als ästhetische Praxis wahrgenommen und entsprechend formuliert?
Auf eine Darstellung weiterer ausdifferenzierter Benotungskriterien wird hier verzichtet. Sie sollten der ausgebildeten Theater-Lehrkraft hinlänglich bekannt sein.
En passant:
Eine Empfehlung, wie sie Theater-Pädagogen-Ausbilder Hajo Wiese gibt, „gar nicht über Zensuren (zu reden), sondern erst dann, unmittelbar bevor sie erteilt werden müssen“ und sich mit dieser Verweigerungshaltung in die Sackgasse manövriert hat, „eine möglichst einheitliche Zensur zu geben“ (Gundlach: 30) erscheint demnach nicht von Realitätssinn gekennzeichnet und als kontraproduktiv. Sie verspielt die Dignität des Faches Theater (vgl. auch List, Volker (2015): Theater benoten? – Geht nicht!).
Es zeigt sich bei einer Klausur-Aufgabe dieser Art, dass sich der überwiegende Teil der Schüler – wenn die Startprobleme überwunden sind – mit Leidenschaft und überdurchschnittlichem Leistungswillen und -einsatz IHRER Forschungsaufgabe widmen. Sie erkennen, dass sie durch die Offenheit der Aufgabe ein Betätigungs- und Arbeitsfeld finden, in das sie wichtige Bereiche der eigenen Biografie einbringen können und auf ihre Potenzialentfaltung einen großen Einfluss haben. Das zeigt sich auch in den mehr oder weniger theatralen Settings, die sie für die Präsentation ihrer Arbeitsergebnisse wählen und den Rollen, die sie dabei einnehmen.
Sie erleben diese experimentelle Forschungsarbeit als weitgehend selbstbestimmt im Rahmen eines durch schulische Vorgaben und entsprechend vorbereitetem Training abgesteckten Feldes. Sie urteilen am Ende dieses ästhetischen Arbeitsprozesses durchgängig sehr reflektiert und argumentativ differenziert über ihre eigenen und entsprechend respektvoll über die Arbeitsergebnisse ihrer Mitschüler – weder lobhudelnd aus falsch verstandener Solidarität bzw. abwertend, um selbst eine vermeintlich bessere Note zu begründen.
Aus diesem unterrichtlichen Arbeitsprozess gingen zahlreiche unterschiedliche von Schülern in Eigeninitiative und Eigenregie durchgeführte ästhetische Interventionen in- und außerhalb der Schulgemeinde hervor, z.B. Projekte in und mit Altenpflegeheimen, Kitas, NGOs (Non-Governmental-Organization), Vereinen und öffentliche Performances usw.
Schule hat demnach die Chance, ihre Schüler in einer Weise anzuregen und zu unterstützen, auf ihre eigene Biografie und ihr Potenzial bezogene Aktivitäten im gesellschaftlich Feld zu entfalten, Einfluss zu nehmen und Gesellschaft mitzugestalten. Es werden in einer Heranwachsenden und jungen Erwachsenen angemessen Weise Gestaltungsräume eröffnet, lebensweltliche Bezüge in ästhetische Gestaltungprozesse einzubeziehen (vgl. EPA). Sie stellen bereits weitgehend eigenständig Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Theater her und machen dabei reflektierbare Erfahrungen soziokultureller Partizipation.
Es stellen sich grundsätzliche Fragen:
- Kann man kulturelle Bildung überhaupt im 90-Minuten-Raum-Takt in der Schule betreiben? Oder ist das wie Schwimmenlernen auf einem Stuhl liegend, Küssen lernen mit einem Kunstkopf?
- Oder kann man im Unterricht nur Impulse dafür kreieren und bestenfalls eigene kulturelle Praxis-Erfahrung als kulturelle Bildung reflektieren und zu Theorie in Beziehung setzen? (Vgl. hierzu auch die Ausführungen des Philosophie-Lehrers Holger Höhn zum Thema praktische Philosophie im Interview, weiter unten, und Hawemanns „Leben üben“ 2014).
