Terhart, Ewald (Hg) 2014: Die Hattie-Studie in der Diskussion: Probleme sichtbar machen. Seelze: Kallmeyer/ Friedrich Verlag. 165 Seiten – Rezension
Ziel dieses Sammelbandes verschiedener Autoren ist es, „die Leistungen und Grenzen der Hattie-Studie herauszuarbeiten. […] Probleme sichtbar machen, zu ihrer sachlichen Klärung beitragen und Perspektiven eröffnen.“ (8)
Die Autoren wenden sich ausdrücklich an Lehrkräfte und Lehramtsstudierende, an die Verantwortlichen in der Lehrerbildung. Es wurde besonderer Wert auf die Frage nach der praktischen Anwendung gelegt.
Inhalt
- Ewald Terhart: Der Heilige Gral der Schul- und Unterrichtsforschung – gefunden? Eine Auseinandersetzung mit Visible Learning
- Olaf Köller: What works best in school? Hatties Befunde zu Effekten von Schul- und Unterrichtsvariablen auf Schulleistungen
- Hans Brügelmann: Gilt nach Hattie: Je häufiger, desto besser? Zur Bedeutung von „Evidenzbasierung“ für pädagogisches Handeln vor Ort
- Hans-Joachim von Olberg: Evidence-Based Teaching. Hat John Hattie eine Allgemeine Didaktik entwickelt?
- Hans-Günter Rolff: Sind schulische Strukturfaktoren wirklich nicht so wichtig?
- Thomas Kremers: Wie lernwirksam ist das Kooperative Lernen? Lernen in kooperativen Strukturen auf dem Prüfstand der Hattie-Studie
- Kristina Reiss, Matthias Bernhard: Hatties Visible Learning im Kontext der Mathematikdidaktik. Das Beispiel Problemlösen
- Marko Demantowsky, Monika Waldis: Visible Learning in geschichtsdidaktischer Perspektive
- Hilbert Meyer: Auf den Unterricht kommt es an! Hatties Daten deuten lernen
- Hans Anand Pant: Visible Evidence? Eine methodisch orientierte Auseinandersetzung mit John Hatties Meta-Metaanalysen
- Wolfgang Beywl, Klaus Zierer: „Visible Learning“ wird zu „Lernen sichtbar machen“. Ein Kommentar zur Übersetzung und Überarbeitung der Hattie-Studie
Ewald Terhart wundert sich in seinem Beitrag „Der Heilige Gral der Schul- und Unterrichtsforschung – gefunden? Eine Auseinandersetzung mit Visible Learning“ über Hatties „spezielle Mischung der Stilformen. […] Es wird ein geradezu schäumender Optimismus, ein tiefer (amerikanischer?) Glaube an die Erreichbarkeit von Erfolg vermittelt, der die Leserinnen und Leser angesichts der über viele Seiten hinweg ausgebreiteten trockenen, zum allergrößten Teil eher skeptisch bis pessimistisch stimmenden Daten nur staunen lässt.“ (22)
Terhart sieht bei dem Neuseeländer Hattie einen „psychologisch fundierten Glauben an die unendliche Steigerbarkeit des Lernens und die Beförderung des Lernens durch das richtige, gute Lehrerhandeln. […] Die Betonung der aktiven, sich verantwortlich fühlenden, die Wirkung ihres Tuns genau beobachtenden und den Lernenden ständig Rückmeldung gebenden Lehrperson formuliert eine modernisierte, ‚evidenzbasierte’ Variante des idealistischen Lehrerbildes, die von einer Mischung aus unbedingtem Wissenschaftsglauben und kontinuierlicher Empathie lebt. […] Durch dieses aktive, herausfordernde Lehrerbild rehabilitiert Hattie die dominante, redende Lehrperson – die aber ebenso genau weiß, wann sie zurücktreten und schweigen muss. Die Perspektive auf den Unterricht ist: lehrerzentriert. Im Zentrum steht eine Lehrperson, für die allerdings die Lernenden im Zentrum stehen. Sie muss ihr Lernen sehen könne, um ihr Lehren daran orientieren zu können. Lernende wiederum müssen ihr eigenes Lernen sehen können und es mental begleiten, als wären sie selbst ihr eigener Lehrer (Selbstdidaktisierung); dabei werden sie von der Lehrperson beobachtet und unterstützt.“ (22f)
Wieso Terhart allerdings aus Hatties „total learning“, das vermutlich eher eine Form des lebenslangen, unendlichen Lernens meint, einen totalitären „Absolutheitsanspruch mit Drohpotenzial“ interpretieren kann, wird dem Leser ein Rätsel bleiben.
