Zierer, Klaus 2014: Hattie für gestresste Lehrer. Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen aus John Hatties „Visible Learning“ und Hatties „Visible Learning for Teachers“ Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 133 Seiten – Rezension
Zierer will eine einfache Einführung in das Werk von Hattie – einen Meilenstein in der empirischen Bildungsforschung – geben, seine Kernbotschaften vermitteln und daraus abzuleitende praktische Konsequenzen für die alltägliche Arbeit von Lehrpersonen beschreiben.
Inhalt
Vorwort von Mathias Brodkorb
»Auf den Lehrer kommt es an« – Ein Gespräch mit John Hattie
Einleitung
- Was John Hattie gemacht hat: Einblicke in „Visible Learning“
- Was für sich alleine wenig wirkt: Strukturen
- Was unhintergehbar ist: Schüler und ihr familiärer Hintergrund
- Worauf es wirklich ankommt: Lehrer und ihre Leidenschaft
- Was bleibt: Ein Resümee
- Was fehlt: Ein Ausblick
- Schluss: Handlungsempfehlungen für die Praxis
Faktorenliste
Jedes seiner Kapitel beginnt mit einer Reflexionsaufgabe, einem Überblick über die Inhalte und die Benennung der Ziele. Am Ende der Kapitel soll das Gelesene durch Wiederholung der wichtigsten Definitionen, Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen gefestigt werden. Übungsschleifen sollen das Wissen sichern. Beispiele sollen die notwendige Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen.
Das Vorwort und das Interview mit Hattie enthalten im Grunde alle wichtigen Informationen. Sie sind weder neu noch revolutionär. Jeder kennt die entscheidenden Faktoren für Lernerfolg zumeist aus seiner eigenen Schulzeit: Es sind die guten Lehrer. Der Neurobiologe Roth bestätigt: „Die Art, wie wir lehren und lernen, wird von unserer Persönlichkeit bestimmt.“ (Roth 2015: 81)
Deshalb muss alles dafür getan werden, damit es genug gute Lehrer gibt.
Was muss ein guter Lehrer können?
Der entscheidende Ansatzpunkt neben der Ausbildung zur Lehrkraft ist die Phase der ersten Berufsjahre. Hier festigt sich das, was die Lehrkräfte meist auch den Rest ihres Berufslebens tun und wie sie es tun.
Die Abbildung einer typischen „Zusammenfassung“ am Ende eines Kapitels soll als Beispiel dienen für Zierers hohe didaktische Kompetenz, eine eher selten anzutreffende Kompetenz im Wissenschaftssektor.
Zierer fasst prägnant die Erkenntnisse der Hattie-Studien zusammen:
„Der Lernende ist als Ausgangspunkt für Erziehung und Unterricht zu sehen – mit seinen Stärken und Schwächen. Eine Lehrer-Schüler-Beziehung, die auf Kooperation und Akzeptation beruht, ist hierfür unabdingbar und einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiches Lehren und sichtbares Lernen (d=0,72). Fehler sind hier keine Schande, sondern wichtige Informationen auf dem Weg eines gelingenden Unterrichts. Damit wird deutlich: Unterricht ist keine Einbahnstraße, sondern ein intensiver Dialog zwischen Lernenden und Lehrpersonen. Rückmeldung ist dabei ein zentraler Faktor, weil er wesentlich für eine Kommunikation im und über Unterricht ist (d=0,75), und ebenso die Klarheit der Lehrperson (d=0,75), weil sie den Maßstab für den Unterricht und seine Evaluation festlegt. Daneben ist unstrittig, dass Gleichaltrige bzw. die Lerngruppe eine wichtige Rolle spielen (d=0,53), – kooperatives Lernen beispielsweise ist dem am Wettbewerb orientierten und dem individuellen Lernen überlegen (d=0,43). Direkte Instruktion (d=0,59) ist konsequenterweise eine Folge aus dem bisher Gesagten – nicht als Frontalunterricht missinterpretiert, sondern als ein Lehrerhandeln, das basierend auf den Informationen zum Lernstand der Schülerinnen und Schüler Ziele, Inhalte, Methoden und Medien bestimmt.“ (92)
Als Kernbotschaft zur schulischen Leistung formuliert er:
„Schulische Leistung ist ein komplexes Feld und erfordert Kooperation auf allen Ebenen und zwischen allen Beteiligten. Niemand ist für alles allein verantwortlich. August Herrmann Niemeyer, im 18. Jahrhundert einer der Gründerväter der Pädagogik als Wissenschaft in Deutschland, formuliert als Maxime für Erziehung und Unterricht: ‚Ich bedarf deiner nicht mehr!’ Ähnlich bringt Maria Montessori zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Kerngedanken auf den Punkt: ‚Hilf mir, es selbst zu tun!’ Und John Hattie schreibt in ähnlicher Weise, ‚die Lehrperson muss die Fähigkeit haben, aus dem Weg zu gehen, wenn das Lernen sich den Erfolgskriterien nähert.’ John Hattie entpuppt sich vor diesem Hintergrund, so ist man geneigt zu resümieren, als verkappter Reformpädagoge.