Antwort-Versuche
Diese Klausur-Form und die Klausur-Aufgabe – seltsamerweise als Klausur-Ersatzleistung benannt – überwinden zumindest im Ansatz die weltfremde Aufspaltung des Lernens in durchgehend spezialisierte, die Welt defragmentierende um nicht zu sagen de(kon)struierende, Unterrichtsfächer, die nur selten z.B. in Projektwochen und Projektarbeit ansatzweise die partikulare Sicht auf Welt überwinden und zusammengeführt werden können. Sie ist sinnvoll nur als Hausarbeit, bei der der Akteur in Klausur geht und in Ruhe mit einem individuell gestalteten Zeitbudget unter Zuhilfenahme aller notwendigen Materialien und Quellen sich intensiv einem Thema, einer Forschungsaufgabe widmet und nicht in Käfighaltung (alle Schüler in einen Klassenraum gestopft) unter einer Gleichmacherei der erwarteten Leistung und Zeitdruck innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters.
Kulturelle Bildung heißt, sich im Kontext dessen zu bewegen, was Menschen zu Menschen macht. Den Kontext können wir umreißen mit den Begriffen Wahrnehmen und Reflektieren. Menschen sind Sozialwesen und sie sind existenziell aufeinander angewiesen und auch auf sich selbst an- und hingewiesen durch die einzigartige Fähigkeit zu differenzierter Selbstreflektion, zur Selbstbestimmung.
Dies lernt der Mensch in unzähligen Experimenten, genannt: aufwachsen, lernen, pubertieren, lernen, integrieren, lernen, protestieren, lernen, solidarisieren, lernen und letztlich in der Suche nach sich selbst und einem Sinn überhaupt.
Die Komplexität ist offensichtlich. Mancher ist damit auch überfordert, insbesondere Menschen, die nicht ausreichend Ambiguitätstoleranz trainieren konnten. Welche Rolle kann in diesem Zusammenhang kulturelle Bildung, Darstellendes Spiel und Theaterunterricht und die vorgestellte Klausuraufgabe spielen?
Nicht stures Durcharbeiten eines Schulbuches und Abhaken der darin angebotenen Module und Kompetenzüberprüfungen ist angesagt, sondern eine Nutzung ganz im Sinne einer Bedienungsanleitung, die einem aber nicht das Ausprobieren und Erfahrungen machen erspart. Insofern sind die vorgestellten Anregungen für Theater-Unterricht auch immer „eine Aufforderung kreativ mit dem Material umzugehen“ (vgl. Hawemann: 8).
Diese Klausuraufgabe schickt die Schüler ins gesellschaftliche Feld, ganz so wie es die EPA fordert. Die EPA fordert nicht eine entleibend-verkopfte, überbordene und im schlechten Sinne verschulte Theorie-Aneignung, wie sie sich zunehmend in aktuellen Einheits-Curriculum-Entwürfen und expliziten Theatertheorie-Schulbüchern andeutet. Die Begründer dieses neuen Unterrichtsfaches entwickelten Darstellendes Spiel für die Schule jedenfalls explizit als praktisches Lernen, als reflektierte Arbeit in ästhetisch-szenischen Projekten.
Wenn Theater-Lehrkräfte beispielsweise ihren dreistündigen Theater-Unterricht aufteilen und eine Doppelstunde praktisch arbeiten lassen (z.B. ein Stück entwickeln) und in der dritten Einzelstunde Texte über die Epochen der Theatergeschichte schlimmstenfalls chronologisch – ohne direkten Bezug zu ihrer praktischen Arbeit – durcharbeiten lassen, also eigentlich schlechten Deutsch-Unterricht machen, anstatt die praktische Arbeit der Doppelstunde in dieser Einzelstunde theoretisch zu reflektieren und zu recherchieren, welche Erfahrungen und Erkenntnisse der Theatergeschichte ihnen Impulse für ihre Weiterarbeit geben können, dann zeigt sich ein fundamentales Missverständnis und Missverhältnis in der Struktur des Lernprozesses.
