Angewandte Theaterforschung (AT) untersucht Möglichkeiten, mit Kindern in der Grundschule Theater zu spielen – ein praktischer Versuch und Recherche für eine Langzeitstudie zur Frage:
Welches Konzept einer Didaktik des Theaters ist geeignet, allen Kindern in der Grundschule die Möglichkeit zu geben, im Unterricht die Kunstform Theater kennen zu lernen, theatrale Erfahrungen zu machen, zu reflektieren und kulturelle Kompetenzen zu erwerben?
Ich arbeite seit Anfang 2016 in einer Grundschule (sozialer Brennpunkt) in einer 4. Klasse. Die Schule ist auf dem Weg zur Ganztagsschule. Eine Klassenlehrerin (Deutsch, Sachkunde, Kunst) nimmt mich mit in ihre Klasse und freut sich über mein Angebot, mit den Kindern Theater zu spielen. Die Klasse besteht aus 21 Kindern und ist extrem heterogen zusammengesetzt. Das Spektrum reicht von Kindern, die weder die deutsche noch die englische Sprache verstehen und auch nicht lesen und schreiben können (Kriegsflüchtlinge) bis zu sehr aufgeweckten, empathischen und klugen Schülern.
Die Altersspanne dieser Klasse 4 reicht von 9-13 Jahren. In der Klasse sind Kinder mit Förderbedarf, mit Verhaltensstörungen und gesundheitlichen Schädigungen wie Schwerhörigkeit usw.
Für mich ist das eine Herausforderung in mehrfacher Hinsicht. Erstens habe ich keine Erfahrung mit Grundschule, ich bin Gymnasiallehrer, kann auf keine fertigen Konzepte zurückgreifen und zweitens wegen der extremen Heterogenität der Lerngruppe. Darüber hinaus findet das alles in recht beengten Räumlichkeiten statt.
An einem Dienstag komme ich zum ersten Mal in der dritten Stunde in die Klasse (Deutsch). Nachdem die Schüler nach der großen Pause noch weitere 10 Minuten im Klassenraum frühstücken dürfen, versammeln sich alle in einem sehr beengten Sitzkreis vor der Tafel auf Bänkchen und starten mit einem Kreisspiel: „Ich funke an [Name eines Schülers] …“. Ich erkenne sofort das Prinzip und erinnere mich an eine analoge Übung (Elefant, Palme, Affe) und kann mitmachen.
Die Schüler arbeiten anschließend an der Nacherzählung der Fabel „Der Löwe und die Maus“, teilweise in Gruppen, teilweise in Einzelarbeit, teilweise im Plenum mit unterschiedlichen Arbeitsaufträgen (Wochenarbeitsplan).
Die Erfahrungen meines ersten Schultages: Ich erinnere mich an Laborversuche mit Ratten. Sperrt man viele Ratten in zu kleine Räume werden sie aggressiv. Schlimmstenfalls endet das im Kannibalismus. Ich bin überrascht. Keiner wurde aufgefressen. Aber es herrscht eine gewaltige Unruhe; es sind einfach zu viele Kinder mit zu unterschiedlichen Potenzialen und Fähigkeiten in einem zu kleinen Raum mit zu wenig Betreuenden. Eigentlich eine Schande für das angeblich reiche Deutschland, über das unsere Kanzlerin Angela Merkel sagt: „Uns geht es gut“.
Ich will trotzdem wiederkommen, am Freitag, wieder zur 3./4. Stunde. Wir verabreden, dass ich an geeigneter Stelle etwas Theatrales einbringe und habe noch keine Ahnung wie.
2. Treffen
Schock! Am Freitag ist die Klassenlehrerin nicht da. Sie muss überraschend an die Uni, da sie dort noch Studenten betreut. Die Vertretungslehrerin nimmt mich mit und schlägt vor, Lese-Theater zu machen. Lese-Theater? Diesen Begriff kannte ich nicht. Machen die etwa in der Grundschule lecture performances? Ich werde neugierig.
Sie kopiert noch schnell zwei Seiten Text für jeden Schüler. Das Thema hat sie in ihrer Parallelklasse auch gemacht. Wie sitzen wieder im Kreis und die Schüler beginnen selbstständig mit einem Klatschkreis a la „We will rock you!“ mit Deuten reihum. Wer pennt fliegt raus.
Aha, denke ich, das sind schon eingeführte Rituale, die die Schüler selbstständig zum Start des Unterrichts durchführen.
Später erfahre ich in längeren Gesprächen mit der Schulleitung, dass man auf die Hinführung zur Selbstständigkeit großen Wert legt.
Die Schüler lesen die erste Geschichte aus „Die kleinen Wilden“ von Jackie Niebisch. Die Vertretungslehrerin aus der Parallelklasse hat den Prosatext in ein Rollenskript mit zahlreichen Sprechrollen transformiert. Das erfahre ich aber erst später. Sie verteilt zügig die Sprechrollen, so dass jeder mitmachen kann, erläutert kurz, was beim Lesen wichtig ist und bespricht mit den Kindern, wie man lesen sollte: laut, deutlich, auch leises Flüstern muss man gut verstehen können usw.
Es geht los. Beim Lesen offenbaren sich die Kompetenz-Unterschiede. Manche lesen schon beim ersten Mal wie Preisträger von Lesewettbewerben, manche sind so wenig fokussiert und konzentriert, dass sie gar nicht so recht wissen, was sie tun sollen und wann sie dran sind, müssen quasi an die Hand genommen werden, einige lesen stammelnd, suchen die Buchstaben usw.Schwierig. Aber irgendwie klappt es, auch dank stringenter Führung der sehr klaren Vertretungskraft, und (fast) alle haben irgendwie auch Spaß bei der Sache.
Mir fällt ein und durch Wandplakate auf, dass die Schüler kürzlich wörtliche Rede und Begleitsätze als Thema in Deutsch hatten, und schlage vor, zu den Sprechtexten entsprechende Begleittexte zu formulieren (fächerübergreifender Unterricht).
Das klappt in ähnlicher Weise (nicht oder nur im Ansatz) wie zuvor. Einige finden treffende Begleitsätze beispielsweise zu einem Satz des Mammuts: „Euch geht’s wohl nicht gut! Jagd auf friedliche Dickhäuter zu machen!“, indem sie formulieren: „brüllte das Mammut wütend.“, andere Schüler wissen nicht, was sie tun sollen und benötigen intensive individuelle Betreuung.
Die ständig notwendige individuelle Zuwendung und Betreuung relativ vieler Schüler in dieser Klasse empfinde ich als Überforderung in mehrfacher Hinsicht. Die Lehrkraft kann nicht alle notwendigen Unterstützungen liefern, es entsteht schnell Unruhe in der Klasse durch die anderen, die individuelle Betreuung bräuchten, und von sich aus nicht in der Lage sind, sich entsprechend rücksichtsvoll, respektvoll und diszipliniert gegenüber den anderen zu verhalten.
Sogenannte gute Schüler, die sich selbst schon organisieren können (Wochenplan), werden durch die häufigen Störungen vom Lernen abgehalten. Erläuterungen, Begründungen und Ermahnungen der Lehrkraft haben keine nachhaltige Wirkung, oft nicht einmal eine kurzfristige. Die Impulskontrolle fehlt bei zu vielen Schülern in dieser Gruppe.
Als ich mir später die Originallektüre „Die kleinen Wilden“ besorge, stelle ich fest, dass im Prosatext öfter die Begleitsätze enthalten sind, die die Schüler aus dem Sprechtextskript der Vertretungslehrerin in sehr ähnlicher Weise „rückübersetzt“ haben. Wenn das nicht eine Redundanzkontrolle ist. Ich könnte sehr genau mit Hilfe dieser (Transfer-)Aufgabe die jeweiligen Leistungen der Schüler beurteilen. Ich bräuchte keine Klassenarbeit, in der die Schüler – wider alles Training im Unterricht zusammen zu arbeiten und sich gegenseitig zu helfen – isoliert einzeln examiniert werden, um ihre Leistungen zu ermitteln.
Ich frage die Kinder, welchen Sinn denn diese Begleitsätze haben und in welcher Weise sie uns bei unserem Lese-Theater helfen können. Die Antworten kommen entsprechend treffend (unklar oder nicht): Man erfährt, wie die Texte gesprochen werden müssen und welche Bewegungen man vielleicht dazu machen kann.
Nach und nach führe ich Fach-/ Begriffe aus der Theaterwelt ein: Die Begleittexte sind Regieanweisungen. Wer nicht weiter weiß, dem hilft ein Souffleur, wie man sich im Theater sowieso und grundsätzlich immer gegenseitig hilft. Die Gruppe arbeitet als Team. Der Begriff Probe wird eingeführt. Wir probieren aus, suchen die beste Lösung. Was ist Theater: Jemand spielt, jemand schaut zu. Es braucht immer Publikum.
Die Ersten fragen: Führen wir das Stück auch auf? Ich bin ein wenig überfordert und vertröste: weiß noch nicht, kommt drauf an, lasst uns erstmal etwas erarbeiten, woran nicht nur wir, sondern auch andere ihre Freude haben, kommt auf euch an usw. und blicke ratsuchend zur Lehrerin. Sie nickt: Ja, das wäre doch toll, Herr List! Ich schwitze.
Das ist wohl das Gefühl, das man bekommt, wenn man als Theatermann (der ich ja eigentlich nicht bin, ich bin ja auch nur Theaterlehrer) in einer Weise in die Schule geht, wie es Malte Pfeiffer in seiner präzisen Analyse formuliert, in der er eine fest installierte kontinuierliche Unterstützung von Lehrkräften an Schulen durch externe Theaterexperten aufwändigen Leuchtturmprojekten gegenüberstellt (vgl. Pfeiffer).
In dieser Stunde gebe ich noch einen Impuls, und zwar bitte ich die Gesamtgruppe zu jedem der ersten drei Sätze der drei Erzähler spontan einen Kurzkommentar oder ein Wort zu äußern.
Erzähler 1: Die kleine Wilden hatten schon oft versucht, das große dicke Mammut zu jagen. Chorvorschläge: Joueih! Auf geht’s! Supi! usw.
Erzähler 2: Weil ihnen dauernd nur Nüsse und Beeren zu langweilig waren. Chorvorschläge: Öde! Blööd! Kein Bock! usw.
Erzähler 3: Sie wollten auch mal lecker Fleisch! Mit Soße! Chorvorschläge: Lecker! Mmmmmmh und Bauch reiben usw.
Ich wähle jeweils eine Äußerung zum Ausprobieren aus mit der Bemerkung, dass wir das testen und prüfen, ob es die beste und treffendste Äußerung ist (und achte darauf, unterschiedliche Schüler dran zu nehmen). Wenn nicht probieren wir andere aus. Hinweis auf den Fachbegriff Probe.
Intuitiv machen viele Kinder bereits passende Körpergesten. Ich greife das auf und ermuntere sie, diese Bewegungen noch deutlicher, ja regelrecht übertrieben zu machen und zu schauen, wie es die anderen machen, sodass am Ende alle die gleichen Bewegungen ausführen (Choreografie und Synchronität wurde als Fachbegriff eingeführt). Außerdem definiere ich meine Rolle in der Anfangsphase als Spiel- oder Probenleiter bzw. Regisseur.
Das Stimmungsbild am Ende: Die Schüler wollen unbedingt an ihrem Stück weiterarbeiten.
Ich bin nass geschwitzt, aber irgendwie zufrieden.
Die Vertretungslehrerin gesteht mir später im Lehrerzimmer, wenn sie in dieser Klasse Vertretung machen müsse, sei sie hinterher immer nass geschwitzt. Ich werde von anderen Kolleginnen angesprochen: Sind Sie der Theatermann? Können Sie auch mal in meine Klasse kommen? Darf ich mal bei Ihnen hospitieren. Zaghaft heben einige Umsitzenden auch ihre Zeigefinger in die Höhe. Aber eigentlich bin ich doch zum Hospitieren gekommen.
Weiterführendes
- Niebisch, Jackie 2004: Die kleinen Wilden. München: Hanser
- Pfeiffer, Malte 2015: Beziehungen statt Affären! Für eine kontinuierliche Zusammenarbeit von Künstlern an Schulen. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015. Uckerland: Schibri: 34-35 (siehe auch: Theater an der Parkaue (2016): 10 Jahre Winterakademie. Theaterpädagogik – radikal neu definiert? – Rezension > Anmerkung 5 > https://angewandte-theaterforschung.de/winterakademie-theater-an-der-parkaue-theaterpaedagogik-radikal-neu-definiert/
3. Treffen
Den Klatschkreis a la „We will rock you!“ greife ich auf und schlage den Kindern vor, einen RAP in „unser Stück“ einzubauen, weil Theater die umfassendste aller Künste ist und Spielen, Bewegen, Tanzen, Singen, Formen und Farben einbezieht.
In der Buchvorlage gibt es einen netten Acht-Zeiler der kleinen Wilden.
Die erste Strophe schreibe ich an die Tafel und lasse die Kinder den Text abschreiben. Sie sollen auch schreiben lernen (Deutsch) und es üben.
Wir proben im Vierviertel-Takt mit Klatschen auf Oberschenkeln und in die Hände im Sitzen. Ein gemeinsamer Rhythmus muss gefunden werden, damit das chorische Sprechen klappt. Das Herunterleiern des Textes muss weg. Wir arbeiten an der richtigen Betonung und den entsprechenden Emotionen.
Am Schluss der Theaterarbeit wird der gesamte Text nochmals durchgespielt, auch um die in der letzten Stunde gefunden Ergänzungen zu üben und wiederholbar zu machen.
Als Hausaufgabe sollen die Schüler die erste Strophe des RAPs auswendig lernen. Zwei Schüler möchten das nächste Mal eine eigene Version des RAPs vorstellen. Einige kennen Snoop Dog und Konsorten und machen typische Rapper-Gesten.
4. Treffen
Die zweite Strophe des RAPs wird von der Tafel abgeschrieben. Die betonten Silben habe ich unterstrichen und frage nach dem Rhythmus. Wir stellen fest, dass zumeist auf eine unbetonte eine betonte Silbe folgt (u -). Dieser Versfuß bzw. Versmaß nennt man Jambus und wird meist in der Alltagssprache verwendet.
Einigen Schüler fällt auf, dass sich es keine durchgehenden Endreime gibt. Wir erkennen in beiden Strophen ein ungewöhnliches Reimschema: a b c b und halten fest, dass sich in Gedichten nicht unbedingt alles immer reimen muss.
Der gesamte Text wird gesprochen, mit allem bisher Erarbeiteten. Danach wird in einer kurzen Feedback- und Reflektionsrunde darüber gesprochen, was gut geklappt hat und was wir noch verbessern können.
Da viele recht undeutlich sprechen, machen wir eine Trainingsrunde zur Artikulation und über mit Korken zu sprechen. Das läuft etwas aus dem Ruder, da alle durcheinander reden und kaum mehr zu beruhigen sind. Erst als ich einige Schüler, die selbst nach vielfacher Bitte etwas rücksichtsvoller zu sein, dies ignorieren und ich sie vorübergehend aus dem Prozess ausschließe und zu einer Schreibarbeit im Nebenraum verdonnere, werden auch die anderen Schüler merklich respektvoller und die Arbeit läuft besser.
Mit dem Kommando „Bühne dunkel! Vorhang! Licht!“ (Habe ich von Jakob Jenisch übernommen.), das ich zuvor erläutert habe, wird der gesamte Text mit Korken gesprochen. Die Wirkung des Korkensprechens wird besprochen und demonstriert.
