Theater-Unterricht und -pädagogik fördern Potenzialentfaltung von Menschen
In der Literatur wird manchmal behauptet, man dürfe die Kinder nicht in die Schule schicken, dürfe sie nicht erziehen und soll die Kinder weitgehend in Ruhe lassen, das käme ihrer Potenzialentfaltung entgegen. Begründung: Alle Kinder seien hochbegabt.
Aber: Nicht nur Lebenserfahrung bestätigt, dass nicht alle Kinder „hochbegabt“ sind und sein können. Nicht einmal alle Anlagen eines Menschen können sich beim Aufwachsen voll umfänglich entfalten, da sie sich dabei gegenseitig behindern und begrenzen. Deshalb spezialisiert sich der Mensch auf die Entfaltung nur einiger Anlagen.
Hat ein Mensch das Potenzial für Muskelwachstum und gleichzeitig die Anlagen für eine Sensorik im feinmotorischen Bereich, womöglich noch das Potenzial, komplex, vernetzt und kreativ zu denken, so kann er nicht das gesamte Potenzial zur vollen Entfaltung bringen. Es ist schwer vorstellbar, dass ein muskelbepackter Turner, Schmied, Gewichtheber oder Eisenbieger gleichzeitig seine feinmotorischen Anlagen als Uhrmacher, Pianist oder Chirurg voll entfalten und/ oder/ außerdem zum anerkannten Romancier avancieren kann.
Wir kennen das Phänomen von Multitalenten lediglich als Ausnahmeerscheinung. Aber auch diese Menschen mit deutlich mehr Potenzialentfaltung als bei sog. Durchschnittsmenschen können vermutlich nicht alle Anlagen, mit denen sie ausgestattet sind, gleichermaßen entfalten.
Ein Zehnkämpfer z.B. hat eine recht ausgewogene Entfaltung mehrerer Talente, wird sich aber niemals gleichzeitig mit Sportlern messen können, die einzelne ihrer Potenziale sehr viel mehr trainiert haben, wie beispielsweise Sprinter oder Kugelstoßer. Rein äußerlich sieht man das auch an ihrer Statur, an ihrer Physis.
Musiktalente, werden niemals alle Musikinstrumente in gleicher Weise beherrschen gegenüber der Entwicklung ihres Potenzials bei nur wenigen oder einem Instrument.
Die Spezialisierung ist eine natürliche Entwicklung, denn zur Entfaltung von Anlagen gehört außerdem das Training und das Üben. Allein das braucht viel Zeit und diese ist begrenzt. Deshalb ist das entfaltete Potenzial zwangsläufig immer kleiner als das entfaltbare Potenzial; auch unter optimalen Bedingungen.
Nun kommt theaterpädagogische Arbeit ins Spiel. Sie kann ein sehr breites und ausgewogenes Portfolio für Potenzialentfaltung für Menschen anbieten. Aber auch hier kommt es natürlicherweise zu Schwerpunktsetzungen bei den Schülern in ihrer Potenzialentfaltung. Manche fühlen sich mehr zum Spielen und Darstellen hingezogen, andere mehr zu dramaturgischer Arbeit, zum Regieführen oder zur Techniksteuerung, je nach vorhandenem und verfügbarem Potenzial.
Theater-Pädagogik und Theater-Unterricht haben die Aufgabe, ihre Schüler in möglichst viele Tätigkeitsfelder zu führen und ihnen eine breite Palette inspirierender und motivierender Angebote zu machen, damit sie erproben können, in welchen Bereichen sie überhaupt Potenzial besitzen und sie selbst bzw. mit entscheiden können, welche Anlagen sie in welchem Umfang entwickeln und trainieren wollen. Erfahrungen der Selbstwirksamkeit helfen ihnen dabei. Und am Ende muss sich der Lehrer überflüssig gemacht haben, das ist die Bestätigung für eine gelungene Bildung. „Ich bedarf deiner nicht mehr!“ (August Herrmann Niemeyer).
Entfaltbares Potenzial eines Menschen
Welche Aufgaben und Impulse unterstützen die Potenzialentfaltung?