Hinweise für eine zeitangemessene kulturelle Bildung und das Eintauchen in ästhetische Prozesse geben in analoger Weise z.B. auch beispielhaft moderne internationale Kunsthochschultreffen wie das „Recontres Internationales Corps_Objet_Image“ (RI COI) in Straßburg, über das Höhne schreibt: „ … nach und nach entfalten sich während der improvisatorischen Annäherung an die Objekte, Puppen oder Readymades fachspezifische Herangehensweisen, die wiederum alle in ein Ausloten der Ausdruckspotentiale der Objekte mündeten, dabei Zusammenhänge, Weichen und Erweiterungen zwischen den übergeordneten Themen der Körperlichkeit, Bild- und Objekthaftigkeit erforschend.“ … „Schließlich sollte es auch Raum für wissenschaftliche Reflexion geben.“ … So konnte z.B. ein Vortrag über Spiegelneuronen Einblick in die neuronalen Vorgänge bei der Rezeption von theatralen Prozessen geben“ (vgl. dazu auch: Roth 2015 > Rezension) und „Neben der rein künstlerischen Auseinandersetzung war die Selbstorganisation der einzelnen Laboratorien Schwerpunkt der Arbeit. In einem kollektiven Prozess künstlerisch arbeiten, sich selbst Aufgaben, Spielregeln und Forschungsfragen stellen.“ (Höhne: 29).
Alle, die sich mit einer theoretischen Fundierung des Darstellenden Spiels befassen und eine entsprechende Didaktik begründen wollen, seien an folgendes erinnert:
Theorie ist in Sprache und präzise Begrifflichkeit übersetzte, geronnene, verdichtete und abstrahierte Praxis.
Verbleibt sie in einer sprachlichen Welt artifiziell ausdifferenzierter Wortkombinationen ohne evaluierte Begriffsbildung, versteigt sie sich in zunehmend selbstinspirierende Argumentationsketten als Karussellfahrten sich selbstreferenziell im Kreis drehender Perspektivenbezüge. Dann verliert Theorie ihren Bezug zur Praxis, ihrer einzigen(!) Legitimation, und verkommt zu narzisstischer Selbstbespiegelung. „Professionelles praktisches Wissen [lässt sich] nur in der Praxis erwerben“. (Klepacki/ Zirfas 2013: 7). Theorie reflektiert dieses Erfahrungswissen und fungiert quasi als kritisch distanzierter Berater und Supervisor. „Künstlerische Formen sind geronnene kollektive Erfahrungsmuster“ (Lehmann: 462). Im Idealfall entsteht eine Denker-Praktiker-Dialektik.
Theater-Lehrkräfte benötigen theoretisch fundierte unterrichtspraktische Hilfen. Diese sollten aus Praxis, also Erfahrung, abgeleitete und in dialektischem Prozess reflektierte theoretische Setzungen sein, die ihre Wirksamkeit in einem praktischen Evaluationsprozess nachweisen und zu einer weiteren kritischen Reflektion und Überarbeitung der theoretischen Annahmen und Aussagen führen. Eben dialektisch.
Das Was bedenke, mehr das Wie!
Klausurarbeiten von Schülern (Auswahl)
- Kinderbuch-Adaption
- Theatermord – Kriminalgeschichte
- Der perfekte Sprung beim Turmspringen
- I.M.P.R.O. – Interactive Manual For Personal Reduction Of Occupational Stress
- Brettspiel
- Impro-Medizin
- Impro-Einwanderung
- Impro-Archäologie
- Parcours/ Hindernislauf
- Nachts in Berlin (Video-Feature)
Die Liste der Lösungsangebote füllte sich im Laufe der Jahre auf mehrere Dutzend.