Da man mit einem Stück Papier mit Text nicht gut spielen kann, zeigt sich die Notwendigkeit, alles auswendig zu können. Ich frage, wie man am besten auswendig lernt. Einige wenige Schüler erkennen u.a., dass man nicht nur seinen eigenen Text lernen muss, sondern auch den Text, der direkt vor dem eigenen Einsatz gesprochen wird, damit man weiß, wann man dran ist.
Ich lobe diese Schüler und wiederhole jetzt bewusst nicht, was sie gesagt haben, aus zwei Gründen.
Erstens will ich das von Schülern Gesagte nicht durch meine, des Lehrers Wiederholung, immer erst sanktionieren, und zweitens sollen die Schüler lernen, dass Mitschüler bedeutsame Impulse für den Arbeitsprozess geben und man dementsprechend achtsam sein sollte. Dies verlagert die Verantwortung vom Lehrer auf die Schüler, und nur das macht sie Schritt für Schritt wirklich selbstständig und versetzt sie in die Lage ihren eigenen Lernprozess mehr und mehr selbst zu steuern. Das dauert natürlich, weil es auch ein Vertrauen bildendes Verfahren ist, das sich emotional nur langsam festigen kann und ständigen Redundanzkontrollen unterworfen ist.
Im letzten Schritt dieser Trainingsphase geht es um die Dramaturgie. Was eine Dramaturgie ist, wird kurz erläutert.
Auf die Frage, an welche Stelle im Sprechtext der RAP am besten passt, antworten mehrere Schüler richtig. Sie haben schon ein Gespür für Dramaturgie und können ihre Wahl auch begründen.
Als Hausaufgabe sollen die Schüler mit dem Korken oder Daumen an ihrer Aussprache arbeiten und ihre Texte auswendig lernen. Ich habe so meine Zweifel, ob sie das machen werden.
5. Treffen
Heute ist unsere letzte Probe vor den Osterferien. Mein Anspruch: Etwas machen, das einen Spannungsbogen über die Ferien schlägt, damit die Kinder nicht nach den Ferien alles vergessen haben, sondern möglichst auf unser nächstes Treffen hinfiebern.
Die Klassenlehrerin schlägt vor, in den großen Musiksaal zu gehen. Die Musiklehrerin will schon kommen und schauen, was wir machen, mit der Klasse. Ich wimmle sie ab. Hätten noch nichts zu zeigen und so.
Der Musiksaal ist riesengroß. Endlich Platz!
Wir starten mit dem Hinweis, dass es beim Theaterspielen extrem wichtig ist, wach und präsent zu sein, heißt: immer aufmerksam mit peripherem Blick alles zu verfolgen. Der periphere Blick wird natürlich erläutert. Ein Klatschkreis mit Weitergabe des Impulses zeigt sofort, wer das verstanden hat und wer es umsetzen kann. In dieser Gruppe ist es schwierig, da mehrere diese Anforderung nicht erfüllen können, während gleichzeitig etwa die Hälfte der Gruppe sofort korrekt mitmachen kann und wir das Tempo des Klatschens auch steigern können.
Es zeigt sich deutlich, diese Aufgabe ist für manche eine geringe Herausforderung, die sie leicht bewältigen. Für manche ist sie eine große Herausforderung, und sie benötigen einige Runden, bis sie verstanden haben und auch angemessen reagieren können. Für manche ist diese Aufgabe eine glatte Überforderung, und sie sind auch nach mehreren Runden nicht in der Lage, sie zu bewältigen. Wie soll man als Lehrer darauf reagieren? Ich habe keine Antwort.
Ich verzichte auf die Regel, wie es in manchen Spielverläufen gefordert ist, dass diejenigen, die es falsch machen, aussetzen müssen, und beachsichtige diese Übung bei den nächsten Treffen zu wiederholen. Übung macht den Meister.
Danach wiederholen wir kurz, wie man seinen Text lernt und wie man sicherstellt, dass man seinen Einsatz nicht verpasst. Außerdem wird eine Souffleuse eingesetzt, denn die Texte sollen nun das erste Mal auswendig gesprochen werden.
Zu meinen Erstaunen klappt es besser, als ich vermutete. Die Kinder geben sich Mühe und haben ihre Texte gelernt. Ich freue mich und sage ihnen das auch.
Unsere Mammutjagd könnte abends am Lagerfeuer enden, schlage ich vor, und erzähle von dem Film „Der mit der Wolf tanzt“ und der Szene, in der der Protagonist (Kevin Costner) abends am Lagerfeuer immer und immer wieder die Szene spielend erzählt, wie er den kleinen Indianerjungen vor dem heranstürmenden Büffel gerettet hat. Lagerfeuer-Theater. Die Kinder haben mich so inspiriert, dass ich meine alte Gitarre vom Dachboden geholt, neue Saiten aufgezogen und ein bisschen meine eingerosteten Finger trainiert habe.
Ich spiele ihnen mehr schlecht als recht ein Lied vor (denke ich) – ich kann nur noch einen Blues in E – mit einem fragmentarischen Text, der die Geschichte von der Mammutjagd der kleinen Wilden nochmals erzählt, in der Hoffnung, dass mich die Kinder unterstützen und sie selbst daraus ihr Lied machen.
Kinder lernen ja, wie Erwachsene auch, im Wesentlichen am Modell und durch Nachahmung. Also denke ich, hier haben sie ein Modell, oder besser einen Rahmen, den sie selbst weiter mit ihren Inhalten gestalten können. Ich gebe ihnen auch ein Modell, an dem sie sich reiben können, ein Modell, Widerständigkeit üben zu können und auch solidarisch sein zu können. Ich fordere sie heraus, eine Haltung gegenüber mir und meinen Impulsen einzunehmen und diese zu testen. Es ist immer auch ein Experiment. Es kann scheitern, es kann gelingen.
Der Blues gelingt so leidlich, und einige Kinder greifen meine Bitte sofort auf, fehlende Textzeilen und mangelnde Reime zu ergänzen bzw. die Geschichte weiterzuerzählen. Kinder sind grundsätzlich hilfsbereit. So wie sie auch immer neugierig sind. Ich bitte sie über die Ferien, weitere Verse für das Lied zu schreiben. Eine Schülerin ergänzt relativ spontan meine Verse und es kommt zu einer kleinen battle, in der wir nacheinander immer neue Verse improvisieren, die alle den gleichen Endreim haben. Das bekommen die meisten Oberstufenschüler nicht hin.
Einem syrischen Mädchen (Kriegsflüchtling), das weder unsere Sprache versteht noch lesen oder schreiben kann, lächele ich immer wieder zu. Sie reagiert nicht auf mein Lächeln. Ich bin irritiert. Normalerweise lächeln Menschen zurück. Ich habe Angst, intensiver darüber nachzudenken, was das Mädchen erlebt hat. Im Klatschkreis und anderen Gruppenaktivitäten macht sie aber lebhaft mit, erkennt die Regeln. Beim Singen im Kreis ist sie Bestandteil der Gruppe. Andere Mädchen helfen ihr, arabisch sprechende Jungen übersetzen. Ich erinnere mich an die Hattie-Studie: Es kommt in erster Linie auf die Lehrkraft an (vgl. Zierer 2014).
Mir geht unwillkürlich durch den Kopf: Hat sie Bombenangriffe durchlitten, womöglich miterlebt, wie geliebte Menschen vor ihren Augen zerfetzt wurden, wochenlang Todesangst ausgehalten, Angst vor Gewalt, bei der auch deutsche Waffen, in Deutschland hergestellter Sprengstoff eine Rolle spielten? Ich schweife ab. Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich nach einigen Monaten Deutschunterricht mit ihren traurig leeren Augen und ihrem nicht (mehr) lächelnden Gesicht zur Rede stellt, ob das stimmt, dass sie auch unter deutschen Bomben, Granaten und Mienen leiden musste? Ich verdränge erstmal. Da ist eine Gruppe, eine Klasse, und ich muss ein Angebot machen für friedliches Miteinander, für kulturelle Bildung. Vielleicht ist es auch ein Angebot für sie. Theater verhandelt ja wichtige Themen von Menschen.
Der Funke ist übergesprungen. Ich sehe den Abschluss unseres Theaterstückes schon vor meinem geistigen Auge: Alle sitzen um das Lagerfeuer herum und lassen den Tag singend noch einmal vorüberziehen.
Die Klassenlehrerin beschließt die Stunde mit der Bemerkung, dass eine ganze Reihe Kinder in der Klasse seien, die ein Instrument spielen können. Sofort wollen mir einige ihr Können am Flügel demonstrieren. Dass Pause ist, interessiert im Moment keinen mehr.
Jetzt bin ich mir sicher, dass es nach den Osterferien mit Schwung weitergehen wird.
Weiterführendes
- Zierer, Klaus 2014: Hattie für gestresste Lehrer. Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen aus John Hatties „Visible Learning“ und Hatties „Visible Learning for Teachers“ Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren > Rezension
— Osterferien —
Wie knüpfe ich am besten nach einer längeren Pause, hier nach den Osterferien an ein gestartetes Projekt an?
Sind die Energien wieder schnell aktivierbar, wie sie vor den Ferien sichtbar wurden?
Was war es, was die Kinder begeisterte, ihre Leidenschaft weckte?
Ach ja, die Musik, das Dichten und Instrumente spielen! Und die gemeinsamen Aktionen: die Klatschübung, das gemeinsame Singen. Theater.
Wie viel Zeit haben wir eigentlich noch bis zu einer möglichen Aufführung zum Schuljahresabschluss und der Verabschiedungsfeier der vierten Klassen?
Ca. 12 Wochen, also 24 Termine, großzügig gerechnet. Vermutlich werden es eher nur 15-18 Termine sein, rechnet man alle Unwägbarkeiten ein, wie Klassenarbeiten, Wandertage, Priorisierung des Fachunterrichts usw.
Ich muss also flexibel bleiben und unsere Arbeit so strukturieren wie einen Presseartikel. Die müssen Absatz für Absatz von hinten kürzbar sein, damit sie sich gut layouten lassen. Ich muss also so arbeiten, dass ich zunächst einen knackigen Kern habe, um den herum wir dann – je nach zur Verfügung stehender Zeit – erweitern und vertiefen; also entweder weitere Szenen erfinden oder das, was wir bereits haben, ausdifferenzieren. Künstlerisches Feintuning sozusagen.
Es ergäbe sich auch ein weiterer Vorteil: Unser Stück wäre unterschiedlichen Präsentationssituationen anpassbar. Man könnte kürzer Elemente – ohne Sinnverlust – als quasi öffentliche Probe mal in Parallelklassen zeigen, um sich 1. Feedback zu holen, 2. die Kinder schussfest zu machen, sie also zu trainieren, dass sie in ernsthaften Situationen bestehen und 3. könnte das die zuschauenden Schüler inspirieren, auch mal ein Theaterprojekt zu fordern.
Ich werde sehen, wie weit ich es schaffe, die Kinder anzuspornen und zu begeistern, sich länger mit einer Szene zu beschäftigen. Inwieweit werde ich ihre Ausdauer, ihre Beharrlichkeit, ihre Geduld, ihre Zielstrebigkeit herausfordern können? Werden sie in der künstlerischen Arbeit ein lohnendes Objekt sehen, in das sie investieren wollen? Werden sie sich in dieser ästhetischen Arbeit angenommen und aufgehoben fühlen? Werden sie etwas von Selbstverwirklichung und Potenzialentfaltung spüren? Soll ich mit ihnen darüber reden? Inwieweit werden sie Verantwortung für kleine Aufgaben, Prozesse und Gruppensteuerung übernehmen (können)?
Habe ich schon eine klarere Vorstellung davon, was die Kinder über und mit Theater lernen können und sollten? Ein nochmaliger Blick in Curricula für Theater für die Grundschule zeigt mir nur das, was theoretisch stimmig ist. In die Praxis umsetzen ist die eigentliche Herausforderung für den Lehrer.
Ich sollte meine Überlegungen den Schülern mitteilen. Wir wissen ja, das sie besonders gut lernen, wenn man sie nicht nur anfangs teilhaben lässt am Prozess und laut denkt, sondern sie sukzessive in die Verantwortung nimmt und mitbestimmen lässt.
Ich nehme mir also vor, ihnen von meinen Überlegungen zu erzählen und genau zuzuhören, wie sie darauf reagieren und ob sie konstruktive Vorschläge machen, die ich natürlich aufgreife und die wir gemeinsam auf ihre Tauglichkeit prüfen. So weit das geht.
Die Frage sollte ja beantwortet werden, wie man Fach- und Sozialkompetenzen miteinander vermittelt. Sie gegeneinander auszuspielen erscheint mir nicht sinnvoll, wie man das zuweilen eher aus Künstlerkreisen hört.
Dort klingt das ungefähr so: Die (Theater-)Kunst darf nicht missbraucht und zweckentfremdet werden, indem sie für das Training von soft-skills ge-/ benutzt/ in Dienst genommen wird. „Kunst ist zweckfrei!“, schallt es durch den hohlen Raum. Ja, auf dieser Meta-Ebene ist das Leben auch zweckfrei, möchte ich entgegnen. Das hilft uns aber gar nicht weiter, dieses und auch jenes angemessen zu bewältigen. Dogmatismus hat selten geholfen. Eigentlich nie.
Was tun wir?
Wir nehmen es, wie es kommt. Was macht (Theater-)Kunst? Sie verhandelt die Themen des menschlichen Miteinanders auf eine besondere – sprich: aus dem Alltag herausgehobene – Weise, nämlich in irgendwie gestalteter Form.
Wozu?
Damit sich Menschen irgendwie darin verwickeln lassen, die Akteure.
Damit sich Menschen das anschauen, das Publikum.
Was sind die Effekte?
Menschen begeben sich als Akteure beim Theaterspielen in ästhetische Prozesse, mit Haut und Haaren, mit Kopf und Herz, mit Verstand und Gefühl. Sie erleben menschliche Situationen in einer zweiten Welt, in Als-ob-Situationen.
Diese ‚zweite Welt‘ reflektiert die erste, sei es als Spiegel, der das Gesehene zurückwirft, sei es als Rollenspiel oder naturalistische Darstellung, sei es in besonderer Weise künstlerisch gestaltet, verfremdet, metaphorisch, symbolisch.
Akteure und Zuschauer reflektieren menschliches Handeln, ohne selbst direkt betroffen zu sein. In Performances sind sie es manchmal doch. Der Grund: Noch wirkungsvoller zu sein. Noch intensiver zu konfrontieren.
Der Vorfall – Einbruch noch einer anderen ‚zweiten Welt‘
Mir fällt ein Vorfall ein, der sich in „meiner“ Klasse vor den Ferien abgespielt hat. Einige Schüler verabredeten unter dem Kommando eines großen, kräftigen Jungen, einen Mitschüler in einem nicht einsehbaren und nicht beaufsichtigten Teil des Schulgeländes zu verprügeln. Es gab Rollenzuweisungen, wer schlägt, wer filmt und wer das Gefilmte ins Internet stellt. In der 4. Klasse! Ich war entsetzt, als ich davon erfuhr. Die Disziplinarmaschinerie läuft: Elterngespräche, Konferenzen, …
Ich überlege eine Spielsituation in der Klasse anzuregen bzw. eine Szene in unserem Stück, in der auf einer anderen Ebene, quasi in Analogie, mit theatral-künstlerischen Mittel, Techniken und Methoden die Schüler in einen Prozess verwickelt werden, der das Verhalten von einigen von ihnen künstlerisch verfremdet und gestaltet bearbeitet und reflektiert.
