Fopp, David 2016: Menschlichkeit als ästhetische, pädagogische und politische Idee: Philosophisch-praktische Untersuchungen zum »applied theatre«. Bielfeld: transcript. 416 Seiten – Rezension
Fopp schlägt in seinem Werk eine Brücke zwischen scheinbar Ungesellschaftlichem wie Schauspiel, Regiemethoden und Theater/ Darstellendes Spiel als Unterrichtsfach in der Schule auf der einen Seite und scheinbar Abstraktem wie Demokratie, Politik und Ökonomie auf der anderen Seite, indem er Menschen als soziale Wesen mit Körperlichkeit und Phantasie in den Fokus der Betrachtung stellt.
Dabei zeigen sich – so Fopp – (Schauspiel-)Räume als Aus- und Einbruchsorte eines menschlichen Geistes, dessen Entfaltung eine radikale gesellschaftliche Transformation erfordert, diese aber auch selbst konkret vorzeichnet.
Inhalt
Einleitung
- Die drei Grundphänomene | 9
- Phantasie – zur Mechanik der Lebendigkeit | 29
- Methode und Norm: Philosophie des „applied theatre“ als kunstbasierte Forschung | 34
- Geschichte herstellen – demokratische Aus- und Einbruchsorte | 43
- Universitäre Rationalität im Verhältnis zur Idee der Menschlichkeit | 47
TEIL I: DIE KOMMUNIKATIVEN GRUNDLAGEN DES SCHAUSPIELENS
1. Kapitel: Zusammen schauspielen
- Zu dem, was man an Schauspielschulen lernt | 53
- Die Entdeckung der Imagination – zu den Übungen der psychologischen Tradition (Stanislawski, Strasberg, Batson, Donnellan) | 64
- Der Integritätsraum – zu den Improvisations-Übungen des intersubjektiven Ansatzes (Meisner und Johnstone) | 84
- Schauspieltraining als Pädagogik der Menschlichkeit | 110
- Zum methodischen Status der Übungen – Pädagogik und politische Anthropologie | 114
2. Kapitel: Fundamente einer menschlichen Antropologie
- Methodische und theoretische Einleitung | 117
- Die gesellschaftlich-sozialen Bedingungen | 121
- Die sozial-psychologischen Bedingungen (zu Bowlbys und Ainsworths Bindungstheorie) | 125
- Die physiologischen Bedingungen (zur Alexandertechnik) | 128
- Die intersubjektiven Bedingungen (zu Daniel Sterns Entwicklungspsychologie) | 137
- Die neuro-psychologischen Bedingungen (zur Theorie des Gehirns bei Levine, Fogel und Immordino-Yang) | 144
- Die imaginativen Bedingungen
(zur Phantasiereise – eine Integration aller Perspektiven) | 151 - Die philosophischen Bedingungen
(zu Merleau-Pontys Gestalttheorie) | 160
3. Kapitel: Empathie und Theatertherapie
- Schauspielen, Verlebendigen und Verschwurbeltsein | 177
- Zur Idee der Theatertherapie | 189
TEIL II: ZUR POLITISCHEN ÄSTHETIK VON INTEGRITÄTSRÄUMEN
4. Kapitel: Das figurale Denken der (Film-)Kunst
- Anforderungen an eine ästhetische Theorie | 203
- Figuren jenseits von Formen und Symbolen | 207
- Figuren und die Struktur der Gestalt | 214
- Die Eröffnung eines Integritätsraums durch das Filmbild | 218
- Film(-geschichte) als Suche nach einer gemeinsamen Utopie | 220
- Sehen, Denken und Artikulieren | 225
- Utopie: Menschliche Räume und die Aufhebung der Kunst (Bergman, Scorsese, die Dardenne-Brüder und Meier) | 228
5. Kapitel: Ästhetische Theorien und die Dimensionen des „Kontaktes“
- Die „Theory“-Theorien | 235
- Poststrukturalismus und Neuere Kritische Theorie (Menke und Rosa) | 237
- Feminismus – Nina Björks Disney-Kritik | 241
- Marxismus – Eagletons Kunst- und Kulturtheorie | 245
6. Kapitel: Lebendigkeit und wer sie ausleben darf
- Ein Perspektivenwechsel | 253
- Daldry im Schnittpunkt von Theater und Film | 254
- „Billy Elliot“ – eine Analyse | 254
- Daldry und das politische Gegenwartstheater | 260
7. Kapitel: Regieführen als Herstellen einer Szenerie
- Katie Mitchells Verständnis von Geschichte(n) | 267
- Wann geschieht etwas wirklich – das „Ereignis“ | 269
- Ästhetische und politische „Szenerien“ | 273
8. Kapitel: Natur, Technik und Phantasie als Formen von Energie
- Phantasie jenseits von Technik und Natur | 281
- Hegels Blick auf die Funktion von Kunst | 282
- (Film-)Geschichten und Jugendbücher – die Entfaltung der Gestalt-Dimension in „Avatar“, „Titanic“, „Wall-E“ und „Krabat“ | 285
- Politische Veränderung – Gestalt-Energie in Bildung und Wirtschaft | 291
9. Kapitel: Logik, Wahnsinn und (skurrile) Menschlichkeit
- Einleitung | 295
- Logik und Rationalität in der modernen Philosophie | 296
- Intelligenztypen im Anschluss an Gardners Pädagogik | 299
- Imagination und Vernunft | 300
- Philosophie und die Idee der Menschlichkeit | 301
- Exkurs: Die Irrationalität des Phantasielosen – zum Grundkonflikt von „Harry Potter“ | 303
