Czerny, Gabriele 2010: Theater-SAFARI. Praxismodelle für die Grundschule. Braunschweig: Westermann. 270 Seiten – Rezension
Im Vorwort skizziert Czerny ihr Vorhaben. Sie möchte „einen praxiserprobten Beitrag zum Theaterspielen mit Schülern leisten.“ (10) Und „wendet sich in erster Linie an Lehrer der Primarstufe, Theaterpädagogen und alle die Freude daran haben, mit Kindern Theater zu spielen.“ (9) Ihre „Praxismodule sind für die Primarstufe entwickelt worden, geben aber auch Anregungen für die Orientierungsstufe.“ (9)
Mit einer pfiffigen Wortschöpfung möchte die Autorin alle Beteiligten auf Theater-SAFARI mitnehmen, auf „eine Reise, die Abenteuer verspricht.“ (9)
„Das SAFARI-Modell bezieht seinen Stoff (S) aus Vorlagen (Texte, Bilder, Filme, Lebenswelt). Der Auftakt (A) sensibilisiert die Schüler für ihren eigenen Körper, den Raum und die Gruppe. Eine Figur (F) wird lebendig durch den Schüler, der ihr über seine Gefühle, Vorstellungen und Körper einen individuellen Ausdruck verleiht. In der Aktion (A) improvisieren und gestalten Schüler gemeinsam Szenen, die Anstoß zur Reflexion (R) geben. Erst durch eine dramaturgische Verdichtung vieler Einzelimprovisationen entsteht eine Inszenierung (I).“ (7)
Inhalt
- Konzeptionelle Grundlagen
Das SAFARI-Modell
SAFARI-Bausteine
SAFARI-Grundgedanken
SAFARI-Bildungsziele
- SAFARI-Toolbox
Auftakt
A.1 Haltung einnehmen und Auftreten
A.2 Atem und Stimme erkunden – Sprache gestalten
A.3 Mit Bewegung Raum und Zeit erleben
A.4 Sich mit Körpersprache ausdrücken
A.5 Wahrnehmung schärfen
A.6 Entspannung üben
Figur – Figurentwicklung
B.1 Figurentwicklung durch Hüte
B.2 Figurentwicklung durch Tiere
B.3 Figurentwicklung durch die „Vier Elemente“
Aktion
C.1 Standbilder nach Themen
C.2 Standbilder nach Kunstbildern
C.3 Statusübungen
C.4 Improvisationsbeispiele
- Praxismodelle
„Bildungstheoretisch bündelt das SAFARI-Modell personale, ästhetische und sozialbildende Prozess bei Schülern.“ (7)
Hintergrund ihres Modells sind zeitgenössische Theaterformen. Ihr ist wichtig, dass die Kinder etwas über die Mehrdeutigkeit der Zeichen lernen und ihre vielseitigen Ausdrucksmöglichkeiten kennen. Sie sollen lernen zu abstrahieren, zu verdichten und vor allem zu symbolisieren, d.h. bildhafte Zeichen für Worte zu finden. Damit erwerben sie Verständnis für Inszenierungspraktiken von Alltagskultur und machen sich die Mechanismen der Präsentation und Inszenierung durch eigenes Tun transparent. (8) Theater bietet Chancen für Probehandeln und Ausloten von Grenzen. Die Hinführung zu selbstgesteuertem Lernen liegt ihr am Herzen.
Im Kapitel „Konzeptionelle Grundlagen“ entwickelt Czerny in überzeugender Weise ihr SAFARI-Modell und beschreibt die herausragenden Bildungsmöglichkeiten, die das Theaterspielen Grundschulkindern bieten kann, wenn man dabei einige grundlegende Dinge beachtet.
