Borries von, Friedrich 2016: Weltentwerfen. Berlin: Suhrkamp. 144 Seiten – Rezension
Von Borries formuliert in Weltentwerfen einen Design-Begriff, der die Perspektive des Ästhetischen um zahlreiche Dimensionen erweitert, denen er jeweils ein Kapitel widmet. Dabei macht er in allen Fällen die Doppelfunktion von Design als entwerfend und als unterwerfend sichtbar, wobei sich beide Funktionen bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschlingen können. Das macht eine philosophische Analyse doppelt wichtig und sinnvoll; eine Analyse, von der auch kulturelles Lernen, insbesondere im Theater-Unterricht profitieren kann. Von Borries illustriert und untermauert seine Thesen mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte.
Ziel dieser Buchbesprechung ist es, von Borries‘ Weltentwerfen daraufhin zu untersuchen, ob es einen konstruktiven Beitrag leisten kann zu einer Theorie kultureller Bildung, die sich konkretisiert in einem Angebot von Theater-Unterricht für Schüler, und ich verhalte mich dabei – wie von Borries für sich selbst auch formuliert – „eher wie ein Grabräuber der Theorie“ (11 Anm. 4).
Inhalt
Entwerfen 7
Überlebensdesign 39
Sicherheitsdesign 55
Gesellschaftsdesign 75
Selbstdesign 91
Welt 117
Literatur 139
„Entwerfen ist das Gegenteil von Unterwerfen“. Mit dieser Aussage öffnet von Borries eine Design-Definition als Weltentwerfen, die den Blick weitet für neue bzw. nicht so offensichtliche Zugänge zu Formungs- und Gestaltungsvorgängen, denn „alles, was gestaltet ist, unterwirft uns unter seine Bedingungen. Gleichzeitig befreit uns das Gestaltete aus dem Zustand der Unterwerfung, der Unterworfenheit. Design[1] schafft Freiheit, Design ermöglicht Handlungen, die zuvor nicht möglich oder nicht denkbar waren. Indem es dies tut, begrenzt es aber auch den Möglichkeitsraum, weil es neue Bedingungen schafft. Alles, was gestaltet ist, entwirft und unterwirft. Design ist von dieser sich bedingenden und ausschließenden Gegensätzlichkeit grundlegend geprägt. Diese dem Design inhärente Dichotomie[2] ist nicht nur eine gestalterische, sondern eine politische. Sie bedingt Freiheit und Unfreiheit, Macht und Ohnmacht, Unterdrückung und Widerstand. Sie ist das politische Wesen von Design.“ (9-10)
Mit diesem Eingangsstatement oder besser mit dieser Perspektivenbeschreibung steckt Borries das Thema ab, das augenscheinlich auch wesentliche Aspekte von Theater als ästhetische Formung und künstlerische Gestaltung erfasst. Denn Design muss sich nicht zwingend auf Gegenstände beziehen. Design kann auch unsichtbar sein „weil es die Gestaltung von Prozessen, Beziehungen und Situationen mit einbezieht.“ (15)
Dass Menschen bei dem Begriff Design zumeist an etwas Gegenständliches, Dingliches denken, fußt auf etwas Grundsätzlichem: „dass uns etwas entgegensteht, das wir angehen, dem wir uns entgegenstellen müssen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ (15) Flusser zitierend schreibt von Borries weiter: „’Gegenstand’ ist , was im Weg steht, dorthin geworfen wurde. […] Die Welt ist insoweit gegenständlich, objektiv, problematisch, insoweit sie hindert.“ Diese zweite Bedeutung finde sich auch etymologisch im Begriff „Ob-jekt“ (Lateinisch: biectum, das Entgegengeworfene).
Von Borries Beschreibung wirft auch ein Licht auf den Prozess kultureller Bildung durch ästhetisches Lernens im Theater-Unterricht.