Vielleicht erkennen die besonders betroffenen Schüler die Analogie und werden auf diese Weise mit sich selbst konfrontiert, mit ihrem eigenen Verhalten, ohne dass dieses explizit zu Thema gemacht wird oder sie tatsächlich zum Thema werden. Das wurden sie bereits durch die Disziplinarprozesse nach den entsprechenden Vorfällen.
Die Theater-Kunst hätte hierbei die Möglichkeit, genau das zu machen, was ihr ureigenstes Anliegen und auch ganz klar ihr Nutzen ist: Menschliches künstlerisch zu verhandeln. Das kann nicht Selbstzweck sein oder sich selbst genügen.
Wie kann ich die zweite Welt (vgl. auch Pfaller) des Theaters nutzen – ja Theater hat einen Nutzen – um Impulse für die erste Welt zu geben?
Das Unterrichts-Konzept
für das erste Treffen nach den Ferien ist durch meine theoretischen Diskurse jetzt ein bisschen gereift:
- Begeisterung der Kinder sichern, zur Not wieder wecken
- geleisteten Arbeitsprozess und bisherige Lernfortschritte sichtbar machen und festigen durch Wiederholung und Üben
- zukünftigen Arbeitsprozess ahnbar machen und ästhetische Vision entwerfen (vgl. Visionen beschreiben – Tutorial zum „Kursbuch Theater machen“)
- Struktur des Arbeitsprozesses weiter präzisieren und offen kommunizieren (laut denken und gemeinsam besprechen): Warum machen wir jetzt dies und danach das, und wohin soll uns das Ganze führen?
- Fachbegriffe bewusster kommunizieren > spielerische Kompetenzüberprüfung
- dramaturgische Elemente sichtbar machen, visualisieren auf Plakaten
- Die Musiklehrerin der Klasse fragen, ob sie mal zu einer Probe kommt, um uns zu unterstützen. Sie hat gerade einen Test schreiben lassen. Thema: Notation. Könnte man das irgendwie in unser Stück integrieren?
- Wie sieht es mit Noten aus? Muss ich bewerten?
Ich muss dringend mit der Klassenlehrerin sprechen, mein Konzept erläutern und mich beraten lassen, eine gemeinsame Linie finden.
Dabei auch Eltern und Schulleitung einbinden.
Aktualität bricht nochmals ein:
In der Schweiz hat eine Schulleitung kürzlich verfügt, dass die traditionelle Begrüßung der Schüler mit Handschlag durch die Lehrer abgeschafft ist (vgl. Talmedia AG, vorm. Tages-Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich AG, Werdstrasse 21, 8004 Zürich und bz Basellandschaftliche Zeitung, 4410 Kiestal).
Begründung: Ein islamgläubiger Schüler fühlt seine Religion durch dieses Brauchtum in der Schweiz beleidigt.
Was soll man dazu sagen? Werde ich bald Theater ohne Körperkontakt machen müssen? Werde ich bald religiöse und vermeintlich religiöse Themen zensieren müssen? Müssen beispielsweise für Schülerinnen in Zukunft in Schultheaterstücken immer extra Rollen für Muslima erfunden werden, die nicht bereit sind, ihre Alltags-Kleidung, die bestimmte Körperteile verhüllt, abzulegen?
Im Theater wird Kleidung zum Kostüm, zum ästhetischen Mittel, und wird, wie alle anderen Mitteln, entsprechend künstlerisch gestaltet und steht damit als Ikon, als Zeichen für etwas mit einer Bedeutung.
Da warten wohl nächste Woche einige Baustellen auf mich.
Weiterführendes
- Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (Hg)(1997): Darstellendes Spiel im Lehrplan. Grundlagen und Anregungen für Schule und Unterricht. Kiel
- Pfaller, Robert (2012): Zweite Welten. Und andere Lebenselexiere. Frankfurt/ M: S. Fischer
- Vierbaum, Johanna/ Görtz, Martin (2013): Beispiel für ein schulinternes Curriculum in Fach Theater Grundschule. LIF 11 – Beratungsfeld Theater Grundschule > http://li.hamburg.de/contentblob/4363208/data/download-pdf-beispiel-fuer-ein-schulinternes-curriculum-in-fach-theater-grundschule.pdf
- http://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplannavigator-grundschule/
- http://bildungsserver.hamburg.de/darstellendes-spiel-grundschule-bildungssplaene-beratung/
- http://bvts.org/beta/?page_id=272
6. Treffen
Nach zwei Wochen Ferien komme ich in die Schule und die Klassenlehrerin ist krank. Eine Kollegin macht Vertretung. Wir besprechen kurz, was ich vorhabe. Die Kinder arbeiten an ihrem Wochenplan. Mit den fünf größten Kindern (drei Jungen, zwei Mädchen), darunter besonders verhaltensauffällige, will ich mit Requisiten arbeiten.
Warum gerade diese?
Ich möchte Erfahrungen machen, ob ich sie durch besonders intensive Zuwendung und Einbindung in verantwortungsvolle Aufgaben dazu bringen kann, ihren Teil an Mitwirkung im Gemeinschaftsprojekt konstruktiv zu gestalten. Wir nutzen wieder den großen Musiksaal, er ist zufällig frei.
Ich stelle die Aufgabe: Mit Hilfe zweier großer schwarzer Tücher (ca. 4×5 m) und ein paar Stöcken ein Mammut darzustellen, nachdem die Kinder wichtige Merkmale eines Mammuts genannt haben und wir nochmal darüber sprechen, dass Theater nicht unbedingt echte Dinge auf der Bühne benutzt oder zeigt bzw. dass die Zuschauer anhand bestimmter Merkmale/ Zeichen erkennen, was die Darsteller zeigen wollen.
Nach unseren Experimenten (trial and error) mit Tüchern und Stöcken stellen wir fest, dass die Tücher zu klein sind und dass wir noch weitere Merkmale benötigen, damit die Zuschauer in unserem Tuchmonster wenigsten einige Zeichen für ein Mammut erkennen.
Die Schüler lernen etwas über die Zeichenhaftigkeit im Theater und die Als-ob-Situation und wie Gegenstände (Requisiten) verfremdet gebraucht werden. Ich gebe den Kindern keine fertigen (von mir vorab komplett ausgedachten) Pläne, die sie nur noch umsetzen können, sondern versuche Lernsettings bzw. Rahmen und Felder abzustecken zu kreieren, in denen sie viel selbst ausprobieren, erfinden und gestalten können. Aber ich halte im Prozess als der Experte für Theater mit meinem Wissen und Können nicht hinterm Berg. Die Dosis macht den Lerneffekt.
Ein Mädchen, dass sich besonders beim Reimen neuer Verse hervorgetan hat, bitte ich, einige weitere Kinder um sich zu scharen und neue Verse für unser Lagerfeuer-Lied zu schreiben. So kann sie prima ihr Sprachpotenzial entfalten und mit ihrer Begeisterung andere anstecken.
Später zeigt sich, es wollte keine anderes Kind mit diesem Mädchen zusammenarbeiten und es ist auch nur ein magerer Vers herausgekommen. Ich tröste und sage: Einfälle kann man nicht erzwingen. Manchmal kommen sie von alleine, wenn man sich intensiv mit etwas beschäftigt hat, ganz unerwartet, und füge ein paar Bemerkungen über Fantasie und Kreativität hinzu. Immer wieder stellen Kinder beim spielerischen Experimentieren mit den Tüchern und Stöcken die Frage, welche Rolle sie denn nun spielen können. Einige halten es nur schwer aus (Ambiguitätstoleranz), dass wir in diesem Stadium der Arbeit noch keine Rollen festlegen, weil es noch gar keine gibt.
Da ich meiner Gitarre wieder dabei habe, wollen mir einige Kinder zeigen, dass sie auch Gitarre spielen können. Dabei stellt sich heraus, einige tun nur so also ob. Sie nehmen die Gitarre in die Hände und spielen dann aber quasi Luftgitarre.
Ein Junge kann aber tatsächlich ein bisschen spielen: Einen Blues in E-Dur! Noch etwas anfängerhaft, aber deutliche erkennbar. Ich bin verblüfft und frage ihn, ob wir zusammen unser Lagerfeuer-Lied spielen wollen. Er willigt freudig ein. Ich empfehle: Dann musst du aber jetzt viel üben, besonders den schwierigen Griff B7 und füge hinzu: Ich muss jetzt auch nochmal richtig üben. Ich vermute, er weiß jetzt genau, wozu üben gut ist. Und dass Üben dann auch Spaß macht, wenn man weiß, wozu man es gebrauchen kann.
Was mache ich mit Kindern, die aufgrund ihres Verhaltens – das sie nicht bereit sind zu ändern oder es nicht ändern können aufgrund (un-)bestimmter psychischer Dispositionen, genetische Einflüsse, mangelnder Impulskontrolle, Erkrankungen oder anderen Umständen – die konstruktive Zusammenarbeit einer Gruppe massiv stören bzw. langfristig zerstören und verunmöglichen?
Ein Beispiel: Ein Junge springt nach unserem kleinen Gitarren-Intermezzo wie von einer Tarantel gestochen auf und ruft: „Ich spiel jetzt Klavier!“ und rennt zum Klavier, auf dem Schüler nicht spielen dürfen, was alle wissen. Er auch nicht, er hat noch das Bild von der Luftgitarre spielenden Schülerin im Kopf. Zwei, drei andere Kinder rennen hinterher. Ich rufe sie verärgert zurück und mache eine klare Ansage, was ich von ihnen erwarte. Betroffene Gesichter.
Die fehlende Impulskontrolle, die ständige Ablehnung der in der Gruppe vereinbarten Handlungen und destruktiven Aktionen gehen nach wenigen Minuten weiter.
Was nun?
Kann, darf ich die konstruktive Zusammenarbeit einer größeren Gruppe der vermeintlichen Potenzialentfaltung eines Einzelnen oder einiger Weniger opfern? Oder muss ich sie von diesem Prozess/ Projekt ausschließen, in welchem sie nicht/ noch nicht/ grundsätzlich nicht fähig sind, konstruktiv mitzuarbeiten? Muss ich die Wenigen mit bestimmten Aufgaben so in ihrem destruktiven Drang bremsen und blockieren, dass der überwiegende Teil der Gruppe arbeitsfähig bleibt? Muss ich als Lehrkraft diesen Teil der Gruppe nicht sogar regelrecht schützen vor destruktiven, nicht integrationsfähigen Einflüssen?
Welches Potenzial soll da wie entfaltet werden?
Was kann unter diesen Umständen über Theater und durch Theater überhaupt gelernt werden? Was lernen die Kinder tatsächlich? Wie man sorgfältig, achtsam, solidarisch und diszipliniert Theater macht oder wie das Theatermachen durch einige wenige sehr erschwert oder gar unmöglich gemacht wird? Bleibt mir nur die Wahl, für diese Kinder die Rolle von Büschen zu erfinden, in denen sie 20 Minuten still auf der Bühne hocken müssen? Aber das würden sie ja auch nicht aushalten. Rat?
Die anderen Kinder, die in ihrem Wochenplan weitergearbeitet haben, äußern später vereinzelt Interesse, was ich mit der Kleingruppe gemacht habe.
Beim Weggehen rufen mir einige nach: War schön heute!
Ich habe für mich Zweifel.
Im Lehrerzimmer schnappe ich im Vorbeigehen Gesprächsfetzen zweier Kolleginnen auf: Vater jetzt im Gefängnis … Mutter überfordert … was machen wir mit der Kleinen … die ist am Ausflippen. –
Bin ich in einer staatlichen Regelschule oder in einer Betreuungseinrichtung in einem sozialen Brennpunkt?
Wo ist die Grenze für Inklusion?
Das müssen doch immer beide Seiten wollen, diejenigen, die inkludieren wollen und diejenigen, die sich inkludieren lassen wollen. Oder?
Das Thema hat enorme politische Brisanz.
Erinnerung
Ich habe mehrere Jahre in einer Privatschule mit Internat und engem Bezug zu den Schülern und sehr viel Raum und Freiheiten zur Potenzialentfaltung gearbeitet und dort grundlegende Erfahrungen zum Thema Inklusion und Wertevermittlung gemacht. Allerdings auch noch aus einer weiteren Perspektive.
Mal schnell einige Beispiele von vielen: Zwei Kinder sehr reicher Eltern. Ein recht kluger, nicht unsympathischer Siebtklässler hatte in allen Fächern die Note sechs und las nur, zumeist Heftchen trivialer Art. Er störte niemanden. Alle Versuche, ihn zu bewegen, mitzumachen lehnte er ab mit der Bemerkung: Ich erbe doch sowieso drei Fabriken. Also warum soll ich mich anstrengen. Für ihn war es bereits das achte Internat. Sozial verwahrlost. Ungefährlich.
Der Andere, weniger klug, erhielt zum achtzehnten Geburtstag als Geschenk von seinen Eltern einen neuen Jeep Renegade und fuhr bei nächtlichem Saufgelage im Wald betrunken eine Mitschülerin tot. Weitere Mitschüler wurden verletzt. Polizeieinsatz. Führerscheinentzug wegen Trunkenheit! Am dritten Tag nach dem Vorfall kam der Schüler wieder mit seinem reparierten Jeep in die Schule! Sozial verwahrlost. Gefährlich.
Ein anderer Siebtklässler zündelte immer mal wieder gern. Irgendwann waren die Vorhänge in Zimmern von Mitschülern dran. Nachts. Und dann auch mal das Kleid einer Mitschülerin. Keine Impulskontrolle. Er hat sein Taten danach immer unter Tränen heftigst bereut. Ein ansonsten netter Schüler, aufgeweckt. Sozial verwahrlost. Höchst gefährlich.
Solche Vorfälle ließen sich noch viele beschreiben. Ich war ja mehrere Jahre an dieser Schule.
Wer muss hier wo und wie integriert werden?
Ich werde nochmal „Die Verrohung des Franz Blum“ von Burkard Driest lesen. Da ging es auch um Inklusion. Früher nannte man das (Re-)Sozialisierung und die Frage war, wer auf welche Weise in welches soziale System oder in welche soziale Gemeinschaft (wieder) integriert werden sollte.
Es gibt auch eine spannende Verfilmung, in der der eine Protagonist, ein Verbrecher, vom Autor des Buches gespielt wird, der selbst im wirklichen Leben Gewalttäter und vier Jahre im Gefängnis war.
Als Fazit stellten sich mir Fragen: Hat Inklusion auch Grenzen? Gibt es Kinder und Menschen, die man 24 Stunden täglich betreuen, kontrollieren, bewachen muss? Sind alle Kinder „hochbegabt“?
Mein geplantes Unterrichtskonzept für das erste Treffen nach den Osterferien war wohl etwas zu ambitioniert. Und ich kann die Frage heute wirklich nicht beantworten: Was haben die Kinder jetzt über und durch Theaterspielen gelernt? –
Gerade kommt die Post. Der neue FUNDUS ist da! Ich blättere … und entdecke einen interessanten Artikel über ein Grundschule-Projekt … (siehe Diefenhardt). In der Beschreibung werden sehr durchdacht die theatralen Mittel durchdekliniert und als Komposition zusammengeführt. En passant wird aufgezeigt, dass Theaterspielen, kompetent angeleitet wie hier, automatisch inklusiv ist.