Schon hier fällt auf, dass die Autorin nicht aus den nebeligen Höhen einer wie auch immer sich darstellenden Theorie oder Didaktik des Theaters die realen Verhältnisse eher verschwommen als klar konturiert wahrnimmt. Hier schreibt eine theoriesichere Praktikerin, die es schafft in klarer und prägnanter Sprache ihr komplexes Konzept vorzustellen.
Es fällt weiterhin auf, dass ihre Setzungen meines Erachtens nicht auf Kinder in der Primarstufe bzw. die Orientierungsstufe (gemeint ist vermutlich die Jahrgangsstufe 5/6) beschränkt sind, sondern sie eher ein universelles theatrales Lernkonzept für alle Altersstufen erarbeitet hat, auch wenn die überzeugenden Beispiele in ihrem Buch speziell auf die Grundschule zugeschnitten sind. Allein die neun Grundthesen für die beschriebene theaterpädagogische Arbeitsweise verweisen schon sehr deutlich darauf.
Das übergeordnete Ziel von Czernys theatralem Konzept ist die „ästhetische Erfahrungsbildung“ (11) Diese beginnt bei der Persönlichkeit des Schülers und nimmt „seine Vorstellungen und Fantasien ernst und gibt ihm die Möglichkeit, sie auszudrücken und darzustellen.“ (11)
Sie greift postdramatische Einflüsse der gegenwärtigen professionellen Theaterlandschaft auf, in der es keine einengende Rollenverteilung mit der Absicht einer realistischen Spielweise gibt, sondern statt dessen Improvisation und Ensemblespiel bedeutend sind.
Czerny folgt allerdings nicht dem weit verbreiteten Dogma des postdramatischen De(kon)struktivismus und nur behaupteter Gleichrangigkeit aller theatraler Mittel und dem mehr oder weniger „freien“ Spiel mit ihnen, die keine bestimmte Wirkung mehr intendiert, sondern die Sinnkonstruktion dem Zuschauer überlässt. Vielmehr ist ihre Absicht, den Schüler zum „Konstrukteur“ (24) des theatralen Lern-Prozesses zu machen bzw. ihn als Lehrer dabei zu begleiten und zu unterstützen, indem Denken, Fühlen und Wollen zu einer ästhetischen Erfahrung verschmelzen.
Im theatralen Lernprozess erkennt die Autorin die zu erwerbende Empathie als zentrale Kategorie einer ästhetischen Erfahrung, die zwischen dem Ich und dem Bild vom Ich und dem Bild der Rolle bzw. der faktisch gespielten Rolle oszilliert.
Selbst- und Fremderfahrung und Perspektivenwechsel führen auf diese Weise zu einem erlebten und reflektierten „Sich-selbst-verstehen“ und einem empathischen „Fremdverstehen.“ (20)
Im ästhetischen Prozess spielt das Symbolische eine besondere Rolle, da sich mit ihm ebenfalls „Mehrfunktionalität und Mobilität“ (21) ausdrücken lassen. Symbole reduzieren und abstrahieren. „Die Schüler stehen vor der Aufgabe, den Stoff mit theatralen Mitteln wahrnehmbar und fühlbar zu machen. Mit ihren Körpern, mit Objekten und mit ihren Stimmen gestalten sie aktiv-handelnd den Stoff und machen ihn sichtbar und lebendig für den Zuschauer.
Das Theaterspielen gewinnt an Tiefe und Bedeutung, wenn die symbolische Bedeutung berücksichtigt wird sowohl auf der Figurenebene als auch auf der Beziehungsebene. […] Für Schüler ist dies heute besonders wichtig, denn diese Fähigkeit wird sowohl im Umgang mit Medien als auch in der sensiblen Interaktion mit Menschen benötigt.“ (21)
Die Schüler gewinnen auf die Weise „Einsichten in theatrale Prozesse und sind mitverantwortlich für die Gestaltung von Szenen und Bilden.“ (19)
Czernys Beschreibungen lesen sich auch wie das Gegenmodell zu einer eher dogmatischen Position, die dem Lehrer die Rolle des Regisseurs anheftet und die Schüler lediglich auf die Rollen von Schauspielern beschränkt und einengt.