Die erhellende Funktion einer solchen Design-Definition liegt darin, dass sie den Blick verstärkt lenkt auf den (Lern-)Prozess der theatralen Gestaltung nicht nur an dem später zu präsentierenden Produkt, einer Aufführung vor oder performativer Arbeit mit Publikum, sondern an der sozial-dynamischen Interaktion der Gruppe, wobei die Lehrkraft immer mitgemeint ist, und wie sie den Arbeitsprozess unter den vorgegebenen bildungspolitischen Bedingungen zusammen mit der Gruppe formt und gestaltet. „Der Mensch lebt unter Bedingungen, die der Mensch selbst geschaffen hat.“ (16) Er entscheidet nicht frei, sondern bewegt sich in einem Feld von „Normen, Werten, Prägungen. Die von uns erzeugten Dinge (und, im Sinne eines erweiterten Designbegriffs, auch die Räume, Beziehungen und Ordnungen) sind diesen Bedingungen unterworfen. Diese Bedingungen sind in der Welt, in die wir geworfen sind, gegeben – und werden durch das Design, das wir projektierend der Welt entgegenwerfen, verändert.“ (16)
Von Borries versteht das Entwerfen demnach „als einen grundlegenden, emanzipatorischen Akt“ (11), denn „Entwerfen […] [kann] – ergänzend zur wissenschaftlichen Epistemologie – als eine eigenständige künstlerische Form der Erkenntnisgewinnung beschrieben“ werden. (11 Anm. 4)
Insofern liegen sowohl im gruppendynamischen Arbeitsprozess, als auch in der Formung des ästhetischen Produktes, der Aufführung, gleichermaßen Möglichkeitsräume der Erkenntnisgewinnung. „Weltentwerfen“ findet demnach aus dieser Doppelperspektive in zwei Möglichkeitsräumen statt: Erstens in der ästhetischen Gestaltung der Arbeitsform, des Arbeitsablauf, des Unterrichtsstundenverlaufs und zweitens in der Gestaltung und Formung des ästhetischen Produktes.
Diese Sicht auf die doppelte Chance durch ästhetische Arbeit im Theater-Unterricht verweist auf eine Lernform, ein Lernsetting, dass seine politische Dimension in sich trägt.
Ein weiterer Gedanke hilft, die Doppelperspektivität einzunehmen. Von Borries bezieht sich dabei auf Flusser, der als „zentrale[s] Element der Menschwerdung“ das Entwerfen als „Weg vom Subjekt zum Projekt“ beschreibt. „Während das ‚Sub-jekt’ (von lateinisch subiectum, das Daruntergeworfene) also unterworfen ist, wirft oder denkt sich das Projekt nach vorne. Wenn wir entwerfen, befreien wird uns. Das ist der Wesenskern unseres Menschseins.“ (13)
Insofern greift der Gedanke, Schüler dahingehend in ihren Entwicklungen und ihrem Kompetenzaufbau zu fördern, dass sie sich zukünftig zu Subjekten ihrer eigenen Lernprozesse machen können, begrifflich scheinbar noch zu kurz. Erst dann, wenn sie auch diese Lernprozesse selbst entwerfen, werden sie wirklich autonom, denn im Entwerfen kommt der Mensch zu sich selbst, denn das Entwerfen ist das Erzeugen von Welt. „’im entwurf nimmt der mensch seine eigene entwicklung in die hand’“, zitiert von Borries den Designer Aicher, denn „’entwicklung ist beim menschen nicht mehr natur, sondern selbstentwicklung’. […] Entwerfen, verstanden als Gegenteil von Unterwerfen, ist die praktische Umsetzung der Aufklärung.“ Dies verleiht einer solchen Sicht auf Design und Gestaltung von Lernprozessen eine Gefährlichkeit: „’entwerfer sind gefährlich, gefährlich für jede hoheitliche autorität’.“ (14)
Hier deutet sich an, dass der Entwurf eines so verstandenen ästhetischen Lernens zwangsläufig Reibungen und Konflikte mit dem Bedingungsgefüge des Bildungskorsetts schulischer Bildung mit sich bringt und diesem Dissens auch nicht aus dem Weg gehen darf. Kunst und Design, Formung und Gestaltung sind immer Weiterentwicklungen und auch Gegen-Entwürfe zu Vorgefundenem und treten aus diesem Grund grundsätzlich mit einer Fragehaltung in Opposition.