Weiterführendes
- Diefenhardt, Andrea (2016): Mit Jim Knopf und Lukas auf den Gleisen der Inklusion. In: FUNDUS 1/ 2016. Zeitschrift des Landesverbandes Schultheater in Hessen e.V. (Hg), Fränkisch-Crumbach: 5-8. Bestellung: schultheater-in-hessen@gmx.de
- Driest, Burkard (2003): Die Verrohung des Franz Blum. Berlin: Ullstein
7. Treffen
Mit sechs anderen Schülern haben wir heute mit einem sehr viel größeren Tuch gearbeitet und ausführlich darüber gesprochen – mit den sechsen war das gut möglich – dass Theater eine Illusion auf der Bühne erzeugen kann.
Die Zuschauer sehen ein Tuch, das mit Stangen hochgehalten wird und identifizieren es zusammen mit einem Text als ein Mammut. Eine Schülerin: „Es ist ein Mammut und gleichzeitig auch kein Mammut.“
Das etwas unklare schwarze Tuchlappenmonster hat auch etwas Angsteinflößendes. Ich frage die Kinder, wovor sie schonmal Angst hatten und wie sie die Angst bekämpfen. Die Kinder erzählen. Es wird deutlich, es braucht Mut, um gegen die Angst anzukämpfen. Mut, wie ihn die kleinen Wilden aus der Geschichte haben, wenn sie gegen das riesengroße Mammut kämpfen.
Das Mammut auf der Bühne steht auch für die Angst. Das kann Theater leisten. Ich benenne das Mammut als Metapher, als Bild für die Angst. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Kinder das verstanden haben.
Immer wieder fragen die Kinder: Welche Rolle kriege ich? Wer darf das Mammut spielen? Ich vertröste sie mit den schon oft wiederholten Äußerungen: Wir haben unser Stück doch noch gar nicht. Jeder soll möglichst an allem beteiligt sein und Ideen einbringen. Die Rollen können wir erst viel später festlegen. Usw. Ein hartes Ambiguitätstoleranztraining für die Schüler.
Zurück in der Klasse, die inzwischen mit der Klassenlehrerin Deutsch gemacht hat.
Zehn Minuten nach Anfang der vierten Stunde stehen drei bis vier Schüler auf, packen ihre Rucksäcke und wollen gehen. Die Frage, wo sie 35 Minuten vor Ende der vierten Stunde hinwollen, löst Irritation aus, bis sie merken, dass da was schief gelaufen ist. Was geht in den Jungs vor? Verpeilt? Irgendwie gehandicapt? Sie nehmen nicht wahr, was die anderen machen. Leben in einer eigenen Welt. Es fällt mir schwer, damit umzugehen.
In der letzten Viertelstunde zeigen wir allen, wie weit wir mit dem Lagerfeuer-Lied gekommen sind. Das Mädchen hat zwischen noch drei Strophen gedichtet. Ich spiele Gitarre, das Mädchen singt. Applaus.
Hausaufgabe für die Schüler: Beim nächsten Treffen sind alle schwarz gekleidet, mindestens dunkel. Wer einen schwarzen/ dunklen Schirm besorgen kann, bringt ihn mit.
Hausaufgabe für mich:
- Mit der Schulleitung klären, ob ich Fotos machen und veröffentlichen darf.
- Dürfen wir mit unseren Stöcken auf den Parkettboden stoßen?
- Welche Licht- und Tontechnik gibt es? Hausmeister kontaktieren.
- Wie geht die Theaterarbeit in die Deutschnote ein?
- Wie läuft die Verabschiedung zum Schuljahresende und wie führen wir dabei auf?
- Die Musiklehrerin bitten, uns musikalisch zu unterstützen und mit den Kindern weiter am Lagerfeuer-Lied arbeiten. Sie hat eine Wochenstunde Musik bei den Kindern.
8. Treffen
Meist läuft alles in Hektik ab; Absprachen mit „meiner“ Klassenlehrerin, mit dem Hausmeister, dem Schulleiter, Kolleginnen zwischen Tür und Angel. Und schon wuseln einem die Kinder wieder um die Füße. Geschrei. Wer hält das lange durch?
Irgendwie unwürdige Arbeitsbedingungen.
Die Klasse muss heute in Sachkunde nochmal den Stoff wiederholen, für einen schriftlichen Test am Montag. Ich habe ca. eine Schulstunde mit den Kindern in der Aula und kündige das als wichtigen nächsten Schritt in unserem Theater-Projekt an, dort zu proben, wo wir aufführen werden.
Wir starten mit der Aufwärmübung „Mammut, Eisberg, Vulkan“, einer Abwandlung von „Elefant, Palme, Affe“ (Theaterübungen CD-ROM: 1.1.50 Elefant, Palme, Affe: 87). Es zeigt sich schnell und deutlich, wer aufpasst, wer versteht, wer hilft. Es wird gelacht, wir haben viel Spaß.
Anschließend stellen sich alle Schüler in Linie an den Bühnenrand in Grundstellung, Blick frei nach vorn. Durchlaufprobe „Lesetheater“. Viele wissen noch ihren Text und auch wann sie dran sind. Die meisten können aber nicht ruhig stehen.
Wir machen drei Durchläufe. Jedes Mal sitzen drei andere Schüler verteilt auf den Stühlen im Zuschauerraum und geben Feedback. Jedes Mal werden die Schüler ruhiger, körperlich präsenter, textlich sicherer und vor allem lauter.
Im letzten Durchlauf wird schon spürbar, dass die Kinder eine deutlich sichtbar gestaltete Form produzieren. Sie lernen schnell. Durch das Feedback der „Regieassistenten“ und meine Rückmeldungen wird immer wieder auf das verwiesen, was wichtig ist und woran wir noch weiter arbeiten müssen, um besser zu werden.
Der RAP wird immer dynamischer und kraftvoller. Die Schüler „spielen“ sich mehr und mehr frei, werden mutiger, souveräner, ausdrucksstärker.
Die Klassenlehrerin ist beeindruckt.
Die meisten Kinder haben große Lust auf das gemeinsame Spiel. Bei einigen zeigen sich allerdings deutliche Unlustgefühle, sie machen nicht richtig mit. Den beobachtenden „Regie-Assistenten“ fällt das auf. Sie formulieren es. Und sie benennen auch die Schüler, die konzentriert bei der Sache sind, loben.
Für die Arbeit am Mammut reicht die Zeit nicht mehr.
Ich merke, ich benötige für die nächsten Treffen mehr Planungssicherheit, heißt, ich muss genauer wissen, wie viel Zeit ich zur Verfügung habe. Die Aula muss reserviert sein.
Auf dem Flur erwische ich die Musiklehrerin, die eine Stunde Musik in der Klasse hat. Sie will uns unterstützen und ich verabrede in einer der nächsten Stunden zu kommen, ihr zu zeigen, welche Ideen wir haben, sodass sie mit den Kindern ein Arrangement unseres Lagerfeuer-Liedes erarbeiten kann, bei dem sie die musikalischen Kompetenzen der Kinder nutzt und mit ihnen weiter entwickelt.
Was ich tue, könnte auch ein Modell für eine dauerhafte Zusammenarbeit von Schule und externen Theater-Künstlern werden. Auch wenn ich jetzt kein Theaterprofi bin, so ließe sich doch ein ähnlicher Status für einen externen Theaterpädagogen oder Schauspieler oder Regisseur etablieren, der in enger Kooperation mit einer Klassenlehrerin ein Theaterprojekt im regulären Unterricht mit einer ganzen Klasse durchführt. Es wäre im Gegensatz zu einer freiwilligen Theater-AG ein Modell, das allen Kinder einer Klasse die Chance gibt, über einen längeren Zeitraum Erfahrungen mit Theater unter fachkompetenter Anleitung zu machen, wobei es zahlreiche offensichtliche Bezüge zu Inhalten und Methoden des Fachunterrichts gibt und für die Schüler transparenter wird, warum und wofür sie etwas lernen und wie sie Gelerntes anwenden können.
Ich will sehen, ob ich mit der Schulleitung darüber ins Gespräch kommen kann und ob sie Möglichkeiten sieht, solch ein Theater-Modell dauerhaft zu installieren. Klar, es wird Geld kosten. Auf der anderen Seite könnten alle Grundschüler Erfahrungen mit Theater machen und es gäbe dringend benötigte dauerhafte Arbeitsplätze für professionelle Theater-Künstler und ausgebildete Theaterpädagogen. Alle könnten gewinnen.
Weiterführendes
- Czerny, Gabriele (2010): Theater-SAFARI. Praxismodelle für die Grundschule. Braunschweig: Westermann. 270 Seiten > Rezension
- Ritter, Caroline (2013): Darstellendes Spiel und ästhetische Bildung: Eine empirische Studie zur Theaterarbeit in der Grundschule. Kassel: University Press. 113 Seiten > Rezension
9. Treffen
Heute ist die Klassenlehrerin wieder bei der Referendarbetreuung an der Uni. Mittlerweile kenne ich einige Vertretungslehrerinnen. Wir sprechen uns ab, ich kann eine Stunde mit den Kindern in die Aula. Ich weiß inzwischen, wo der Raumplan und der Schlüssel hängen.
Start im Sitzkreis; aber erst wenn alle still sind. Wer es nach einer Weile und mehrmaligem Bitten immer noch nicht begriffen hat, fliegt raus aus dem Kreis und muss einen Meter nach hinten rutschen, bis zum nächsten Prozessschritt.
Es funktioniert. Die Kinder merken, ich meine es ernst mit unserer Arbeit.
Nach meinen Infos, was wir heute machen und warum, wird aufgewärmt mit der bereits bekannten Übung „Mammut, Eisberg, Vulkan“. Die Übung läuft gut und die, die vorher aus dem Kreis „rausflogen“ sind, weil sie die Arbeit der Gruppe behinderten, dürfen wieder mitmachen.
Anschließend bitte ich diejenigen in die Mitte des Kreises, die ganz in schwarz gekleidet sind, so wie ich es erbat. Es sind 10 von 21. Diese dürfen nun ein Mammut auf der Bühne der Aula mit Hilfe der Requisiten (schwarzes Tuch, Schirme, zwei weiße Stöcke, Taschenlampen) bauen. Ich habe einen etwas gruseligen Geräusche-Mix mit einem einfachen Programm (Garageband) erstellt und spiele ihn ab. Die Anweisung an das Mammut, das inzwischen von sieben Spielern erstellt wurde: Macht euch erst ganz klein und im Verlaufe der Toneinspielung (ca. 1,5 Minuten) wächst das Mammut ganz langsam zur vollen Größe. Alle anderen Schüler sitzen in der ersten Reihe, beobachten und geben anschließend Feedback.
Wir besprechen noch das weitere Vorgehen und beenden die Stunde mit der Übung „Du-Farbe-Obst“ (Theaterübungen, S. 32), allerdings erstmal nur mit „Du“. Die weitere Steigerung im Schwierigkeitsgrad erscheint mir nicht angemessen für diese Klasse.
Als Hausaufgabe wünsche ich mir Ideen und praktische Beispiele wie man aus Trinkhalmen Mammutzähne basteln kann, die die Kinder beim Sprechen im Mund behalten können.
—
Ich arbeite mich in die Theater-Literatur für die Grundschule ein. Das Buch von Czerny gefällt mir besonders. Der gesamte – nicht übermäßig lange – Theorieteil liest sich nicht wie eine Didaktik für Theater für die Grundschule, sondern ist gleichermaßen anwendbar für alle Altersstufen.
Auch verliert sich Czerny nicht – wie zahlreiche andere Autoren – in der müßigen Pseudodiskussion um einen vermeintlichen Gegensatz zwischen Kunst und Pädagogik, zwischen Theaterspielen und Softskills-Training, sondern führt sehr klug und vor allem nachvollziehbar beide Elemente zusammen.
Sie zeigt, das Eine ist die Kehrseite des Anderen. Beides gehört zusammen. Beides sind nur Facetten einer Bewegung: Kultur zu schaffen, Mensch zu werden.
Darüber hinaus zeigt sie in nachahmenswerter Weise an zahlreichen ausgearbeiteten Praxis-Beispielen, wie eine derartig entfaltete Theorie des Theaters über eine Didaktik des Theaters zu einer konkreten Praxis für die Grundschule werden kann.
Sie redet nicht einem verstaubten Literatur-Theater das Wort, sondern zeigt in welcher Weise postdramatische, performative Spielweisen die Mittel der Wahl sind, wenn es darum geht, Kindern einen Rahmen zu bauen, ein Feld zu bereiten, wo sie mit ästhetischen Mitteln experimentieren können und dabei auch eigene Ausdrucksweisen suchen; natürlich immer angeleitet, angeregt und betreut von einer qualifizierten Lehrkraft; anfangs stärker, später immer weniger.
Für meine Unterrichts-Planung hat sich folgendes Orientierungsraster bewährt. Es basiert auf der Didaktik für Theater/ Darstellendes Spiel und den entsprechenden Ableitungen daraus für eine Projektplanung, wie sie bereits in den Kursbüchern vorliegt.
- Instruktion
- Aufwärmen
- Neues kennenlernen und damit experimentieren (ausprobieren), dabei bereits Gelerntes erinnern und festigen
- Neues integrieren und bewusst gestalten (Dramaturgie) – proben
- Alles wiederholen, üben, wiederholbar machen, Sicherheit gewinnen
- Abschluss
- Hausaufgaben
Weiterführendes
- Czerny, Gabriele (2010): Theater-SAFARI. Praxismodelle für die Grundschule. Braunschweig: Westermann > Rezension
- Postdramatik im Theaterunterricht – Interview mit Friedhelm Roth-Lange
10. Treffen
Die Musiklehrerin will uns freundlicherweise unterstützen. In ihrem Musikunterricht spielen und singen wir ihr unser selbst getextetes „Lagerfeuer-Lied“ vor. Sie hat auch schon gleich Ideen für ein Arrangement, bittet zwei Schüler ans Klavier, holt Schlagwerk und schlägt vor, das neun Strophen lange Lied durch einige Soloparts aufzulockern.
Eine Schülerin, die gut singen kann, übernimmt ein Casting im Nebenraum, um herauszufinden, wer von den Schülern, die gern eine Solonummer singen wollen, auch dafür in Frage kommt. Selbsteinschätzung und tatsächliche Kompetenz liegen bei einigen nämlich weit auseinander.
Ich habe „Glück“, die Klassenlehrerin ist wieder mal nicht da (Referendarbetreuung an der Uni) und die beiden Vertretungskräfte lassen mich machen.
In der folgenden Stunde gibt es nach der Instruktion als Aufwärmen die Übung „Hochspringen – Klatschen – Ohnmacht“ (1.5.22 Hochspringen – klatschen – Ohnmacht, S. 201, aus: Theaterübungen) und eine Runde „Theater-Fachbegriffe lernen mit Spickzetteln“ und nochmals den Hinweis, dass sich die Mitarbeit im Theaterprojekt in der Deutschnote niederschlagen wird. Tja, so ist es eben.
Die Übung klappt eher nicht oder nur ansatzweise, beim Fachbegriffe-Erklären sind sie wach dabei. Es macht eben Spaß, etwas zu wissen und das Wissen benutzen zu können.