Insofern hat Czerny ihr Konzept konsequent durchdekliniert und bremst die Kinder nicht auf halber Strecke durch autoritäre Bevormundung durch Lehrer aus, und nimmt die von den Schülern ausgefüllten „Leerstellen“ im theatralen Lernprozess ernst. „Ihre Darstellung erfolgt also nicht nach der Vorstellung des Theaterlehrers, sondern nach ihrer eigenen.“ (13 und 59)
Das darf nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden, denn im ästhetischen Prozess lernen die Schüler natürlich die theatralen Mittel und ihre Handhabung kennen und ausprobieren. Dafür ist die Lehrkraft verantwortlich. All das sind Voraussetzungen, wenn man das Ziel eines selbstgesteuerten Lernens ernst nimmt. Denn Lernen muss auch gelernt werden. Dabei muss die Lehrkraft natürlich anfangs führen und entsprechende Instruktionen geben. Dies funktioniert aber nur, wenn die Lehrkraft es schafft gemeinsam mit den Schülern ein Arbeitsatmosphäre zu erarbeiten, die grundlegend von Vertrauen geprägt ist.
Im Kapitel „SAFARI-Toolbox“ beschreibt die Autorin in klarer und genauer Sprache zahlreiche bereits seit langem und vielfach publizierte grundlegende Theater-Übungen.
Am Rande kritisch anzumerken ist allerdings, dass die Autorin dem weit verbreiteten Dogma zu huldigen scheint, die Schüler dürften nicht bewerten und hier einen vermeintlichen Schutzraum kreiert, der verhindert, dass sich Schüler Realität stellen und trainieren, damit umzugehen.
Auch ist ein Widerspruch in Czerny Konzept nicht aufgelöst, wenn sie einerseits fordert: „Die Schüler sollen dabei ihre Figuren nicht nach der ‚Regie’ eines Theaterlehrers entwickeln, sondern im Erproben eigener Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Figur Leben und Form geben. Entscheidend ist daher, dass ihnen Möglichkeiten gezeigt werden, wie sie Figuren entwickeln und angemessen verkörpern können, sodass sie im Prozess der Verkörperung neue Erfahrungen machen und nicht in Klischeevorstellungen verhaftet bleiben.“ (59)
Im folgenden Kapitel schlägt sie aber dann genau solche Übungen vor und gibt Anregungen, die genau die Klischeevorstellungen der Kinder evozieren, zeigt dann aber leider nicht, wie diese aufzulösen bzw. theatral zu bearbeiten wären (mit theatralen Mitteln, Techniken und Methoden), damit sie eben nicht einer platten Vorstellung verhaftet bleiben, sondern zu einer theatral-ästhetischen, metaphorischen, symbolischen Darstellung weiterverarbeitet werden.
Hier wäre eine Reflexion des Phänomens der Mustererkennung und seiner Funktion hilfreich und in welcher Weise es Theater leisten kann, durch verfremdende Techniken und Methoden dem eher naturalistisch Abgebildeten und Dargestellten einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen.
Die ausführlich und prägnant beschriebenen Beispiel aus dem Schulalltag zeigen umfangreiche und differenzierte Praxiserfahrung der jeweiligen Autoren und laden zum Nachmachen ein.
So oder so ähnlich sollte eine inspirierende Publikation sein, die einen nachvollziehbaren Bogen spannt und damit eine transparente Verbindung herstellt zwischen theoretisch-analytischen Setzungen und konkreten Beschreibungen von tatsächlichen Unterrichtsabläufen. Hier bedingt das eine das andere, geht das eine aus dem anderen hervor und fundiert seine Dignität in einer gehörigen Portion Erfahrung. Reflektierte Praxis eben. Oder angewandte Theorie.
Weiterführendes