Wir stellen uns am ehesten einer Aufgabe, einer Herausforderung, wenn wir das Gefühl haben, sie meistern zu können. Gegen Widerstände, von denen wir glauben, dass wir sie nicht überwinden können, werden wir nicht kämpfen.
Die Hoffnung auf eine erfolgreiche Bewältigung einer Aufgabe spornt uns an, ist doch damit auch meistens eine Anerkennung in irgend einer Form verbunden. Wir Menschen lechzen nach Anerkennung. Wir wollen wahrgenommen werden. Das erreichen wir, in dem wir Dinge tun, die die Aufmerksamkeit der Anderen auf uns lenkt.
Mit der Zuwendung sind auch meist Lob und Tadel verbunden. Sie geben eine Richtschnur für zukünftiges Verhalten. Es sollte wohl dosiert sein. Der Vergleich mit anderen, der Wettkampf ist eine natürliche Quelle der Motivation und auch Werkzeug zum Abgleichen von Selbst- und Fremdbild. Unstrittig ist aber, dass kooperatives Lernen einen deutlich höheren schulischen Lernerfolg hervorbringt.
Im Abgleich mit dem Anderen in der gemeinsamen Arbeit liegt ein Schlüssel für Erfahrungen von Selbsteinschätzung und Selbstwirksamkeit. Selbsteinschätzung und Selbstwirksamkeitserfahrung sind zentrale lernfördernde Kategorien (vgl. Zierer: 47f).
Die Lehrperson – so Hattie – muss die Fähigkeit haben, aus dem Weg zu gehen, wenn das Lernen sich den Erfolgskriterien nähert. Dies sei allen in Erinnerung gerufen, die als Theater-Lehrkräfte immer noch, gegen alle didaktischen Erkenntnisse, für sich beanspruchen, am Ende eines Theaterprojektes letzte Hand an die gemeinsame Produktion anzulegen, um es nach ihrer Meinung aufführungsreif zu machen. Sie wollen die Verantwortung nicht aus der Hand geben. Dies führt zwangsläufig zu einer Einschränkung der potenziellen Selbstwirksamkeitserfahrung bei den Schülern. Es ist eine nachgeschaltete partielle Entmündigung. Die Schüler erhielten im gemeinsamen Prozess mit der Lehrkraft demnach von der Lehrkraft nicht die Lern-Chance, das Stück für alle zufriedenstellend zu erarbeiten. Dies wäre letztlich die Bestätigung des Scheiterns des vorher gelaufenen theaterpädagogischen Prozesses.
Sachser beschreibt die Bedeutung der Herausforderung bei der Entstehung von Theaterspielflow: „Theaterspielflow kann in jeder Schaffensphase sowohl von unerfahrenen Spielern als auch von professionellen, erfahrenen Schauspielern erlebt werden, so lange abbaubare Unsicherheit vorhanden ist. Alles Ungewohnte und Unbekannte, neue Problemstellungen, die Erhöhung des Schwierigkeitsgrades, situativer Wettbewerbscharakter, Momente der Überraschung, der Unberechenbarkeit, des Risikos etc. bergen unsicherheitsbildende Potenziale. Diese dienen jedoch nur dann der Entstehung und Aufrechterhaltung von Theaterspielflow, wenn die damit verbundenen Herausforderungen als bewältigbar erlebt werden und die daraus resultierenden Anforderungen dem individuellen Fähigkeitsgrad entsprechen.“ (89)
Weiterführendes
- Sachser, Dietmar (2012): Theaterspielflow. Flow als ein künstlerischer Gestaltungsmodus an der Nahtstelle von Theoriebildung und Praxis der Theaterpädagogik. In: Nix, Christoph u.a. (Hg) (2012): Theaterpädagogik. Lektionen 5. Berlin: Theater der Zeit Verlag: 82-92 > Rezension
- Zierer, Klaus (2014): Hattie für gestresste Lehrer. Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen aus John Hatties „Visible Learning“ und Hatties „Visible Learning for Teachers“ Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren > Rezension