Erfolgreiche Lehrpersonen betreten das Klassenzimmer somit mit der Haltung eines Regisseurs, der seine Klasse verantwortungsvoll und menschlich führt. Dabei treten erfolgreiche Lehrpersonen ihrer Klasse nicht in autoritärer Form gegenüber, der gemäß sie alles alleine bestimmen und den Ton angeben, sondern führen die Schülerinnen und Schüler behutsam und einfühlsam im ständigen Austausch über Ziele, Inhalte, Methoden und Medien an die Erfolgskriterien heran. Sie tauschen sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen über Wege, Umwege und Irrwege aus, kooperieren mit Eltern und nähern sich Schritt für Schritt mit den Schülerinnen und Schülern dem Ziel – den letzten Schritt dorthin muss jeder Lernende allerdings für sich selbst meistern.“ (94)
Zierer beschreibt auch die Grenzen von „Visible Learning“. Als empirische Bildungsforschung wird nur gemessen, was auch messbar ist.
Geht es um Freude beim Lernen, geht es motorische, soziale, affektive, moralische und ethische Dimensionen, dann hat die Hattie-Studie wenig mitzuteilen. Insofern schneiden z.B. chinesische Schüler bei derartigen empirischen Leistungsmessungen hervorragend ab. Aber um welchen Preis? „Effektive Lebenszeit (muss) nicht immer erfüllt sein und ebenso erfüllte Lebenszeit nicht immer effektiv genutzt“ werden. (101)
Was und warum in einer Schule gelernt werden soll, kann nur diskursiv, kann nur argumentativ beantwortet werden. Zierer zitiert Ken Wilber, der darauf verweist, dass „komplexe Phänomene […] sich nicht nur aus einer Perspektive heraus beantworten“ lassen. (103)
Im Schlusskapitel „Handlungsempfehlungen für die Praxis“ listet Zierer zehn Haltungen für Lehrkräfte auf, die laut Hattie Lernen sichtbar machen können:
„1. Ich rede über Lernen, nicht über Lehren.
2. Ich setze die Herausforderung.
3. Ich sehe lernen als harte Arbeit.
4. Ich entwickle positive Beziehungen.
5. Ich benutze Dialog anstelle von Monolog.
6. Ich informiere alle über die Sprache des Lernens.
7. Ich bin ein Veränderungsagent.
8. Ich bin ein Evaluator.
9. Schülerleistungen sind eine Rückmeldung für mich über mich.
10. Ich arbeite mit anderen Lehrpersonen zusammen.“ (108)
Zierers Darstellung der Hattie-Studie und der daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen ist ein Muss für jeden, der in Bildungsprozesse involviert ist, für Eltern, Lehrer, Schulleiter. Letztlich können auch Lernende eine Nutzen daraus ziehen, wenn man beachtet, dass Hattie nur einen Teil dieses komplexen Prozesses erfasst hast, aber einen wesentlichen.
Die Ergebnisse müssten „durch weitere Zugänge und Arbeiten ergänzt werden. Die Frage nach einer ‚guten’ Schule lässt sich infolgedessen nur beantworten, wenn die Teilfragen nach einer ‚effektiven’, ‚freudvollen’, ‚kulturell passenden’ und ‚funktional passenden’ Schule beantwortet und aufeinander bezogen werden.“ (103) Die bezeichneten Kriterien werden ausführlich erläutert.
„Lernen war, ist und bleibt anstrengend und erfordert Einsatz. Und ebenso ist Lehren eine komplexe und anspruchsvolle Tätigkeit, deren Erfolg nicht programmierbar ist.“ (104)
Weiterführendes
- Roth, Gerhard 2015: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta > Rezension
- Terhart, Ewald (Hg) 2014: Die Hattie-Studie in der Diskussion: Probleme sichtbar machen. Seelze: Kallmeyer/ Friedrich Verlag. 165 Seiten > Rezension
- http://www.lernensichtbarmachen.de