Mit Kant, so von Borries, könnte man sagen: „Entwerfen ist der Ausgang des Menschen aus seiner Unterworfenheit.“ (15) Auf Marx rekurrierend, der von einer „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ und einer damit einhergehenden „Entfremdung“ im Kapitalismus ausging, weil die Menschen sich gegenseitig nur noch in ihrem Warencharakter sehen würden, erinnert von Borries daran, dass sich die Menschen in Folge gegenseitig wie Sachen behandeln. „Die Gesellschaft, in der diese Form von Entfremdung möglich ist, baut auf einer Täuschung auf. Es scheint als ob nicht die Menschen selbst, sondern Waren ein gesellschaftliches Verhältnis eingehen würden.“ (17-18) Aus dem Blickwinkel einer Design-Theorie kann diese Verdinglichung auch verstanden werden als „die Verdinglichung von Bedingungen durch Design.“ (18) Die Folge dieser Perspektive könnte sein, dass dann „die Lebensumstände, in denen sich die Menschen in der Welt befinden, als Produkte, als Designobjekte verstanden werden“ können. (18) Diese träten materiell oder strukturell in Erscheinung. „Design im Sinne des Begriffs De-Signum, der Ent-zeichnung (vgl. Flusser 1993, S. 9), legt offen, welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, kulturellen Bedingungen der Gestaltung der Dinge zugrunde liegen. Design kann damit Ausdruck von Normen, aber auch von Ängsten und Hoffnungen verstanden werden: Es verdinglicht die Bedingungen. So werden diese anschaulich, greifbar und entfalten ihre Rückwirkung auf den Menschen. Gleichzeitig werden dadurch die Bedingungen zum Gegenstand von Design.“ (18)
Von Borries Ausführungen erinnern stark an die Diskussion um den Friedensbegriffe in den 1970er Jahren. Einem „negativen“ Friedensbegriff, der lediglich die Abwesenheit von personaler Gewalt voraussetzte, wurde ein „positiver“ Friedensbegriff gegenübergestellt, der als Voraussetzung von Frieden die Abwesenheit von personaler und struktureller Gewalt formulierte und die Forderung nach optimalen Entfaltungsmöglichkeiten von Individuen und Gesellschaften forderte.
In Borries Design-Theorie werden grundlegende Annahmen auch einer ästhetischen Theorie sichtbar, die in analoger Weise Arbeitsformen und Arbeitsweisen epischen (Brecht) bzw. postdramatischen Theaters formuliert. Es geht wesentlich um die Entschlüsselung der Werkzeuge und ihrer Sichtbarmachung während der Zeichengenerierung. Neben das Als-Ob einer geplanten Täuschen bzw. Illusionserzeugung des psychorealistischen Rollenspielens in der Black-Box durch die Zeichen des Theaters gesellt sich eine Spielweise, die die Bedingungen nicht nur gleichzeitig sichtbar macht, sondern auch offen mit ihnen spielt. Es wird dann auf der Bühne nichts mehr vor-gemacht, sondern es wird etwas gemacht. Die „Gemachtheit“ des Theaters wird zum Thema, zum Gegenstand, wird vergegenständlicht.
Mit dem Aufzeigen dieser „Gemachtheit“ geht der Blick des Publikums tiefer in die Prozesshaftigkeit und die Entstehungsbedingungen des Gezeigten. Auf diese Weise verschieben sich die Perspektive und der Fokus der Produktion und der Rezeption von (Theater-)Kunst auf grundlegendere Fragen: In welcher Weise findet das Weltentwerfen statt? Unter welchen Bedingungen werden „zweite Welten“ konstruiert (vgl. Pfaller 2012)? Wie wirken diese gemachten zweiten Welten, diese Weltentwürfe, auf das Alltagsleben zurück? Tritt an die Stelle des zuschauenden Objektes im naturalistischen Theater das mitgestaltende Subjekt im postdramatischen Theater, und tritt an die Stelle unterworfenen Sub-jektes der projektierende, gestaltende, designentwerfende lernende Mensch, der Schüler? Lässt sich kulturelle Bildung, lässt sich ein schulischer Theater-Unterricht, in dieser Weise designen, dass er zur Konkretion auch einer „politischen Design-Theorie“ werden kann, wobei der ästhetischen Arbeit die „Analyse der gestalteten Dinge (Gegenstände, Räume, Beziehungen)“ inhärent ist und damit in ästhetischer Weise „die jeweiligen politischen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen“ erschließen kann, beispielsweise durch Formen sogenannter ästhetischer Forschung? Unterwerfendes Design ist demnach „entmächtigend“ (21), entwerfendes Design ist ermächtigend. „Das entwerfende Design versucht deshalb, seinen Benutzern und Rezipienten echte Handlungsspielräume, Ermöglichungsräume für ihr Leben, zurückzugeben. Es stattet sie mit den Technologien, Werkzeugen, Instrumenten und Symbolen eines selbstbestimmten Lebens aus.“ (25)