Wir proben die Einstiegsaktion in unser Vorlesetheater-Stück. Neutral stehen in Linie am Bühnenrand, fokussierter Blick, Augenrollen, gähnen, räkeln, in Superzeitlupe synchron in Ohnmachts-Schlaf fallen und hinter den aufgespannten Schirmen am Bühnenrand verschwinden.
Drei Durchläufe. Drei „Regieassistenten“, die auf den Zuschauerstühlen im Raum verteilt sitzen geben Rückmeldungen, was ihnen besonders gut gefallen und woran wir noch arbeiten müssen. Die Kinder inspirieren mich jedes Mal und es wächst langsam eine Dramaturgie, die ich notiere, und die mir hilft den nächsten Prozessschritt zu planen.
Heute war ich zwischendrin mal richtig sauer, weil zu viele Kinder nicht präsent sind und ihr eigenes Ding machen, ständig quatschen, Anweisungen nicht befolgen, schubsen und dergleichen, sodass die Mehrheit und der Arbeitsprozess darunter leiden. Zu viele reagieren nicht auf Ansagen oder nur zeitweise, sind kaum in die Gruppenaktivitäten integrierbar. Nur wenige sind schwarz angezogen, Schirme haben nur fünf Leute dabei, erbetene rote Kleidungsstücke auch nur fünf. Mit Trinkhalmen haben nur zwei etwas herumgespielt. Es wird schwierig.
Ich bin mal wieder nass geschwitzt.
Am Nachmittag hatte ich ein langes Telefonat mit einer sehr erfahrenen Theaterpädagogin, die diesen Blog verfolgt, und bin ihr sehr dankbar für zahlreiche Anregungen.
11. Treffen und nachdenken über Ästhetik im Schultheater
Ritualisierter Start im Sitzkreis für eine Stunde Probe. Es dauert zu lange, bis alle ruhig sind. Einige kriegen wieder die Instruktion nicht mit.
Kurzes Fachbegriffe-Quiz, dann Aufwärmen mit Zip-Zap-Boing.
Wir proben den Anfangspart unseres Stückes: Aufgang, konzentriert, fast alle sind präsent, chorische Aktionen funktionieren im Ansatz. Wieder sitzen Kinder im Publikum und geben Feedback. Ich bestehe nun darauf, dass sie dabei die Zwei-Schritte-Regel einhalten: 1. Besonders gut gefallen hat mir … 2. Ich wünsche mir …
Eine Ahnung von Wirkung wird spürbar, besonders als wir eine neue chorische Aktion einführen. Eine Schülerin bekommt einen Lachkrampf, die anderen sind minutenlang nicht mehr einzufangen. Aber so soll es ja auch sein. Theater soll richtig Spaß machen. Und wenn dann die Zuschauer auch noch ihren Spaß haben, dann …
Die Musiklehrerin signalisiert in der Pause, dass es zu schwierig sei, mit den Kindern unser Lagerfeuerlied einzustudieren. Sie würden den Groove des Blues nicht hinbekommen. Auch meinen Vorschlag, eine andere Melodie zu nehmen, die die Kinder bereits gut kennen, sieht sie skeptisch. Ich solle doch selbst mit der Gitarre mitspielen. Genau das wollte ich vermeiden. Ich wollte, dass die Kinder bei der Aufführung alleine auf der Bühne stehen und nicht vom Lehrer dirigiert, motiviert und angeschoben werden. Ich bin ein wenig enttäuscht über die geringe Unterstützung.
In den Pausengesprächen im Lehrerzimmer schnappe ich en passent etwas über einige Eltern „meiner“ Kinder auf: Kriminelle Machenschaften, Clanstrukturen, Geldwäsche, Gewalt, Drohungen gegen Lehrerinnen. Zu Hause Machismo und Allmachtswahn, in der Schule Gruppenarbeit, Höflichkeit und Respekt. Das Spagat überfordert scheinbar so manches Kind.
Ich muss an Horst Eberhard Richters jahrelang vorgetragene Erkenntnis und Forderung an die Politik denken: Holt die Kinder aus solchen Verhältnissen raus! Ob da Theaterspielen in der Schule überhaupt etwas bewirken kann?
Zwischenhalt – Ästhetik im Schultheater – Exkurs
Wie ist das jetzt mit der Ästhetik? Es soll ja eine spezielle Schultheater-Ästhetik geben. Ich weiß nicht so recht, was das sein soll. Es geht mir ähnlich damit wie mit dem Begriff Inklusion.
Für einen Lehrer, insbesondere Theater-Lehrer ist dieser Begriff vermutlich eher eine analytisch-wissenschaftliche Totgeburt. Es geht doch eher um das Grundverständnis von Lernen in Gruppen bzw. deren Anleitung zum Lernen.
Entweder will ich als Lehrer bestimmte Hochbegabungen weiter züchten im Sinne einer Elitenbildung, die dann zu gesellschaftlich-wirtschaftlich-politischen Führern weitergebildet/ erzogen/ trainiert werden, oder ich sehe mich als Förderer aller mir Anvertrauten, was bedeutet, jeden nach seinen mitgebrachten Potenzialen maximal zu fördern.
Wenn ich ein kleines Grüppchen junger Menschen mit großem Potenzial unter optimalen Bedingungen betreue und ich selbst gut aufgestellt bin, dann ist Unterrichten ein Kinderspiel. Die Kinder lernen ja quasi von selbst, ich muss nur noch Futter ranschaffen und Herausforderungen kreieren.
Ein kleines Grüppchen junger sehr heterogen begabter Mensch, also eine große Bandbreite menschlicher Daseinsformen (was die Spezialgruppe sogenannter gehandicapter Menschen mit allen möglichen Behinderungen einschließt), unter optimalen Bedingungen zu betreuen, also mit genug Personal und Ausstattung und wenn ich selbst gut aufgestellt bin, ist auch ein Kinderspiel.
Wir sehen, es geht nicht um einen prinzipiellen Unterschied des Unterrichtens. Es geht immer um die Bedingungen, unter denen unterrichtet wird. Deshalb ist inklusiver Theaterunterricht eine Tautologie, wenn sich die Lehrkraft an einer zeitgemäßen Didaktik des Theaters orientiert (vgl. Postdramatik im Theaterunterricht – Interview mit Friedhelm Roth-Lange).
Eine Ästhetik im Schultheater, insbesondere in der Grundschule, ist keine andere als die, die Professionelle für sich in Anspruch nehmen, sonst reden wir von zwei verschiedenen Dingen, aber nicht von Ästhetik.
So verschieden die Deutungen und Füllungen des Begriffs auch sein mögen, schillert doch in allen ein Wesentliches durch: Menschen fühlen sich berührt. Eher emotional als intellektuell. Aber das Eine schließt das Andere nicht kategorisch aus. Gibt es doch auch eine Lust des Denkens und eine Intellektualisierung der Emotionen. Woher käme sonst die Erotik des Geistes, des Geldes? Wieso verlieben sich Männer in nicht gerade hübsche, aber umso geistreichere Frauen und visa versa? Freud hat sich dazu so seine Gedanken gemacht.
Allem zugrunde liegt der Tops von der zweiten Welt, vom Lustprinzip in der Kultur. Das Theater erschafft eine der sichtbarsten Formen dieses Prinzips für viele Menschen, auch schon ganz kleine.
Pfaller erläutert dieses Prinzip recht anschaulich, indem er sich auf den französischen Psychoanalytiker Octave Mannoni und seinen Text „’Je sais bien, mais quand même …‘ (‚Ich weiß zwar, dennoch aber …‘)“ verweist, in dem er den Mechanismus der Verleugnung beschreibt, der vermutlich aller künstlerischen Lust und damit einer Ästhetik zugrunde liegt, die nicht vermeintlich wissenschaftlich in Unterkategorien von Teilästhetiken seziert werden kann.
Mannonis These besagt, dass überall dort eine Verleugnung am Werk ist, wo ein bestimmtes Wissen und eine diesem Wissen widersprechende Illusion gleichzeitig bei einem Menschen existieren.
Pfaller ergänzt diese Annahme: „Ich weiß zwar, dass das eine Illusion ist, dennoch aber macht es mir Freude, so zu tun, als ob es wahr wäre.“ (Pfaller: 97)
„Es ist ein Mammut und gleichzeitig auch kein Mammut.“ (Schülerin beim 7. Treffen).
In diesem Sinne ließe sich auch formulieren: Es ist zwar ein schwarzes Tuch, das von Kindern mit Schirmen hoch gehalten wird und zwei weiße Stöcke und Taschenlampen stellen Stoßzähne und Augen dar, aber ich fürchte mich davor, insbesondere wenn die Gruselmusik dazu kommt.“
Die Unterschiede im Spiel von Kindern und dem von Erwachsenen liegen lediglich in der Ausgefeiltheit der Mittel, Techniken und Methoden. Die ästhetischen Gestaltungskategorien sind im Wesentlichen die gleichen.
„Die Illusion existiert neben einem besseren Wissen, von dem sie aufgehoben wird. Gerade dieses Nebeneinander scheint nun das Amüsante an dieser Sache auszumachen.“ (Pfaller: 98)
Pfaller erläutert an einem schönen Beispiel das universelle Lustpotenzial der Ästhetik mit einem als Eisenbahn „verkleideten“ Wagenzug für Touristen in einer Stadt. Dabei scheint nicht bedeutsam zu sein, was gespielt wird, sondern dass gespielt wird, dass etwas Unwahres dargestellt wird. „Nicht der Inhalt macht Freude, sondern der Status – ihr Aufgehobensein durch besseres Wissen. Die Illusion erzeugt Lust dank des Bewusstseins, dass sie eine Illusion ist.“ (Pfaller: 99)
Nur derjenige, der um die Wahrheit weiß (die er hier verdrängt), erkennt und hat Spaß an der Illusion, die er jetzt für wahr nimmt. Wer allerdings tatsächlich glaubt, einen wirklichen Eisenbahnzug, ein Mammut vor sich zu haben, der hätte vermutlich wenig Spaß an dieser Spiel-Situation. Für ihn wäre eine Couch angesagt (vgl. dazu auch Artaud).
Wir sehen, wie das Spiel von Emotion und Intellekt, von Wahrheit und Lüge (hier: Verdrängung), von Illusion und Desillusion, von Konstruktion und Destruktion die Kunst durchdringt und eine unteilbare Ästhetik entstehen lässt.
Huizinga wählt den Begriff des Heiligen Ernstes dafür, basierend auf der Annahme, dass das Spiel ein Grundprinzip jeglicher Kultur darstellt und klare Markierungen in Raum und Zeit setzt. Wissen ist also eine unabdingbare Notwendigkeit des Heiligen Ernstes.
Für Freud war der Gegensatz zum Spiel nicht der Ernst, sondern die Wirklichkeit. Man könnte daraus folgern, dass diese Art von Verleugnung das „allgemeinste Grundprinzip der Kultur“ ist. (Pfaller: 104)
Kleine Kinder haben damit sowieso kein Problem. Man muss ihnen nur einmal aufmerksam eine Weile beim (Rollen-)Spielen und der Ästhetik der Ambivalenzen zuschauen, in dem auch manchmal die Fetzen fliegen. Schöne und schlechte Gefühle liegen da dicht beieinander. Und das veranlasste vermutlich auch Freud dieses Spiel mit dem Ernst als unrein und dreckig zu bezeichnen. Wer weiß, vielleicht ein weiteres Motiv, warum die Theaterkunst als unrein bezeichnet wurde.
Das Theater immer wieder mal als etwas Wundervolles bezeichnet wird, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass dort Dinge passieren (können), die „eigen“tlich nicht passieren (dürften).
Diesen „eigen“tümlichen ästhetischen Genuss verdanken wir einem Agreement zwischen den Theatermachern und den Theaterguckern, die wider besseres Wissen an Wunder (sprich: Illusionen) glauben und der Eine den Anderen nicht für so naiv hält, dass er ihm unterstellt, die auf der Bühne erzeugte zweite Welt, die Illusion, für die erste für die reale Welt zu halten.
Damit übertragen Wundererzeugende und Verwunderte ihre Naivität „an eine psychische Instanz – an einen ‚unsichtbaren Dritten’, der mit keinem der wirklichen Anwesenden identisch ist. Dadurch entsteht eine ‚Triangulierung’ der Situation: Man macht das nicht für sich, und nicht für den anwesenden Anderen, sondern ohne es zu sagen, machen es beide für einen Dritten, den es nicht gibt. Nur so entsteht das eigentliche Wunder.“, das es zum ästhetischen Gegenstand macht. (Pfaller: 141f)
Alle Bestrebungen dem Schultheater eine eigene Ästhetik zuzuschreiben und „Schultheater als eigene Kunstform“ zu erfinden, dürften demnach wenig sinnvoll sein.
Weiterführendes
- Artaud, Antonin 1969: Das Theater und sein Double. Frankfurt: S. Fischer
- Pfaller, Robert 2012: Zweite Welten. Und andere Lebenselexiere. Frankfurt/ M: S. Fischer
- Richter, Horst-Eberhard 1972: Patient Familie. Frankfurt am Main, Wien, Zürich: Büchergilde Gutenberg
- Richter, Horst-Eberhard 1969: Eltern, Kind und Neurose: Psychoanalyse der kindlichen Rolle. Reinbek: Rowohlt
12. Treffen – Inkludierung versus Dominierung?
Ein Zeitproblem ist zu lösen. Da ich zumeist nur maximal zweimal eine Stunde pro Woche mit den Kindern arbeiten kann – die Klassenlehrerin muss ja auch noch ein paar Vorgaben des Lehrplans erfüllen – sollte ich sehr kleine und flexible Lernhappen vorbereiten und entsprechend modular mit den Kindern arbeiten.
Wir basteln also unser Stück aus kleinen Segmenten zusammen, die alle durch einen roten Faden (die Geschichte, eine Episode der kleinen Wilden) zusammengehalten werden und ein möglichst breites Spektrum theatral-ästhetischer Tätigkeiten und Bereiche abdecken.
Wir haben bis jetzt als Vorlage und Ausgangsimpuls zwei Seiten Sprechtexte mit ausreichend vielen Rollen für alle; als Vorlesetheater konzipiert. Diese Anregung aus einer Vertretungsstunde habe ich aufgegriffen und Schritt für Schritt oder Modul für Modul erweitert.
Dabei gerade ich zunehmend in das Spannungsfeld zwischen meiner Absicht, die Schüler möglichst viel in die gemeinsame Gestaltungsarbeit einzubeziehen und ihnen viel Freiraum zu gewähren für selbstständiges kreatives Experimentieren im Rahmen der Vorgaben und der Absicht am Ende des Projektes etwas Vorzeigbares präsentieren zu können. Klugen Schülern fällt das auf.
Mein Impuls für ein Lagerfeuer-Lied am Ende des Stückes und mein Angebot für eine Umsetzung konnte nur in geringer Weise von den Schülern aufgegriffen werden. Nur eine Schülerin schrieb wenige Strophen dazu und ich ergänzte die meisten. Wir haben es ein paarmal durchgespielt, um in die Melodie und den Textrhythmus zu kommen.
Auch die Anregung an einige Schüler, das Lied mit ihren Instrumenten (Gitarre und Flöte) zu begleiten, scheiterte bis jetzt am geringen Können der Schüler und meiner nicht erfüllten Hoffnung einer entsprechenden Unterstützung durch die Musikkollegin, da mir diese Kompetenz fehlt.
