Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hg) 2017: Bereit für Theaterklassen! Handreichung für Theaterklassen an Schulen in Bayern. München. 98 Seiten – Rezension
Da bricht plötzlich eine neue Realität in den Alltag: „Bereit für Theaterklassen!“ nicht mit Fragezeichen, sondern mit Ausrufezeichen! Pauh!
„Theaterklassen“ siniere ich, in Bayern gibt es ja noch gar nicht das reguläre Unterrichtsfach Darstellendes Spiel geschweige denn ein Curriculum dafür, aber immerhin zahlreiche Sonderformen zur Profilierung, womit Schüler Gelegenheit gegeben wird, Theater zu spielen.
Es ist nicht lange her, dass man in den Medien nachlesen konnte, dass eine Grundschullehrkraft von der bayerischen Kultusbürokratie gezwungen werden sollte, Noten nach der Gaußschen Normalverteilung zu erteilen, nicht nach den tatsächlichen Leistungen der Schüler. Ich sollte mal 230,00 € Gebühr für eine kopierte Seite zur Befreiung von der Umsatzsteuer bezahlen, weil ich in Dillingen ein Seminar für Lehrkräfte gegeben hatte. Das „Kursbuch Darstellendes Spiel“ darf in Bayern nicht offiziell verwendet werden, weil sich die Behörde grundsätzlich vorbehält, alle Lehrmaterialien zu zensieren … äh … pardon zu überprüfen, ob sie der bayerischen Obrigkeit für die bayerische Schullandschaft als würdig zur Verwendung erscheinen. Kosten der Begutachtung: ca. 800,00 €, zu tragen vom Antragsteller. – Geschäftstüchtig, könnte man sagen, diese Bayern. –
Dem überschwänglichen Grußwort von Dr. Spaenle (StaMi) in der Broschüre, kann man etwas über sein Verständnis von Theaterarbeit in der Schule entnehmen und welche Hoffnungen er damit verbindet. Die Schülerinnen und Schüler begegneten in diesen Theaterklassen dem Theater in allen(!) seinen Facetten und es eröffnete sich eine neue(!) Welt für sie in ihrer Schule. Theater in allen seinen Facetten? Eine neue Welt? Sie lernten „neben den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten auch die ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler kennen und wachsen so im Lauf eines Schuljahres zu einer noch engeren Klassengemeinschaft zusammen.“ (3)
In Vorwort von Proetel, einem Vertreter des Staatsinstitutes für Schulqualität und Bildungsforschung, Referat Kunst, Theater und Film, wird es schon konkreter: Die vorgelegte Schrift soll „die Schulen bei der Einrichtung von Theaterklassen und der Umsetzung von Theater im Unterricht unterstützen.“ Das theatrale Spiel werde damit „ein substantieller[!] Teil des Unterrichts.“ Schüler fänden „ein Betätigungsfeld, in dem sie einer persönlichen Neigung folgen und im Klassenverband ein gemeinsames Projekt realisieren“ könnten. Das Theaterspiel sei für viele Heranwachsende eine Möglichkeit, sich auszuprobieren, sich herauszufordern und sich zu zeigen. Theater gelinge im Miteinander – für das gute Miteinander müssten viele Dinge zusammenpassen, organisatorisch und strukturell, fachlich und menschlich. So seien in den vergangenen Jahren an vielen Schulen Klassen entstanden, die bestimmte Neigungen der Schüler förderten, insbesondere solche, die die Klassengemeinschaft stärkten: zunächst vor allem Chor- und Bläserklassen und eben auch Theaterklassen.
Es fällt auf, bis hierher war viel die Rede von Gemeinschaft, vom Miteinander und der Förderung persönlicher Neigungen der Schüler, nicht schlecht soweit, aber weniger von dem, was Theater als Kunst und Seismograph für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen ausmacht, was künstlerische Arbeit als metaphorisch-symbolische Kraft bei Kulturbildung bewirken könnte usw.
In eleganter Weise wird das Thema Theater als reguläres Unterrichtsfach, in Anlehnung an die Entwicklung in „Rest“-Deutschland, den Beschluss der KMK von 2006 zum Abitur im Fach Darstellendes Spiel usw. umgangen, obwohl der Begriff „Fach Theater“(6) benutzt wird. Die vermeintliche Lösung: „Die Bezeichnung Lernplan wird verwendet, um diesen von einem verbindlichen Lehrplan abzugrenzen.“ (6) Geschickt gemacht.