Für die Theater-Lehrkraft und ihre Schüler „gilt also zumindest, die eigene Rolle, die eigene Involviertheit in bestehende Herrschaftsverhältnisse und ihre politischen, kulturellen und ökonomischen Systeme mit gestalterischen Mitteln zu analysieren – und die Ergebnisse dieser Analyse in der eigenen gestalterischen Praxis produktiv werden zu lassen.“ (26) Denn „das Ästhetische hat […] entwerfendes Potenzial, wenn es die utopische Möglichkeit in der sinnlichen Erfahrung zu – temporär – möglichen Wirklichkeit werden lässt. Durch dieses Vermögen kann Design als Instrument für gesellschaftlichen Wandel genutzt werden.“ (81) Denn „Design leistet dazu einen Beitrag, indem es mögliche Alternativen zur bestehenden Gesellschaft beschreibt und sinnlich erfahrbar macht – als Modell, als Bild, als Imagination. […] Das durch Design vermittelte Bild eines besseren Anderen wird zur Folie, von der über ein anderes Ideal des Eigenen nachgedacht werden kann.“ (82, vgl. auch 88, 89) „Als materialistisches Instrument kann Design einen konkreten Beitrag zur Transformation von Gesellschaft leisten, indem es Räume, Gegenstände, Kontexte zur Verfügung stellt, in denen bis dahin nicht vorstellbare Formen von Beziehungen gelebt werden können,“ (83)[3] auch wenn von Borries an anderer Stelle konstatiert, dass „die Kunst mit ihrem emanzipatorischen Befreiungsanspruch scheiterte.“ (85) Einziger Ausweg: „kritische Selbstreflexivität: in partizipativen Formen der Selbsthinterfragung, die die ganze Gesellschaft einbinden und Offenheit für Alternativen, Gegenmodelle, ja sogar Ablehnung schaffen.“ (87)
Eine echte Herausforderung!
Das Buch sei wirklich jedem ans Herz gelegt mit der Aufforderung, es mit dem Einsatz aller zur Verfügung stehenden Verstandesschärfe zu lesen und seine Schlüsse daraus zu ziehen (praktische Philosophie). Selten schaffen es Philosophen, sich auf eine Weise wie von Borries es schafft, in verständlicher Weise zu artikulieren (vgl. beispielsweise auch die Zeitschrift „Hohe Luft“).
Schauen wir, wie Menschen und also auch Theater-Lehrkräfte, die Herausforderung zu entwerfen als „moralische Verpflichtung“ annehmen, auf dass die Welt nicht „’by desaster’“ (Welzer) endet, sondern sich „’by design’“ (121) zu einem Besseren wendet.
Als Checkliste für Willige bietet von Borries ein Kaleidoskop von Designer-Typen an, deren Merkmale universell zu sein scheinen, ergo auch auf Theater-Lehrkräfte angewendet werden können (vgl. dazu z.B. die Checkliste für Theater-Pädagogen und auch die Merkmale eines guten Managements). Bei von Borries gibt es den kreativen Unterstützer, den reflektierenden Ermöglicher, den träumenden Gestalter, den radikal-opportunistischen Interventionisten, den temporären Aussteiger und den pragmatischen Schläfer (vgl. 125-127). Von Borries politische Designtheorie ist eine Aufforderung zu entdecken, in welcher Weise der Leser sein eigenes Weltentwerfen designen mag oder irgendwie selbst formt und gestaltet.
[1] „[…] Design ist das planvolle – also absichtliche, vorsätzliche und zielorientierte – Gestalten von physischen und virtuellen Gegenständen, innen- und Außenräumen, Informationen und sozialen Beziehungen. […]“ (9)
[2] „Diese hier behauptete Dichotomie entspringt dem Bedürfnis nach Klarheit, wohlwissend, dass die Trennlinien in der Wirklichkeit fließend sind und die besondere Wirksamkeit von Design sich entlang der unscharfen Trennlinien von Unterwerfendem und Entwerfendem entfaltet. Die hier vorgenommene Zuspitzung dient als heuristisches Instrument.“ (10)
[3] Als ein schönes Beispiel sei hier die Äußerung einer Schülerin zu ihren Mitschülern im Theater-Unterricht beschrieben, bevor dieser offiziell startete, die mit stolz geschwellter Brust erzählte, sie habe das zweistufige wertschätzende Feedback-Ritual, das sie im Theater-Unterricht kennen und schätzen gelernt habe („Gut gefällt mir … Ich wünsche mir …“), nun auch im Deutsch-Unterricht etabliert, um die Un-Kultur des sich gegenseitig ‚Runtermachens‘ abzuschaffen. Man könnte auch sagen, sie hatte das Design des Deutsch-Unterricht positiv umgestaltet.
Weiterführendes
- Pfaller, Robert 2012: Zweite Welten. Und andere Lebenselexiere. Frankfurt/ M: S. Fischer
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