Ich habe die Schüler vermutlich überfordert, habe zu viel erwartet. Ein Schüler äußerte en passent, ich habe es aber zufällig gehört, ihm gefiele es nicht, dass sie diese Texte von mir singen sollten, mit dem Subtext: Ich will selbst Texte schreiben.
Apropos „Ich will!“ Immer öfter sehe ich eine überbordene Ich-Bezogenheit bei relativ vielen Kindern, was in Kombination mit mangelnder Fähigkeit zu Triebkontrolle und -aufschub teilweise dazu führt, dass Schüler beispielsweise nach einer berechtigten Zurechtweisung durch die Lehrerin respektlos laut werden und ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen aggressiv formulieren. Das zerstört auf Dauer ein achtsames und solidarisches Miteinander.
Das lernförderliche Grundklima in der Gruppe kippt um, weil auch noch andere – weniger gefestigte Kinder – dieses Verhalten sehen und sich berechtigt fühlen, ihre individuellen Bedürfnisse rücksichtslos über den Gruppenkonsens zu stellen und durchsetzen wollen. Der Anteil dieser Kinder ist so groß, dass die „Rest“-Mehrheit keine Chance mehr hat, einen entsprechenden erzieherischen Einfluss auf sie auszuüben.
Einige Schüler mit hohem Potenzial klinken sich aus, resignieren.
In Rücksprache mit der Klassenlehrerin wird sie im Deutsch-Fachunterricht das Problem nochmals thematisieren und erneut versuchen, die Schüler mehr in die produktiv-kreative Textarbeit einzubinden und das Lied mit ihnen gemeinsam zu überarbeiten.
Es zeigt sich: Je geringer das Zeitbudget und je höher der Anspruch an die Qualität ist, um so höher wird der Druck beim Lehrer, die Rolle des Regisseurs zu spielen und die Schüler zu Objekten seiner Fantasien zu machen. Eigentlich nicht gut.
Fazit:
Lernen braucht ausreichend Zeit, sich auch einmal in Muße auf ein Thema einzulassen, auch auf die Gefahr hin, sich darin zu verlieren. Zum Leben gehören neben Zielgerichtetheit und Effizienz auch Umwege, Irrwege und Sackgassen; das Eine bedingt sogar in gewisser Weise das Andere (> Fehlerkultur).
Kreativität muss organisch wachsen, lässt sich nicht erzwingen. Ein unorganischer, widernatürlicher Lernrhythmus, der eine Kasernenarchitektur in einem 45-Minuten-Raum-Takt potenziert, verhindert eher Lernen als es zu fördern. – Ein weiteres Thema für mein Gespräch mit dem Schulleiter nach Abschluss des Projektes. Ich weiß, ich stoße bei ihm nicht auf taube Ohren.
13. Treffen
Der ritualisierte Sitzkreis beim Start und die Instruktionen funktionieren jedes Mal etwas besser. Heute habe ich zu viel erklärt und zu lange geredet. Ich habe die Fähigkeit der Kinder zum Zuhören falsch eingeschätzt und sie überfordert. Das war leider keine Herausforderung für sie.
Wir haben das Lagerfeuerlied demokratisch per Abstimmung gekürzt. Einige haben sich im Sologesang geübt, noch zaghaft, aber ausbaufähig. Die meisten Kinder können den Text immer besser und singen immer lauter, werden selbstbewusster.
Da von den Kindern nicht die erbetenen Vorschläge zur Maskengestaltung kamen, habe ich ihnen einige Ideen präsentiert und Angebote für Lösungen gemacht. Hausaufgabe: In einer Woche sollen alle eigene Gestaltungsvorschläge anbieten. Es geht darum, durch Veränderungen im Gesicht (komisch wirkende) Verweise auf das Mammut zu geben.
Da ich heute eine gute Zeitstunde zur Verfügung hatte, haben wir unser Stück vom Anfang bis zum gemeinsamen RAP geprobt. Obwohl wir den RAP einige Wochen nicht geübt hatten, hat er nahezu perfekt geklappt. Die Lust und der Spaß, den die meisten Kinder dabei haben, sind nicht zu übersehen. Notorisch teamunfähige Störer erhielten die Rolle der Regieassistenz und die Aufgabe von den Zuschauerplätzen aus zuzuschauen und anschließend Feedback nach dem gelernten Muster zu geben.
Das dramaturgische Konzept (Einsatz der dramaturgischen Harke) und die Rollenverteilung schälen sich langsam heraus. Manche Kinder tun sich schwer zu begreifen, dass alle bisherigen Rollenverteilungen, obwohl vielfach angesagt und wiederholt, vorläufig waren, und die endgültige Rollenverteilung so spät wie möglich erfolgt. Das ist möglich, da die jeweiligen Aufgaben für die Spieler überschaubar sind und schnell gelernt werden können. Die dahinterliegende Absicht besteht darin, im Laufe der Probenprozesses herauszufinden und möglichst transparent zu gestalten, wer welche Rolle gerne spielen möchte und wer am besten für welche Rolle geeignet erscheint. Darüber hinaus können die Kinder dabei u.a. wesentliche Kulturtechniken lernen, Erwartungen zu revidieren, manchmal auch Hoffnungen zu begraben, verzichten zu lernen im Interesse eines Gruppenergebnisses, sich plausiblen Gruppenzielen unterzuordnen, sich neuen Herausforderungen zu stellen und Ambiguitätstoleranz zu trainieren.
Situationskomik entsteht, wenn die sieben Schüler, die das Mammut darstellen, unter dem großen schwarzen Tuch hervorkommen und in die Rollen als Erzähler und der kleinen Wilden einsteigen und sich dabei im Mammuttuch verheddern und mit ihm kämpfen. Das traumatöse Mammut (-Tuch) fällt Stück für Stück zusammen und darunter kommen die kleinen mutigen Wilden zum Vorschein, die großspurig davon erzählen, wie sie gegen das Mammut kämpften.
14. Treffen – Überforderung vs. Herausforderung
Die Heterogenität der Gruppe fordert mich extrem. Überfordert sie mich? Die Durchlaufprobe klappte nur sehr schlecht, weil die Konzentration auf die gemeinsame Arbeit bei den meisten nicht länger als fünf Minuten möglich ist. Viele hören bei Ansagen nicht zu, machen etwas Anderes, sind auf sprachlich-kommunikativem Weg nur schwer zu erreichen. Lerneffekt bleibt aus.
Ein (Lernhilfe-)Schüler (13 Jahre) erklärt, er mache nicht mehr mit. Seine Haltung wurde schon länger in entsprechendem Verhalten deutlich. Ein anderer Schüler wurde inzwischen wegen seines Verhaltens für zwei Wochen der Schule verwiesen. Einige haben nach fünfzehn Proben immer noch nicht einfachste Grundregeln und -prinzipien verstanden, scheinen lernresistent zu sein. Ich erwäge, den Schulpsychologen zu befragen. Einer will immer noch beim Lagerfeuerlied Klavier spielen. Eine Mammut-Animiererin weiß immer noch nicht, wo auf der Bühne vorn ist, will ein Solo singen, kann den Text, die Melodie und den Rhythmus des schon zwanzig mal geübten Liedes nicht … So könnte ich weiter schreiben für noch weitere ca. 10 Kinder. Keiner hat die Hausaufgabe gemacht und sich eine „Mammut-Maske“ ausgedacht. Es erübrigt sich eigentlich zu erwähnen, dass immer nur wenige schwarz gekleidet kommen, kaum jemand seinen Schirm (wesentliches Requisit) dabei hat usw. Und jetzt?
Meine Schlussfolgerung: Ich überfordere offensichtlich die meisten. Und ich unterfordere offensichtlich gleichzeitig einige. Dieses Spagat schmerzt in Schritt und Kopf gleichermaßen. Was tun? Wie die hehre Absicht der theatralen Inklusion erreichen?
Der nächstliegende Gedanke: Ich verändere mein Verhalten, da ich ja offensichtlich keine Verhaltensänderung bei zu vielen Kindern bewirken kann, sprich: nicht den erwarteten Lernerfolg erreichen kann. Ihnen fehlt vermutlich – aktuell oder dauerhaft – das Potenzial dafür.
Was werde ich machen?
- Ich will vereinfachen, vielleicht das Stück von hinten her kürzen.
- Ich will die Rollen nun verteilen nach dem Kriterium: Wer hat welche Rolle bisher am besten ausgefüllt?
- Ich will eine Klasse zu einer Probe einladen und wir zeigen die ersten 5-10 Minuten.
Dreimal „Ich“; ein Ausdruck für meine noch sehr dominante Führung der Gruppe, noch weit weg von den ersten Schritten einer Selbstorganisation des Ensembles, vom Verantwortung-Übernehmen für den eigenen Lernprozess durch die Kinder. Grundschule scheint eben doch etwas Anderes als gymnasiale Oberstufe. Ich suche die Beratung durch meine Grundschulkolleginnen. Ach ja, die meisten haben mit meinem Theaterangebot zum ersten Mal Kontakt in ihrem Leben mit Theater. Vielleicht sollte ich das mehr bedenken.
15. Treffen
„Mein“ Theater fällt wieder mal – überraschend für mich – aus, weil „meine“ Klasse am Projekt „power-kids“ teilnimmt. Ich habe zwei Stunden daran teilgenommen und bin beeindruckt, wie eine Polizistin und ein Polizist seit fast 20 Jahren Kinder in Schulen aufklären und trainieren in Bezug auf (sexuellen) Missbrauch und dabei in vielfältiger Weise Theatermethoden einsetzen und Theater spielen, um die Kinder zu beeindrucken, anzuregen, zu unterhalten und zu informieren.
Der Klassiker: Kindertheater. Die beiden Trainer spielen, wie sich Übergriffe von Erwachsenen auf Kindern abspielen können. Der Polizist (auch Dozent an einer Ausbildungsinstitution für Polizisten) spielt einen übergriffigen Fremden. Der setzt sich im Bus neben seine Kollegin, die eine Viertklässlerin spielt, und betrachtet mit ihr ein Asterixheft. Er lehnt sich dabei sehr dicht an das Kind und legt einen Arm eng um seine Schultern. Das Kind zeigt Unwohlsein. Im anschließenden Gespräch arbeiten sie mit den Kindern die Szene auf und besprechen, wie Kinder entscheiden können, wann sich Erwachsene übergriffig verhalten: Wenn ihnen solch ein Körperkontakt unangenehm ist. Die Kinder sind hochaufmerksam.
Zweites Beispiel: Der Trainer berührt beim Sporttraining mit unredlicher Absicht den Hintern seiner Schülerin. Abwehr: Zu Hause mit den Eltern darüber reden. Den Vorfall zur Sprache bringen, auch im Sportverein oder dort, wo der Übergriff geschieht. Zwei Kinder berichten von ihren Erfahrungen im Turnverein, dass ihnen ein Aushilfstrainer beim Salto-Üben wiederholt hinten in die Unterhose gegriffen hat. Das wird jetzt ein Ermittlungsverfahren nach sich ziehen. Ich bin schockiert. –
Der Klassiker: Puppentheater. Ein Figurenmann nähert sich einem Figurenmädchen unsittlich. Das Mädchen lehnt die Übergriffe ab, sagt „Nein!“. Als der Mann nicht ablässt, schreit sie laut. Der Puppenmann flieht. Essenz: Sich die unsittliche Annäherung nicht gefallen lassen, sich wehren und laut schreien. Die Kinder sitzen vor dem „altmodischen“ Puppentheater und sind begeistert. –
Der Klassiker: Rollenspiel. Der Polizist spielt den Fremden mit den unredlichen Motiven, der die Kinder angeht und hält ein gepolstertes Schlagbrett vor sich. Die Kinder trainieren der Reihe nach laut verbal den Angriff abzuwehren, mit den flachen Hand hart zuzuschlagen, wegzurennen und Hilfe zu holen. Jedes Kind ist mit großem Engagement dabei. –
Zwischendrin gibt es recht lange Vortragsphasen auch über Paragrafen des Strafgesetzbuches, deren Bedeutung, Absichten, Wirkungen und Folgen. Trotzdem sind die Kinder bei der Sache, machen begeistert mit. Die Botschaft der Polizisten kommt an.
Die Gruppe, in der viele Kinder sich nicht sehr lange auf eine Sache konzentrieren können, sind erstaunlich aufmerksam. Selbst die unruhigsten stören im Vergleich zu anderen Unterrichtsstunden überraschend wenig. Liegt das nun an dem theatralen Methodenmix, am spannenden neuen Thema oder daran, dass im Raum nun das Verhältnis von Lehrern/ Trainern zur Anzahl der Schüler bei 1:5 liegt (die Klassenlehrerin und ich sitzen im Sitzkreis verteilt neben Kindern, mit verminderter Impulskontrolle und schreiten von Zeit zu Zeit ein) oder an allem?
Fazit: Das Lamento so mancher „Künstler“ oder „Theater-Didaktik-Wissenschaftler“, dass Theater nicht missbraucht werden dürfe für sogenannte Zwecke, erscheint nach solch einer Erfahrung als reichlich weltfremd. Sollte nicht eine Bestimmung von Theater genau in diesen „Zwecken“ liegen, nämlich Themen von Menschen zu verhandeln und eine Ästhetik des Menschlichen hervorzubringen?
16. Treffen – Erziehung/ Beziehung/ Verantwortung
Um die Spannung im Arbeitsprozess wieder etwas anzuheben werden wir mit etwas vereinfachter Dramaturgie weiterarbeiten und für die kommende Woche eine Parallelklasse als Publikum für eine „öffentliche“ Probe einladen.
Vorher werde ich diese Klasse persönlich einladen, vielleicht ein paar Kinder mitnehmen, und ihnen erklären, was sie erwartet: keine fertige Aufführung, sondern eine Probe, und welche Rolle sie dabei spielen. Sie sollen uns Feedback nach bekanntem Muster geben: Was hat ihnen gefallen und was wünschen sie sich noch von uns für die Weiterarbeit am Stück?
Die etwas vereinfachte Dramaturgie funktioniert etwas besser. Die Schüler haben allerdings noch kein Ensemblegefühl. Woher auch. Bei der geringen Anzahl Trainingsstunden.
Jetzt fällt besonders stark auf, dass es für Theaterarbeit unabdingbar ist, mit den Kindern anfangs eine vertrauensvolle Gruppen- und Beziehungskultur zu entwickeln und einen achtsamen Umgang miteinander einzuüben. Die extreme Ich-Bezogenheit vieler in der Klasse macht konzentrierte chorische Aktionen nur schwer möglich. Ansätze einer Selbststeuerungsfähigkeit sind noch nicht in Sicht und ich bin gezwungen sehr direktiv die Rolle des Regisseurs zu spielen, damit überhaupt ein Arbeitsprozess entsteht. Meine Grundschulkollegen bestätigen mir immer wieder, in dieser Klasse seien aber auch die meisten schwierigen bis sehr schwierigen Kinder (Gewalt zu Hause, soziale Verwahrlosung usw.).
Hier zeigt sich auch eine Crux derjenigen Theater-Lehrkräfte, die eher das Regie-Theater-Konzept verfolgen und damit die Selbststeuerungsfähigkeit der Gruppe klein halten bzw. eine Entwicklung verhindern, weil sie diese noch wenig oder gar nicht entwickelte Ensemble- und Teamfähigkeit als Vorwand nehmen, selbst die Regisseursrolle dauerhaft zu besetzen.