Ich bin gespannt auf die anderen Beiträge.
Olaf Köller zitiert in seinem Beitrag „What works best in school? Hatties Befunde zu Effekten von Schul- und Unterrichtsvariablen auf Schulleistungen“ zahlreiche neuere Studien, auch aus Deutschland, die Hatties ermittelte Befunde aus den Meta-Analysen bestätigen. Er weist auf viele selektiv operierende missbräuchliche Interpretationen von Hatties Fleißarbeit hin, die alle die notwendige Komplexität beim Interpretieren der Daten sträflich vernachlässigen bzw. Umdeutungen vornehmen, um sie ihrem eigenen starren Blick auf die Sachverhalte anzupassen. So wird beispielsweise das Thema „direkte Instruktion“ zu „Frontalunterricht“ umgebogen. Köller zeigt an Beispielen auf, wie leicht es ist, Hatties Befunde umzudeuten.
Laut Hattie erzeugen Lob und Tadel geringe Wirkung. Sie werden aber als inhaltliches Feedback besonders wirkungsvoll, wenn die Rückmeldung gekoppelt ist an klare und konkrete Lernziele, der Status auf dem Weg zu diesem Ziel deutlich beschrieben wird und welche konkreten Schritte als nächstes gegangen werden können. Alle Einzelbefunde Hatties dürfen nicht isoliert betrachtet, sondern müssen immer im Kontext der anderen Einflussgrößen interpretiert werden. So ist z.B. auch eine Akzeleration (Überspringen einer Klasse) möglicherweise nur deshalb so wirkungsvoll, weil Lehrer diese Schüler besonders fördern. Und das Sitzenbleiben dann besonders schlecht für das Lernen, weil Lehrkräfte diese Schüler abgeschrieben haben.
Köllers Fazit bestätigt nochmals die Tatsache, dass sich Hatties Befunde „im Einklang mit der nationalen Literatur“ (35) befinden, und drei Kerndimensionen für erfolgreiches Lernen und gelungenen Unterricht beschreiben: „Klassenführung, kognitive Aktivierung und konstruktive Unterstützung.“ (35) Hatties Handlungsempfehlungen lauten deshalb:
- Lehrkräfte müssen definieren, was die Outcomes (Erfolgskriterien) einer Unterrichtseinheit sind („Was will ich aufseiten der Schülerinnen und Schüler erreichen?“).
- Lehrkräfte müssen entscheiden, wie sie überprüfen können, dass die Ziele erreicht wurden (summatives Assessment).
- Lehrkräfte müssen sich vergewissern, was die Schülerinnen und Schüler zu Beginn einer Unterrichtseinheit schon leisten können (formatives Assessment).
- Danach führen sie die Unterrichtseinheit durch.
- Danach sollen sie den Erfolg des Unterrichts auf Schülerseite messen, idealerweise mit standardisierten Lernerfolgstests.
- Lehrkräfte müssen den beobachteten Kompetenzzuwachs als Indikator nutzen, um festzustellen, ob sie ihre Ziele erreicht haben.
- Unterschiede im Kompetenzzuwachs zwischen Schülerinnen und Schülern sollen Lehrkräfte als Anlass zum Reflektieren nehmen, warum manche Kinder/ Jugendliche die Ziele eher, manche weniger erreicht haben.
Bei diesem Handlungskatalog wird deutlich, dass es Hattie nicht um die Rückkehr zu einem anachronistischen lehrerzentrierten Unterricht geht. Vielmehr ist seine Botschaft schülerzentriert: Die gute Lehrkraft macht sich immer wieder Gedanken, was sie den Schülerinnen und Schülern beibringen möchte und wie sie sicherstellen kann, dass diese auch erfolgreich lernen. Diese Schlussfolgerungen sind eigentlich banal, umso verblüffender ist die Beobachtung, wie stark Lehrkräfte häufig ihren Unterricht an Inhalten und nicht an den Kindern und Jugendlichen ausrichten. Noch verblüffender ist natürlich, wie viel in Deutschland über Strukturreformen und wie wenig über guten Fachunterricht gesprochen wird.“ (35f)
Hans Brügelmann zeigt in seinem Beitrag „Gilt nach Hattie: Je häufiger, desto besser? Zur Bedeutung von ‚Evidenzbasierung’ für pädagogisches Handeln vor Ort“ an einigen Beispielen, dass verallgemeinerte, standardisierte Aussagen mittels Durchschnittswerten nur für allgemeine und flächendeckende Entscheidungen von Schulbehörden sinnvoll sein können, weil sie nur eine grobe Orientierung bieten.