En passent:
Solche Klausurarbeiten erleichtern das Leben der Theater-Lehrkraft, weil sie nicht 20 mal gleiche oder sehr ähnliche Lösungen korrigieren muss, sondern eine große Bandbreite von Arbeiten begutachten darf, die die Heterogenität und Vielfalt der Schüler spiegeln und damit eine auch unterhaltsame Informationsquelle sind, mehr über Wünsche, Sehnsüchte, Interessen und Potenziale der Schüler zu erfahren. Je umfangreicher das Wissen der Lehrkraft diesbezüglich ist, um so besser kann sie die Lernimpulse für die Schüler vorbereiten und entwickeln, damit sie zu einer optimalen Potenzialentfaltung bei ihnen führen.
Ein Interview mit dem Philosophie-Lehrer Holger Höhn zeigt, wie nah eine derart angelegte Klausur-Aufgabe im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel Forderungen der praktischen Philosophie erfüllt und kulturelle Bildung in Gang setzt:
Die Schülerin, die die beschriebene Lösung der Klausur-Aufgabe erarbeitete, und ihre Mutter, die den Transfer zur Palliativ-Betreuung leistete, sprechen über ihre Projekte und die Hintergründe. Den Ton-Mitschnitt des Interviews findet man hier:
Weiterführendes
- Andersen, Marianne Miami 1996: Theatersport und Improtheater. Planegg: Impuls-Theater-Verlag
- Gundlach, Britta 2005: Theaterpädagogischer Unterricht an schulischen Systemen: Eine Gratwanderung zwischen administrativer und performativer Gestaltung. Ein Aufsatz und ein Interview mit Hajo Wiese. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik. Heft 46. Uckerland: Schibri: 26-30
- Hawemann, Horst 2014: Leben üben. Improvisationen und Notate. Recherchen 108. Hg. von Christel Hoffmann. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Höhne, Tanja 2015: Platz dem Forschen und Experimentieren! In: double. Magazin für Puppen-, Figuren- und Objekttheater. Theaterproben als Möglichkeitsraum. Ausgabe 2/2015. Berlin: Theater der Zeit: 28-29
- Johnstone, Keith 1995: Improvisation und Theater. Berlin: Alexander
- Johnstone, Keith 1998: Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und Theatersport. Berlin: Alexander
- Johnstone, Keith 2005: Kein Lernen ohne Scheitern. Interview mit Keith Johnstone. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik. Heft 46. 2005. Uckerland: Schibri: 55-57
- Klepacki, Leopold/ Zirfas, Jörg 2013: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
- Kultusministerkonferenz 2006: Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) im Fach Darstellendes Spiel. Beschluss der vom 16.11.2006
- Lehmann, Hans-Thies 2005: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren
- Schmukat, Maria 2015: Ein Wanderführer. Wegbeschreibung zum Berggipfel. Die professionelle Begleitung in der letzten Lebensphase. Hausarbeit in der „Palliativ Care – Weiterbildung Pflege“. Bodenrod, März 2015
- Schmukat, Maria 2015: Der Weg ist das Ziel. Fotoband. Selbstverlag. Bestellungen über: schmukat@web.de
- List, Volker 2015: Theater benoten? – geht nicht!
- List, Volker 2015: Theater 4.0 – Grenzenlose digitale Vielfalt
- List, Volker 2012: Kursbuch Impro-Theater. Stuttgart: Klett
- Roth, Gerhard 2015: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta. 414 Seiten > Rezension
- Spolin, Viola 1993: Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater. Paderborn: Junfermann
- Warstat, Matthias u.a. (2015): Theater als Intervention. Politiken ästhetischer Praxis. Recherchen 121. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Wiederhold, Sarah 2015: In gleiche Stücke schneiden und verteilen. Partizipation in der ästhetischen Bildung. In: ASSITEJ e.V. (Hg) 2015: IXYPSILONZETT. Das Magazin für Kinder- und Jugendtheater der ASSITEJ Deutschland 03.2015. Berlin: Verlag Theater der Zeit: 14-15
- Wiese, Hans-Joachim/ Günther, Michaela/ Ruping, Bernd 2006: Theatrales Lernen als philosophische Praxis in Schule und Freizeit. Uckerland: Schibri >Rezension