Ja, es ist zeitaufwändig und mühsam eine Gruppe und die darin agierenden Kinder zu einer Selbststeuerungsfähigkeit zu führen. Und bei dieser Arbeit stehen anfangs eher die dynamischen Gruppen- und Beziehungsprozesse im Vordergrund und noch nicht präzise ästhetische Gestaltungsziele. Aber das ist eigentlich eine Banalität für jeden sorgfältig ausgebildeten Menschen, der Lernprozesse induzieren will. Erst kommt die menschliche Komponente, dann die fachlich/ sachliche. Umgekehrt funktioniert es nicht so gut.
Das ist die Anfangsphase der mühsamen eher pädagogisch bestimmten Arbeit, der sich vermeintliche Künstler – nach meinen Erfahrungen – nicht gerne aussetzen wollen. Verständlich, haben die meisten doch davon recht wenig oder keine Ahnung, geschweige eine Kompetenz, Pädagogik und Kunst auf eine stimmige Weise zu verbinden. Sinnvolles und nachhaltig wirkendes Lernen ist eben ohne eine stabile Vertrauens-Beziehung bei Kindern (vermutlich bei Erwachsenen auch) kaum oder gar nicht möglich.
Beim nächsten Treffen werden wir zwei Stunden Proben.
17. Treffen – Erst das Team, dann der Inhalt
Die Arbeit mit dem Mammuttuch hat bisher noch nicht gut geklappt. Die Kinder können noch nicht zusammenarbeiten, einige werden schnell aggressiv zueinander bzw. verstehen nicht, was ihre Aufgabe in der Kooperation mit Anderen ist, können sich nur schwer oder gar nicht in ein Team einfügen.
Da heute die gesamte Doppelstunde für die Probe zur Verfügung steht und die Klassenlehrerin die ganze Zeit dabei ist, probe ich mit den neun Schüler, die das Mammut entstehen lassen, und sie bastelt mit den Anderen mit einfachen Mitteln wie Fensterdicht- und Klebeband metaphorisch/ symbolische Maskenzeichen.
Wir machen eine Durchlaufprobe. Es funktioniert nur einigermaßen und mit sehr strenger, enger und lautstarker Führung. So habe ich mir das Theaterspielen mit Kindern nicht vorgestellt. Immer wieder habe ich das Gefühl, einige Kinder sind geistig gar nicht anwesend, leben in einer anderen Welt (Computerspiele?), sind kaum kommunikationsfähig, können einfachste Anweisungen, gehe von hier nach da, nicht umsetzen, in der vierten Klasse mit 10, 11 bzw. 12 Jahren.
Und gleichzeitig kommt es zu nahezu philosophischen Small-talks mit einigen Schülern, was denn nun Theater eigentlich ausmacht. Nachdem wir einige Facetten unserer Arbeit beleuchtet haben, und warum das Feuer aus roten Kleidungstücken, das Mammut aus sieben Schülern mit Schirmen und einem schwarzen Tuch bestehen kann usw. erklärt mir ein Junge: „Herr List, Theater ist … also wenn man es genau nimmt … ein realer Traum.“ Ich bin platt.
Nächste Stunde haben wir eine Parallelklasse zu Gast. Sie schaut sich an, was wir bisher geschafft haben, eine quasi „öffentliche Probe“. Wir werden Feedback erbitten. Ich bin gespannt, ob die Anwesenheit des Publikums einen konstruktiven Einfluss auf unsere Arbeit hat.
Nachdenken
In der vierten Klasse erst mit Theater zu beginnen, ist eigentlich schon zu spät. Kinder lernen schon ab zwei Jahren spielerisch die Grundregeln der zweiten Welt. Diese sehr früh von Kindern entwickelte Kompetenz sollte unbedingt in Schulen gepflegt und Impulse zur Weiterentwicklung gegeben werden. Theater kann das in besonderem Maße. Diese Grundregeln des Spiels sind nichts Anderes als die Grundregeln eines kulturellen Miteinanders. Wie das konkret aussehen wird, geben die jeweiligen Erwachsenen vor. Leben sie Individualismus, Egozentriertheit, Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Gewalt vor, werden Kinder auch eine solche Kultur entwickeln. Schule sollte die Chance nicht vertun und hier durch entsprechende Impulse ein Kulturmodell anbieten, das sich durch Gemeinschaft, Empathie, Fürsorge, Achtsamkeit auszeichnet.
Am Rande
Da ich seit den 1990er Jahren Führungskräfte in Wirtschaftsunternehmen und Organisationen coache, erhalte ich zuweilen tiefere Einblick in die Psyche und die Lebensverhältnisse meiner Klienten und sogenannte systembedingte Verhältnisse. Eine obere Führungskraft, die dem Vorstand eines sehr großen Unternehmens berichtet, lehnte einen Terminvorschlag des Vorstandes für eine nächstes Treffen ab. Ein No-Go. Als Begründung teilte die Führungskraft dem Vorstand mit, dass sie zu dem besagten Termin bei der Graduation-Feier ihrer Tochter sei.
Im vertraulichen Gespräch nach dem Meeting gestand der Vorstand, dass er noch bei keiner Graduation-Feier seiner Kinder gewesen sei. Man stellte fest, dass das ein Grund sei, warum der eine Vorstand ist und der Andere nicht. Und warum einer von beiden eine Familie und Beziehungen hat und der Andere nicht. – So viel zum Thema Erziehung, Beziehung und Verantwortung.
Und noch was zum Wochenende! Ich freue mich, dass ich Nadine Petry als Schülerin im Theaterunterricht hatte und darüber, was sie daraus u.a. gemacht hat > https://vimeo.com/32272206?ref=fb-share
18. Treffen
Wir hatten eine Parallelklasse eingeladen, sich anzuschauen, was wir bisher erarbeiteten haben.
Das anschließende Feedback im großen Sitzkreis war eindeutig: Der Anfang, an dem wir schon viel gearbeitet und den wir entsprechend oft geprobt hatten, funktionierte prima.
Aber dann begann es zu Stocken, es wurde zäh, die wenigen Texte waren oft nicht parat, das Lied am Schluss mussten wir sogar unterbrechen, weil niemand den Text vollständig konnte. Aber sonst …
Erstaunlich war der Schub an Disziplin, den die Gruppe durch die echten Zuschauer erfahren hat. Es ist nun absehbar: Wir schaffen das. Und unser Stück wird Eindruck machen. Vermutlich wird kaum einer erwarten, dass diese besondere Klasse sowas hinkriegt.
In den nächsten Stunden ist Textlernen angesagt durch häufige Durchlaufproben, damit jeder weiß, wann er dran ist.
Ich bin dann doch recht zufrieden.
Inzwischen beginnt die Suche nach Theaterpädagogen, die am kommenden Forschungsprojekt mitarbeiten wollen. Die beteiligten GrundschulkollegInnen sind schon ganz heiß auf das Projekt, das sie ganz stark aus der Perspektive ihrer eigenen theatralen Qualifizierung und der Verbesserung des Lernangebote für ihre Schüler sehen.
19. Treffen
Wir haben uns das Feedback zu Herzen genommen und uns ans Textlernen gemacht.
Ich hatte schon nach der „öffentlichen“ Probe eine verantwortungsbewusste Schülerin gebeten, die jeweils in der ersten Stunde unterrichtende Lehrerin zu fragen, ob die Klasse als Tageseröffnung gemeinsam das Lagerfeuer-Lied singen dürfe.
Das hat funktioniert und die Schüler berichten mir stolz davon.
Bei dem Lagerfeuer-Lied ist das Üben des immer Gleichen relativ einfach. Wir singen es immer wieder und es wird nicht langweilig, weil das gemeinsame Singen einfach(!) Spaß macht, weil es körperlich ist, weil es gemeinschaftstiftend ist, weil es Ritual ist. Die Erfolge werden sichtbar. Die anfangs sehr zaghaften Stimmen der Soloparts werden kräftiger. Kinder mit noch wenig Selbstbewusstsein treten jetzt zu zweit auf. Pointierungen im Text werden deutlicher und körperlich sichtbarer angezeigt.
Die Sprechtexte und ihre richtige Abfolge in der Dramaturgie üben wir auf folgende Weise im Klassenraum. Jeder sitzt auf seinem Platz. Da die Schüler, bevor sie ihren Sprechtext sagen, aufstehen und einige Schritte auf der Bühne bis zur Rampe gehen und einen Schirm zusammenfalten müssen, sind die Pausen zu lange. Also bitte ich sie, bereits aufzustehen und loszugehen, wenn der Sprecher vor ihnen seinen Text beginnt, und dies durch Gehen auf der Stelle und pantomimisches Zusammenfalten des Schirmes körperlich zu zeigen. Bis auf einige, die meistens Schwierigkeiten haben, sich in der Gruppe zu orientieren, machen es alle richtig.
Diese neue Übungsform macht Spaß und es gibt wieder Gelegenheit einem wichtigen Prinzip beim Theaterspielen zu huldigen: Sich gegenseitig zu helfen, zu soufflieren, zu unterstützen (> Fehlerkultur).
Die Schüler haben inzwischen auf eigene Wünsche mehrfach ihre Rollen getauscht.
Ich staune. Die Textzeile eines kleinen vom Mammut bedrohten Wilden „Friss mich nicht! Ich bin doch ganz mager!“ wird nicht mehr von dem kleinsten dünnsten Mädchen gesprochen, sondern von dem größten schwersten Jungen. Sie können mit Verfremdung und Ironie umgehen.
Wir haben noch ein paar Minuten Zeit bis zur Pause und ich ziehe wieder ein paar Moderationskarten mit Fachbegriffen und halte sie hoch. Einige Schlauberger erkennen, was auf der Rückseite der Karten steht (die Lösung). Aus dem wiederholenden Lernen (Üben) und Erinnern der Fachbegriffe ist mittlerweile ein lustiges (Übungs-)Spiel geworden. Wer es weiß, kommt dran. Wer es (noch) nicht weiß, ist nicht blamiert (> Fehlerkultur) und hört wiederholt die richtige Lösung. Es melden sich jedes Mal mehr. Kaum etwas ist motivierender als die Lust am eigenen Erfolg. Vgl. dazu auch Zierer.
Brigitte Röder verweist in ihrem Beitrag „Wenn das Gehirn sich formen lässt“ darauf, dass vermutlich „während bestimmter Lebensphasen spezifische Erfahrungsmöglichkeiten gegeben sein müssen, damit sich eine Funktion voll entwickelt.“ (30) Sie spricht dabei von sogenannten sensiblen Phasen. „Sensible Phasen in der Entwicklung bedeuten aber in erster Linie auch, dass, wenn bestimmte Lernmöglichkeiten in der frühen Entwicklung fehlten, neuronale Systeme und assoziiertes Verhalten sich nicht mehr vollständig entwickeln können. Das heißt, dass für eine typische Entwicklung typische Lernumwelten zu einem bestimmten Zeitpunkt unabdingbar sind.“ (31)
Damit kommt dem frühkindlichen Lernen und frühkindlichen Lernumwelten die entscheidende Bedeutung zu, da sie „entscheidenden Einfluss auf das spätere Leistungs- und Lernpotential haben. Demnach potenzieren sich Investitionen in die frühkindliche Entwicklung mit jedem weiteren Lebensjahr. Wird während sensibler Lebensphasen die strukturelle und funktionelle Ausformung von neuronalen Systemen nicht ‚angestoßen’, etwa durch ungünstige Umwelten, kann dies während späterer Entwicklungsphasen nicht mehr vollständig nachgeholt werden. Kompensationsmaßnahmen sind dann mühsam, zeitaufwändig und damit kostenintensiv. Aus ökonomischer Sicht ist damit die frühkindliche Entwicklung mit ihren sensiblen Phasen für die Lebensqualität von Menschen und für den Wohlstand einer Gesellschaft von besonderer Bedeutung.“ (33) Vgl. auch Roth.
Wie viel kann eine Lehrkraft demnach in der vierten Klasse bei Kindern im Alter von 9-13 Jahren überhaupt noch bewirken?
Weiterführendes
- Röder, Brigitte (2016): Wenn das Gehirn sich formen lässt. In: Madeja, Michael/ Müller-Jung, Joachim (Hg)(2016): Hirnforschung – was kann sie wirklich? Erfolge, Möglichkeiten und Grenzen. München: Beck: 27-35
20.-23. Treffen
Nachdem die Dramaturgie unseres Erzähltheaterstückes im Wesentlichen steht, heißt es nun Feinarbeit und wiederholbar machen. Also schauen, an welchen Stellen ist gestalterisch – mit dieser Lerngruppe – noch etwas möglich im Sinne einer Verfeinerung des ästhetischen Ausdrucks. Es ist meist eine Wanderung auf einem schmalen Grat, das richtige Maß an Herausforderungen zu finden, insbesondere in einer sehr heterogenen Klasse wie dieser.
Der zweite Schwerpunkt liegt darauf, den Ablauf und die Exaktheit des Spiels zu üben, damit sich alle sicher fühlen und die Aufführung keine holprige Aneinanderreihung von Einzelfragmenten wird, sondern das Stück vom Publikum als eine stimmige Komposition im Sinne eines ästhetischen Gesamtausdrucks wahrgenommen werden kann.
Nur mal zur Erinnerung: Theater soll unterhalten. Es soll beeindrucken. Und es soll auch informieren und anregen.
Wir proben im Schnitt eine Stunde dienstags und eine freitags in den regulären Deutsch- bzw. Sachkundestunden.
Damit es nun nicht langweilig wird, erprobe ich mit den Kindern den Baukasten theatraler Möglichkeiten. Rollen und Figuren seine Erweiterungs- und Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Zusammenhängen und zu verschiedenen Zwecken. Der Baukasten ist im Grunde nur eine Hülle, eine Struktur, ein Muster, der beispielhaft gefüllt ist. Seine eigentliche Leistung besteht darin, für alle möglichen theatralen Situationen Gestaltungsanregungen bereitzuhalten, da jede Theatergruppe diese Form mit ihren eigenen Inhalten befüllen kann. So haben wir es für unseren Fall auch gemacht. Farbige Kärtchen geschnitten und mit unseren Ideen beschriftet (siehe Foto!).
Die Arbeit nach dem Baukastenprinzip ist eine vollkommen andere Arbeits- und Vorgehensweise, also etwa Neues für die Kinder, zweitens gewinnen sie ein bisschen Distanz zu den Proben und können wieder selbst gestalterisch aktiver agieren.
Nachdem ich die Arbeitsweise mit dem Baukasten kurz erläutert habe, lasse ich je eine Rollenkarte von zwei Spielern ziehen und bitte sie pantomimisch etwas zu machen, was die Rolle typischerweise tut (Klischee).
Nach einer Weile sollen die beiden Spieler in ihren Rollen Kontakt miteinander aufnehmen und ein bisschen zusammenspielen. Anschließen dürfen die Zuschauer raten, welche Rollen gespielt wurden.
Den Schülern macht es großen Spaß und wir versprechen, nochmals mit dem Baukasten zu spielen.
Zum Abschluss singen wir wieder das Lagerfeuer-Lied. Diesmal wippt ein Mädchen im Rhythmus mit den Hüften und ich bitte alle, diesen Hüftschwung nachzumachen.
Schnell entwickelt sich daraus eine Bewegungsabfolge in drei Schritten, während der drei letzten Strophen: Drittletzte Strophe: Hüftwippen. Zweitletzte Strophe: Im Rhythmus Arme in die Luft strecken. Letzte Strophe: Arme schwenken und bei der Schlusszeile in Zeitlupe auf den Boden sinken und einschlafen. Anschließend Applausordnung.