Für den kontextabhängigen Einzelfall sind sie bestenfalls – und so formuliert es auch Hattie – eine Anregung zur Reflexion. Insofern kann als konkrete Handlungsempfehlung letztlich nur gelten, die Kompetenz der in der Praxis tätigen zu erhöhen, damit sie wichtige Einflussgrößen erkennen und deren Chancen nutzen lernen.
Symptomatisch für die (scheinbare) Widersprüchlichkeit bestimmter konstatierter Effektstärken und der daraus abgeleiteten Interpretationen ist beispielsweise Hatties Aussage, dass sich „’in Klassen mit personenzentrierten Lehrpersonen […] vermehrt offene Lernsituation (von Lernenden angeregt und reguliert) feststellen’“ lassen. (45)
„Die persönliche Erfahrung der Praktiker und Praktikerinnen und kontextbezogene Fallstudien sind nicht Vorstufe der eigentlichen Forschung in Großstudien, sondern die Nagelprobe für deren Bewährung in einer konkreten Situation. […] Statistische Kennwerte sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen. Sie machen aufmerksam auf Chancen und auf Risiken einzelner Maßnahmen. Sie erzeugen eine Begründungspflicht, aber sie können das Urteil fachkundiger Personen im Klassenzimmer nicht ersetzen. Deren Qualifizierung erfordert eine stärker reflexionsorientierte Lehrerbildung, die die Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz vor Ort stärkt.“ (46f)
Hans-Joachim von Olberg beschreibt in seinem Beitrag „Evidence-Based Teaching. Hat John Hattie eine Allgemeine Didaktik entwickelt?“ fundiert und plausibel argumentierend, was Hattie faktisch gemacht hat, wie Hattie selbst seine Arbeit einschätzt bzw. und setzt dem eine epistemologisch reflektierte Perspektive entgegen, „die a) den Eigenwert von lebensweltlich, zum Beispiel aus der Schülerperspektive erworbenem Didaktik-Wissen über Lehr-Lern-Situationen mit b) der Dignität von dem in der Geschichte der Lehrerarbeit an Schulen zusammengetragenen und weitergegebenen Berufs- und Regelwissen über die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen und c) den systematisch und methodisch kontrolliert gewonnenen Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft, Psychologie und Neurowissenschaften produktiv miteinander in Beziehung setzt. Es ist d) die Aufgabe einer didaktischen Erkenntniskritik, diese drei auch historisch unterscheidbaren Wissensebenen dauerhaft in einem auch biografisch zur Professionalität sich steigernden Prozess zu verknüpfen.
Professionelles Lehren und Lernen entsteht nämlich nicht aus der einfachen Anwendung von quantitativen empirischen Erkenntnissen auf das Handeln in Praxissituationen, sondern es ist der unvermeidlichen Situativität und Komplexität von je konkretem Unterricht nur angemessen, wenn qualifiziert handelnde Lehrkräfte als reflektierte Praktiker eigenverantwortlich ihr Erfahrungswissen als Lernende und die Teilhabe an den Wissensbeständen ihrer Berufsgruppe produktiv und authentisch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Wissenschaften vom Lehren und Lernen verbinden.“ (64)
Da kann ich nur sagen: Den Nagel auf den Kopf getroffen!
Hans-Günter Rolff kritisiert in seinem Aufsatz „Sind schulische Strukturfaktoren wirklich nicht so wichtig?“ die häufig unangemessene selektive Interpretation und missbräuchliche Verwendung von Einzelergebnissen der Hattie-Studie, hier beispielhaft an der Schulstruktur-Debatte entfaltet.