Was auf den folgenden Seiten folgt, hat mich schier vom Hocker gerissen. Hier erstmal die Inhaltsübersicht der Broschüre:
Die Autoren stellen ein Projekt vor, das offensichtlich, bei aller bayerischen Couleur, eine zeitgemäße Abbildung dessen bietet, wie die Beschäftigung von Schülern mit dem Thema Theater aussehen könnte, ja grundsätzlich aussehen sollte. Kein dilletantisches Nachspielen von Dramentexten in historischen Kostümen – wie vielfach immer noch gemacht und auf fragwürdige Weise gerechtfertigt – wird hier favorisert. Ebenso keine Beliebigkeitsnabelschauen und pseudobiografischen und vermeintlich authentischen Selbstoffenbarungen von Phantasielosigkeit im Nachhecheln sogenannter postdramatischer Spielweisen des zeitgenössischen, professionellen Experimentaltheaters (vgl. Friedrich Verlag (Hg) 2018: Postdramatisches Theater). Die Lehrkraft als fragwürdiger Amateurregisseur – nein danke! Intransparente Benotung nach Geschmack und Engagenment – forget it! Statt dessen: gezielter Aufbau von Kompetenzen, häufige konstruktiv-positive Feedbackrunden, häufige kleine Präsentationen und zeigen des Gelernten, Schülerpartizipation, Lernen, wie Theater gemacht und nicht nur gespielt wird, Übernahme von Verantwortlichkeit durch Schüler, Förderung ihrer zunehmend fachkompetenten Selbstständigkeit … undundund.
Oft hatte ich das Gefühl, ich lese hier – immer mit kleinen Abstrichen durch bayerische Eigenheiten – eine verdichtete Darstellung dessen, was ich auch in den letzten knapp 40 Jahren erarbeitet habe (siehe Was ist Theater-Unterricht bzw. Unterricht im Fach Darstellendes Spiel?).
Bevor ich in eine nicht enden wollende Lobeshymne ausbreche über die vielen wirklich hilfreichen Impulse dieser Schrift für Theaterarbeit mit Schülern im regulären Schulalltag mit „normalen“ Klassen (vgl. auch Theater in der Grundschule – Wie aus (fast) nichts Theater wird [REPORTAGE]) empfehle ich allen (angehenden) Theaterlehrkräften eine sorgfältige Lektüre. Selten war eine Publikation so hilfreich!
Ich gratuliere den Betreibern dieses Projektes und dem Autorenteam für ihren Coup und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg auf dem Marsch durch die Institutionen in der Hoffnung, dass es auch eines Tages in Bayern für Schüler möglich sein wird, wie in den meisten „rest“lichen Bundesländern das reguläre Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel zu wählen. Na ja, „Theater und Film“ ist ja auch toll! By the way: Ich arbeite gerade an einer Publikation, die die Arbeitsergebnisse darstellt, die ich in mehrjähriger Arbeit an einer Grundschule mit einer „Theaterklasse“ in Hessen gemacht habe. Ziel ist dabei ein Musterkonzept für Theaterprojekte zu entwicklen, dass einen klar strukturieren Rahmen für ein mehrwöchiges (oder auch längeres) Theater-Projekt vorgibt und von der jeweiligen Lehrkraft mit Hilfe von Auswahlkriterien nach eigenen Bedürfnissen gefüllt werden kann, sodass auch Lehrkräfte, die keine langjährige Theaterausbildung genossen haben, einen qualifizieren Theaterunterricht erteilen und entsprechende Erfahrungen damit machen können. Und in Bayern soll ja bereits ein Antrag in Vorbereitung sein, der nach der Landtagswahl 2018 die Auflösung des Föderalismus und eine einheitliche Bildungspolitik für Deutschland anregt … Theaterklassen für alle!
Link zum Herunterladen der Broschüre >
Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hg) 2017: Bereit für Theaterklassen! Handreichung für Theaterklassen an Schulen in Bayern. München. [PDF]
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