Die folgenden Proben verlaufen ähnlich.
Wir spielen wieder mit dem Baukasten. Diesmal haben wir als Rollen die Agierenden unseres Erzähltheaterstückes, ihre Motive und Eigenschaften und Orte, wo sich die Geschichte ereignet bzw. ereignen könnte, auf Karten notiert und weitere eigene Ideen eingebracht (siehe Foto oben!).
Diesmal geht es nicht darum zu raten, wer welche Rolle spielt, sondern zu schauen, wie sich das Spiel entwickelt. Dabei wird der Inhalt der Erzählung, die Figurenkonstellation spielerisch noch weiter aufgefächert und vertieft.
In jeweiligen Nachgesprächen wird der Begriff Status eingeführt, weil sich zeigte, dass im Spiel oft jeder Recht haben und behalten wollte, diese Haltung aber zu einer Blockierung des Geschehens und letztlich zur Langeweile führt.
Wir sammeln weitere Figuren, die in den Geschichten der kleinen Wilden, eine Rolle spielen könnten, und notieren sie ebenfalls auf Karten, mit denen wir unseren Baukasten anreichern.
Aus dieser Arbeit entstehen zahlreiche Ideen der Kinder, die sie zur Entwicklung komplexerer Handlungsstränge und Dramaturgien anregen.
Der Theaterfunke ist bei den meisten übergesprungen. Man muss bedenken, die meisten haben noch nie etwas mit Theater zu tun gehabt.
En passent. „Rollenspiel macht schlau“ titelt die Zeitschrift „Psychologie“. Heft Juli/ August 2016 auf Seite 13. Bezug ist der Artikel „The effects of fantastical pretend-play on the development of executive functions. In: Journal of Experimental Child Psychology, Mai 2016. Darin berichten Wissenschaftler über eine Studie mit Kindergartenkindern und die bessere Potenzialentfaltung derjenigen Vergleichsgruppe in unterschiedlichen Lernfeldern, je kreativer ihr Spiel war.
Weiterführendes
24. Treffen – Feinschliff, sicher werden, Ritual
Wir arbeiten noch daran,
- dass alle angemessen laut sprechen und deutlich artikulieren
- dass zwischen den einzelnen Auftritten der Kinder keine ungewollten, sondern nur dramatische Pausen den Ablauf gliedern
- dass alle fokussiert sind und das tun, was abgesprochen ist
- dass Aktionen noch feiner ausgestaltet werden und präziser durchgeführt werden
- dass bei Texthängern nicht mehr gestöhnt wird und abfällige Bemerkungen den Fortgang verhindern, sondern immer durch partnerschaftliches Soufflieren geholfen wird
- dass alle das Feedback-Ritual einhalten.
Das Eingangsritual mit Sitzkreis und Instruktion klappt immer besser. Der Kreis nähert sich mehr und mehr einer runden Form. Die Schüler kommen schneller zum Schweigen.
Nicht verschweigen möchte ich, dass ich dieses Verhalten von allen in sehr strenger autoritativer Form einfordere und durchsetze. Der Freiraum, in dem sich die Kinder später kreativ-konstruktiv entfalten, muss zuerst geschaffen werden. Das ist die Aufgabe der Theater-Lehrkraft.
Die Schüler müssen erst die Erfahrung machen, dass jeder tatsächlich zu Wort kommt und auch gehört wird. Jeder Beitrag sollte ab einem bestimmten Fortschritt der Inszenierung entsprechend seiner Qualität bewertet werden in der Spanne zwischen konstruktiv für die Weiterarbeit der Gruppe (mit Begründung natürlich) und belanglos bis störend. Schüler brauchen diese klare Orientierung, damit sie ein Wertemuster, einen Wertekanon entwickeln können, sonst verliert sich ihr künstlerisches Engagement im ziellosen Ausprobieren und beliebigen Herumwerkeln.
Als Aufwärmen machen wir heute die Übung „Gemeinsamkeiten“ im Kreis. Die Spielleitung nennt unterschiedliche Kriterien, z.B. schwarze Haare, Geburtstag im Sommer usw. Die jeweils Betroffenen gehen in die Mitte, fassen sich an den Händen und stoßen gleichzeitig/ chorisch – ohne dass jemand ein Zeichen gibt – den Kampfschrei aus, den wir in unserem Stück an verschiedenen Stellen eingebaut haben. Ich insistiere auf präziser Umsetzung der Anweisung. Nach einer Weile hat das Ganze schon eine gewisse Ästhetik, weil eine Gestaltung deutlich sichtbar wird.
Damit daraus kein Pauken wird, kein stumpfsinniges Üben, variiere ich die Kriterien und baue mehr und mehr auch Kriterien aus unserem Stück ein: Wer spielt das Mammut? Wer singt beim Lagefeuerlied solo? Wer hat heute immer gut aufgepasst? Alle rennen in die Mitte. Ich schimpfe laut los: Lügner! und muss lachen. Allgemeine Heiterkeit.
Zur Vorbereitung auf die nun folgende Durchlaufprobe bitte ich alle, den Finger auf den Mund zu legen, die Augen zu schließen und sich die Abfolge unseres Stückes langsam durch den Kopf gehen zu lassen.
Das Ritual als gemeinschaftsstiftende Aktion gibt jedem eine Grundsicherheit in der Gruppe, die ihn fühlen lässt, gleichrangiger und gleichberechtigter Teil zu sein. Diese Gleichheit ist keine formale Gleichheit. Sie wird sich – je länger ein Ritual entsprechend praktiziert wird – qualitativ füllen. Den Stimmen, die häufig konstruktive Anregungen für das Arbeitsziel der ganzen Gruppe machen, wird mehr Gewicht beigemessen als anderen. Eine Kultur der Diskursivität wird angestrebt. Das beste Argument sticht. Und keiner bleibt auf der Strecke.
All das macht eine lebendige Kultur aus. Theater hat darin einen festen Platz, weil es eine Ahnung der künftigen Freiheit vermitteln kann, weil es eine Welt aufbaut, in der gezeigt werden kann, wie es wäre, wenn …, weil es eine zweite Welt entwirft, die auf die erste zurückwirken kann.
25. Treffen – „Über“-Proben und Schminkmasken
Was mache ich mit meiner Theaterklasse, wenn der Arbeitsprozess gut geplant war zwischen dem Anvisiert-möglichen und dem tatsächlich mit dieser Gruppe Machbaren, zwischen Unter- und Überforderung, zwischen dem Aufbau theatral-handwerklicher Kompetenzen und dem Anspruch von Kunstproduktion, und wir haben noch eine gewisse Zeit bis zur Aufführung zu überbrücken?
Ich weiß, das ist die Ausnahme. Zumeist habe ich erlebt, bei mir in meiner Anfangszeit als Theaterlehrer und vielen anderen Spielleitern, dass es am Ende immer zeitlich eng wurde. Ich habe versucht aus diesen vielfachen Erfahrungen zu lernen.
Der Stress am Ende eines schlecht geplanten Arbeitsprozesses ist ungesund. Ein Zuviel an Adrenalin fördert auch nicht gerade Kreativität und Fantasie, im Gegenteil. Wer Stress hat, macht Fehler. Das ist nicht zu verwechseln mit der häufig geäußerten Forderungen, Kunst müsse Scheitern einkalkulieren. Das ist eher die Unfähigkeit, einen Arbeitsprozess zu strukturieren.
In der Regel haben Künstler und solche, die sich dafür halten, nach meinen Erfahrungen auch wenig Kompetenz in Bezug auf Prozessmanagement. Dieser Mangel wird gerne mal schöngeredet mit Euphemismen wie „der künstlerische Prozess ist kein gradliniger, sei unkalkulierbar, müsse offen bleiben“ und anderen Worthülsen, gerade so als ob das irgendwie alles doch ein bisschen beliebig sein müsse, um Kunst zu sein. Und dabei wird auch ganz gerne mal verschwiegen, dass es gravierende Unterschiede zwischen professionellem künstlerischen Arbeiten und Darstellendem Spiel als Unterrichtsfach bzw. Lernsetting gibt.
Die verbleibende Zeit bis zur Aufführung mit weiteren Proben zu verbringen, lässt die Energie dafür sinken. Es fehlt die Herausforderung. Die Unlust steigt. Wie kann ich dieses „Über“-Proben umgehen?
Es muss etwas Neues her, eine neue Herausforderung. Aber dieses Neue sollte natürlich etwas Anderes sein als das Stück. Es sollte in irgendeiner Form eine Distanz zum Stück erzeugen und doch gleichzeitig helfen, aus dieser Distanz heraus sich dem Stück mit neuer Energie, tieferem Verständnis, neuer Lust an der Gestaltung zu nähern – Systole und Diastole, nah und fern. Erst aus diesem Wechsel entsteht neuer Reiz, neue Inspiration, neue Herausforderung.
Als Aufwärmen machen wir wieder die auf das Stück hin veränderte Übung „Mammut, Eisberg, Vulkan.“ Diesmal achte ich noch mehr auf eine genaue körperliche Umsetzung der Bilder. Auch soll nun die Geschwindigkeit gesteigert werden.
Als zweite Übung erläutere ich die Übung „Katze und Maus“, die ich nun in „Wilder und Mammut“ umbenannt habe (vgl. 1.1.48 Katze und Maus > 600 Theaterübungen).
Während der Proben wurden häufig die Rollen getauscht, es gab erst sehr spät eine Festlegung, wer bei der Aufführung welche Rolle übernimmt, um eine allzu frühe Fixierung zu verhindert, bei der automatisch das Interesse am anderen Geschehen erlahmt.
So bleibt es auch z.B. bei der Applausordnung offen, wer in der Mitte stehen und die Verantwortung für das Gleichzeitige Heben der Arme übernehmen wird.
Auch erlaubt ein langes Offenhalten der Rollenfestlegung und gegebenenfalls häufiger Rollentausch beim Ausfall eines Schülers, diesen schnell zu ersetzen. In ähnlicher Weise haben die Schüler gelernt durch Soufflieren ihrem Spielpartner zu helfen, falls er steckenbleibt. Wenn man bei den Proben genau hinschaut, sieht man in den Gesichtern von Schülern insbesondere an der Mundpartie, dass sie phasenweise ganze Textpassagen (anderer Schüler) als inneren Monolog mitsprechen, 100% präsent sind und jederzeit soufflierend helfen können und das auch tun.
Die Übung „Wilder und Mammut“, bei der ein schneller Rollenwechsel nötig wird, hat eine hohe Trennschärfe. Es wird dabei für jeden offensichtlich, wer in der Lage ist, schnell umzuschalten, die neue Rolle anzunehmen und gemäß ihrer Motivation – der Wilde muss das Mammut fangen, das Mammut muss sich in Sicherheit bringen – entsprechend zu agieren.
Ich lasse die Schüler anfangs – wie bei allen Übungen – zunächst sehr langsam agieren, damit alle die Chance haben, die Umsetzung der Regeln zu sehen und sich darin zu erproben. Nach und nach wird das Tempo gesteigert. Es zeigt sich deutlich, wer die Perspektive wechseln kann, eine Voraussetzung für Empathie, und innerhalb des Ensembles seinen Platz findet.
Da die Gruppe sehr heterogen ist, kommt der Spielverlauf selbst bei geringem Tempo häufig ins Stocken, weil oft einigen Schülern nicht klar ist, welche Rolle sie spielen sollen und welche Rolle die Spielpartner spielen.
Hier zeigen sich deutlich die Grenzen für einige Kinder, einen theatralen Prozess zu verstehen und entsprechend zu handeln. Sie sind überfordert. Die notwendigen Abstraktionen, die einen theatralen Prozess ausmachen, können sie nur bedingt oder gar nicht leisten. Es bleibt für sie beim einfachen Spiel. Sie durchschauen die für sie schon zu komplexe dynamische Situation eines einfachen Rollentauschs nicht.
Hier hat Inklusion ihre objektiven Grenzen. Theatrale Arbeit ist dann nicht möglich. „Das ‚Mehr als’ des aus den verschiedenen Absichten und Begebenheiten herausgesprengten ästhetischen Moments ist der heimliche Motor allen theatralen Lernens. […] Handwerk, Kunstfertigkeit und guter Wille werden sich an diesem ‚Mehr als’ messen lassen müssen, auf dem ein jedes ‚Spielprinzip’ sich gründet, ohne das eine Inszenierung zum Kunsthandwerk verkommt.“ (Wiese u.a.: 16)
Eine dritte Übung zeigt auch eine entsprechende Trennschärfe, die die Benotung der Leistungen der Schüler für alle transparent macht. Ich bitte die Schüler nacheinander in die Kreismitte zu gehen und folgendes Muster einzuhalten: „Ich heiße [Name der Kindes] und spiele die Rolle des [Rollennamen, z.B. Mammut, Erzähler, kleiner Wilder …] und ich habe folgenden Sprechtext [Sprechtext]“, dabei reihum mit allen Kindern Blickkontakt aufzunehmen. –
Ein Beispiel sei abschließend beschrieben, wie wir das „Mehr-als“ versuchten zu realisieren in Bezug auf die Gestaltung des sekundären theatralen Mittels „Maske“.
Welche Maskengestaltung unterstützt das Lernziel, dass Theater keine Versuch einer 1:1-Abbildung der Wirklichkeit auf der Bühne ist?
Die Klassenlehrerin hat Kunst studiert. Sie hat versucht sehr einfache Schminkmasken zu entwerfen, die nicht jedem Zuschauer auf Anhieb zeigen: „Aha, dieser Schüler stellt ein Mammut dar und jener soll ein kleiner Wilder sein.“ Das wäre Rollenspiel, nennen wir es eine Vorstufe zu Theater, angelehnt an das Konzept des Naturalismus.
Ziel der auch schnell herzustellenden Schminkmasken soll eine gewisse Unbestimmtheit sein, die Assoziationsräume eröffnet, Fantasie anregt, keine Eindeutigkeit vorgibt, neugierig macht darauf, was dahinter steckt.
Nur die sogenannten Leerstellen in der Kunst, die der Betrachter selbst ausfüllen kann, ziehen ihn in das Werk hinein. Das Fremde muss als Unverstandenes einen Reiz ausüben, der als Herausforderung vom Publikum angenommen werden kann. Zu viel Fremdheit (Unwissen und Unerfahrenheit) macht vielen Angst und stößt sie ab. Fremdheit mit dem Lockruf „Mit ein wenig Offenheit und ein bisschen Mühe wirst du etwas Neues kennen und verstehen lernen, vielleicht auch nur als Vielfalt respektieren können!“ bietet die Chance auf Auseinandersetzung und Zusammenführung von bereits Verstandem und noch nicht Verstandenem. Ambiguitätstoleranztraining eben.
Das ist ein Reiz von Kunst als kulturelle Bildung.
Statt weiterer Worte, einige Bilder.
Weiterführendes
- List, Volker (2017): Theater und Darstellendes Spiel in der Praxis. Band 1. Erzähl-theater. Unterrichtsanregungen 3./ 4. Klasse. Hüttenberg: Angewandte Theaterforschung
- Wiese, Hans-Joachim/ Günther, Michaela/ Ruping, Bernd (2006): Theatrales Lernen als philosophische Praxis in Schule und Freizeit. Uckerland: Schibri > Rezension