Nach seiner Analyse kommt er zum Schluss: „Schulstrukturen haben einen starken Einfluss auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler und außerdem einen starken Einfluss auf die Bildungschancen, die mit der Schichtzugehörigkeit variieren.“ (72)
Hattie hat das Thema Chancengleichheit nicht untersucht, und er hat auch derartige Gesamtzusammenhänge nicht untersucht. „Aber man weiß aus der neueren Schulentwicklungsforschung (z.B. Mourshed u.a. 2011 und Fullan 2010), dass auch die stärksten Variablen ihre Wirkung nur mit anderen Variablen zusammen entfalten. […]
Hattie hat nur Einzelaspekte von Unterricht untersucht; die Wirkung von Faktoren auf die Entwicklung von Unterricht liegt aber gerade nicht in den Aktionen einzelner, sondern wesentlich in der Interaktion und im Zusammenspiel der Lehrenden und Lernenden. Deshalb folgert er, dass „wirksame und nachhaltige Qualitätsförderung aus einem Guss, das heißt ganzheitlich im Rahmen von Schulentwicklung konzipiert und implementiert werden muss. […] Das Besondere dabei ist allerdings der systemische Charakter, was bedeutet, dass die einzelnen Faktoren zusammengehen und auf einer Linie liegen, also einer ganzheitlichen Gestaltungsformel folgen und unter- bzw. miteinander vernetzt sind.“ (74)
Thomas Kremers korrigiert in seinem Aufsatz „Wie lernwirksam ist das Kooperative Lernen? Lernen in kooperativen Strukturen auf dem Prüfstand der Hattie-Studie“ die Fehlinterpretation, dass Hattie angeblich ein Befürworter des sog. Frontalunterrichts sei. Er belegt das Gegenteil (‚Cooperative learning is certainly a powerful intervention’; Hattie 2012: 78) und bestätigt die bereits von zahlreichen Autoren korrekte Rezeption der Hattie-Aussagen, dass die „Interdependenzen vieler Faktoren“ (86) berücksichtig werden müssen, will man praxistaugliche Empfehlungen für guten Unterricht geben: „Was Schülerinnen und Schüler lernen, bestimmt vorrangig die einzelne Lehrkraft, die strukturiert, diszipliniert, fachbezogen und effektiv die Lernzeit nutzt.
Die Lehrkraft trägt im Kontext kooperativer Lernprozesse unter anderem durch den Aufbau von klaren Arbeits- und Lernstrukturen, durch die Vermittlung sozialer, kommunikativer und fachlicher Kompetenzen und durch die gezielte Förderung der Beziehungskultur zwischen Lehrkraft und Lerngruppe wesentlich zu einem effektiven Unterricht bei. So bewirken beispielsweise knappe, aber realistische Zeitvorgaben eine effektive Nutzung der Lernzeit.“ (87)
Kristina Reiss und Matthias Bernhard tragen in ihrem Beitrag „Hatties Visible Learning im Kontext der Mathematikdidaktik. Das Beispiel Problemlösen“ ähnliche Befunde zu Hatties Studie zusammen wie die anderen Autoren des Bandes, wobei hier als Grundlage eine sehr allgemeine Definition für Mathematik gewählt wird: „In der Mathematik und Mathematikdidaktik wird unter Problemlösen in der Regel ein Prozess verstanden, bei dem ein gegebener Ausgangszustand in einen erwünschten Endzustand überführt werden soll, die notwendigen Mittel aber nicht offensichtlich sind.“ (92) Dieser Prozess durchläuft vier Phasen des Problemlösens, „nämlich das Verstehen des Problems, den Entwurf eines Lösungsplans, die Ausführung des Plans sowie die Rückschau und das Prüfen der Lösung.“ (94)
Ihr Beitrag endet mit dem bereits hinlänglich bekannten Appell, dass „das Augenmerk auf das Zusammenspiel der Faktoren gelegt werden“ (98) muss, und Forschung und Schulpraxis gleichermaßen gefordert seien.
Marko Demantowsky und Monika Waldis zählen in „Visible Learning in geschichtsdidaktischer Perspektive“ ebenfalls einige bereits durch die anderen Aufsätze hinlänglich bekannten allgemeindidaktischen „Erkenntnisse“ der Studie auf, um sie dann auf die Geschichtsdidaktik zu übertragen. Sie erkennen dabei ein Anregungspotenzial ganz im Sinne Hatties, der zu kreativer Anwendung seiner Daten ermuntert und einen willkommenen „Stein des Anstoßes“ (114) liefert.
Hilbert Meyer vermutet in seinem Beitrag „Auf den Unterricht kommt es an! Hatties Daten deuten lernen“ als Gründe für den Hype um Hattie die Komplexitätsreduktion, die Sehnsucht nach einfachen Antworten, die eigene emotionale Bestärkung, die Handlungsorientierung und den Aufbau von Drohkulissen.
Nach kritischer Würdigung und hilfreicher Interpretation der von Hattie gesammelten Zahlen kommt Meyer zu einem pessimistischen Fazit. Er sieht keine politische Kraft, die auf ihrer Agenda eine Schulpolitik stehen hätte, die die richtigen Schlüsse aus den angemessen interpretierten Zahlen und dem was bei Hattie fehlt zieht.
Hans Anand Pant beschreibt, auf Berliner 2002 verweisend, in seinem Aufsatz „Visible Evidence? Eine methodisch orientierte Auseinandersetzung mit John Hatties Meta-Metaanalysen“ das „unentwirrbare und experimentell unkontrollierbare Mehrebenengefüge von Wirkfaktoren und Interaktionen in institutionellen Lehr-Lern-Konstellationen, wie zum Beispiel dem Klassenzimmer“, die es nahezu unmöglich machen, den Effekt einzelner Faktoren zu isolieren. (136)
Wolfgang Beywl und Klaus Zierer wollen mit ihrem Schlussbeitrag „’Visible Learning’ wird zu ‚Lernen sichtbar machen’. Ein Kommentar zur Übersetzung und Überarbeitung der Hattie-Studie“ beitragen, den schwierigen Prozess der Übersetzung zu verstehen und „Möglichkeiten und Grenzen der Adaption zentraler Erkenntnisse in den deutschen Sprachraum zu erkennen.“ (147)
Mit der Analyse von demnächst annähernd 1.000 Metaanalysen ist die Hatti-Studie monumental in der Bildungsforschung.
Die Autoren warnen mit überzeugenden Argumenten eindringlich vor Fehlinterpretationen und regelrechtem Missbrauch der Studie durch unzulässige Verkürzungen, 1:1-Übertragungen von Ergebnissen von Einzelfaktoren in Handlungsanweisungen und unangemessene Übersetzungen (Sprache) und Übertragungen (Land und Kultur). Wichtiger sei es – mit Hattie – die Studie als Ermunterung zum kritischen Hinterfragen eigener Werthaltungen zu nutzen. Ein im Übrigen grundlegender kontinuierlicher Prozess von seriöser Forschung und Wissenschaft.
Wichtig ist den Autoren, wie die Autoren der anderen Beiträge bereits überzeugend darlegten, dass der Fokus in der Betrachtung von Hatties Zahlen auf der Komplexität und der Interdependenzen der gemeinten Einflussgrößen liegen muss, von denen Hattie in Bezug auf das, was gelungenes Lernen letzlich bewirkt, nur einen Teil ausmacht. Wesentliche Komponenten sind durch Hattie gar nicht erfasst, sind auch nur schwer oder gar nicht auf Zahlen reduzierbar.
Wenn es einen Heiligen Gral der Schul- und Unterrichtsforschung geben sollte, dann sei es nicht seine Studie, so Hattie, die lenke nach seinen eigenen Worten eher von der eigentlichen Aufgabe ab: „der Suche nach besseren, nach optimalen Kombinationen von Einflussmöglichkeiten, die vorzunehmen ausschließlich die Lehrperson und Schulleitungen ‚vor Ort’ in der Lage sind.“ (161)
Episode am Rande:
In meiner Referendarausbildung zeigten uns unsere Ausbilder 1978 einen Film, der Unterricht der Standardwerkverfasser Tausch, Anne-Marie /Tausch, Reinhard („Erziehungspsychologie“) dokumentierte. Die beiden Wissenschaftler hatten umfangreiche Werke mit umfangreichem Anspruch geschrieben und konnten sich des Angebots nicht erwehren, einmal praktisch zu demonstrieren, bzw. zu belegen, wie ein Unterricht nach ihren Setzungen, Vorgaben und Prinzipien ganz praktisch aussehen soll. Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir eine Stunde schallend gelacht haben. Alles misslang den beiden Theoretikern, aber auch alles.
Es zeigte sich, dass es wohl nicht so einfach ist, vom Schreibtisch und aus Bibliotheken heraus Dinge zu formulieren, die in der Praxis Bestand haben sollen. Da wäre es wohl besser gewesen, Praktiker mit ins Boot zu holen. War es Hybris, Eitelkeit oder Selbstverblendung, die sie dazu bewegte, sich auf dieses Experiment einzulassen? Warum fällt es machen Wissenschaftlern und Theoretikern so schwer, mit Praktikern zusammen zu arbeiten? Gut, man muss auch die Gegenfrage stellen: Warum fällt es manchen Praktikern so schwer, mit theoretischem Blick ihr Tun zu reflektieren.
Wohltuend in dem vorliegenden Sammelband, eine entsprechende Forderung von Wissenschaftsseite nach Kooperation von Theorie und Praxis häufiger vorzufinden.
Nachklapp:
Man wünscht sich als Leser von Sammelbänden öfter eine Redaktion der Herausgeber, die den Rechen in die Hand nimmt, denn man gewinnt, so auch bei diesem Reader, manchmal den Eindruck, dass ein Ruf an ausgewiesene Experten eines Themas erging, entsprechende Aufsätze wurden eingereicht, aber nicht angemessen redaktionell lektoriert.
Warum würde sonst nahezu jeder Aufsatzschreiber in der Einleitung die Faktenlage darstellen? Das nervt den Leser, wenn er immer wieder den gleichen Vorspann zu lesen bekommt bzw. überspringen und die Stelle im Aufsatz suchen muss, wo es Neues gibt.
Eine Redaktion der Herausgeber sollte diese vielen überflüssigen Seiten einfach streichen.
Eins macht mich sehr nachdenklich:
Ich sehe mich als einen reflektierten nicht theoriefeindlichen Bildungspraktiker, der die Wissenschaftstheorie in Bezug auf das Lernen, die traditionelle Pädagogik und Erziehungswissenschaft ab den 1970er Jahren als weitgehend bedeutungslos rezipieren musste (reformpädagogische Ansätze teilweise ausgenommen). Ich wählte aus diesem Grunde in meinem fachwissenschaftlichen Lehramtsstudium für die gymnasiale Oberstufe als Nebenfach nicht Pädagogik, sondern Psychologie und beschäftigte mich intensiv mit Meinungsbildung, Haltungsveränderungen und Vorurteilsforschung (z.B. Adorno, Studien zum autoritären Charakter usw.).
Im Rückblick auf meine beruflichen Tätigkeiten seit den 1970er Jahren muss ich feststellen, dass keine meiner Unterrichtsstunden der anderen glich, auch wenn sie sich von den äußeren Umständen sehr ähnlich waren in Bezug auf Altersstufe, Geschlechterzusammensetzung, Klassengröße, Wochentage, Jahreszeiten, Laune, Vorstunden, Stunden nach Klausuren, Herkunft der Schüler, Vorerfahrungen, Kleidung, Verdauung und tausend andere Parameter. Analoges gilt für Trainings, Cochings, Beratungen, Vorträge, Moderationen, szenische Interventionen usw.
Warum habe ich für die scheinbar immer (formal) gleichen Lernsettings eine immer wieder veränderte, ergänzte, um- und neustrukturierte Methodik verwendet?
Warum habe ich jetzt erst, nach vielen Jahrzehnten Berufserfahrung in den unterschiedlichsten Bereichen (Lehrer, Business, Freizeitbetreuung, Jugendhilfe usw.), das Gefühl, die enorme Komplexität eines Lernvorganges umfänglich zu sehen und, was entscheidender ist, in meinem Verhalten als Lehrer zu berücksichtigen? Und warum habe ich das Gefühl, es wird nicht das Ende der Fahnenstange sein?
Weiterführendes
- http://www.lernensichtbarmachen.ch
- List, Volker 2016: Potenzialentfaltung im Theater-Unterricht. Theater-Unterricht und -pädagogik fördern Potenzialentfaltung von Menschen
- List, Volker 2015: Klausur, ästhetische Praxis und Tod – Eine Theater-Klausur und ihre Folgen
- List, Volker 2015: Theater benoten? – Geht nicht!
- Zierer, Klaus 2014: Hattie für gestresste Lehrer. Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen aus John Hatties „Visible Learning“ und Hatties „Visible Learning for Teachers“ Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren > Rezension