TEIL III: DEMOKRATIE UND IHRE INTEGRITÄTSRÄUME
10. Kapitel: Demokratie und die Idee der Menschlichkeit
- Demokratie im Kleinen und im Großen | 313
- Form und Inhalt | 318
- Drei Ingredienzen von demokratischen Räumen | 322
11. Kapitel: Menschliche (Schul-)Bildung – zu einer Pädagogik der (theatralen) Imagination
- Zwei Bildungsmodelle | 325
- Die Schule als normativer Raum – eine Geschichte der „drama education“ | 327
- Ein Vergleich der wichtigsten Lehrbücher im Fach „Theater/Darstellendes Spiel“ | 335
- Bildungstheoretische Konsequenzen | 350
12. Kapitel: Transformation der globalen Gesellschaft – Integritätsräume in Wirtschaft, Recht, Religion und Politik
- Interpretationen der Gesellschaftsordnung | 357
- Menschliche Wirtschaft und ihre Sektoren | 359
- Gerechtigkeit, Recht und Menschlichkeit | 372
- Zur politischen Idee der Menschlichkeit (und zu ihrem Verhältnis zur Religion) | 376
13. Kapitel: Den menschlichen Blick erforschen – zur universitären Bildung
- Die drei Herausforderungen | 389
- Folgerungen für den methodischen (Rück-)Blick | 391 3. Der Bildungsraum als menschlicher Raum | 392
- Das eigene Denken – Denk-Figuren | 396
- Noch einmal: den menschlichen Blick erforschen | 397
Epilog | 399
Dank | 402
Abbildungsverzeichnis | 403
Literaturverzeichnis | 404
Die Buch-Idee
Fopp untersucht das „applied theatre“ mit seinen drei Bereichen von Theaterpädagogik (Darstellendes Spiel), von politischem community-Theater und von gesundheitsförderndem Theatermachen. Dabei verbindet er diese drei gegenwärtigen Strömungen miteinander.
In Zeiten von „alternativer Fakten“, engstirnigem Nationalismus, dem problematischen Umgang mit Energiequellen und gewaltsamer Konflikte geht das Buch der Frage nach, worauf es eigentlich in unserem globalen Miteinander ankommt. Worauf sollte geachtet werden, wenn soziale Räume der Bildung, aber auch politische Räume der Verteilung von Ressourcen eingerichtet werden. Fopps Zauberwort heißt „Integritätsraum“, einen Ermöglichungsraum für alle Menschen, der ihnen frei von personaler und struktureller Gewalt Entwicklung erlaubt.
Das Fach „Darstellendes Spiel“ und seine Lehrmittel im internationalen Vergleich
Ein zentrales Kapitel des Buches stellt sich die Frage, was man im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel lernt oder lernen sollte und wie sich das in den Lehrmitteln, die es international gibt, spiegelt.
Das Kapitel beginnt mit einem kurzen historischen Überblick über die Entwicklungen des Schultheaters und des Theatermachens mit Kindern und Jugendlichen.
Fopp strukturiert aufgrund seiner Analyse des internationalen Forschungsstandes in Bezug auf „drama education“ die Entwicklung in drei große Abschnitte. Im Fokus der Forschung des ersten Abschnittes von ca. 1900 bis ca. 1970 „steht oft die Aufführung samt ihrer didaktischen Vorbereitung. In einem zweiten Schritt wurde dieses Konzept von Aufführung und Theater radikal – politisch-pädagogisch motiviert – in Frage gestellt.“ (334)
Den zweiten Abschnitt von ca. 1970 bis ca. 2000 bezeichnet Fopp als die Bewegung der „Dramapädagogik“, die sich explizit gegen die Theaterpädagogik wendete und in den Mittelpunkt ihrer Arbeit die Grundlagen der Kommunikation und das freie spontane Improvisieren und das Durchschauen von Herrschaftsverhältnissen stellte.
Hier zeigen sich zu den Schwierigkeit der Definition eines Forschungsbereiches zusätzlich die Probleme der international unterschiedlich und damit auch missverständlichen Formulierungen und Begriffsbildungen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.
Die dritte Phase sieht Fopp ab den 2010er Jahren, in der das Thema auch in der Forschungsliteratur deutlicher als „drama education“ bzw. des „applied theatre“ sichtbar werde, das vermehrt die Lebenssituation der Kinder direkt zum Thema mache und als Alternative zum Bildungswesen gelten möchte.
Für alle drei Epochen sieht Fopp aber denselben pädagogischen Grundimpetus: „Beim Zusammen-Theater-machen eröffnet sich eine Alternative, die das Lernen in den körperlich-sozial- imaginativen Ressourcen der Kinder und Jugendlichen verankert und zusätzlich die kritische Reflexion und die gegenseitige Unterstützung als demokratischer Grundkompetenz anregt.“ (334)
Das Zentrum des Kapitels bildet ein Vergleich der internationalen Lehrmittel, die im Theaterunterricht eingesetzt werden. Nach seinem Vergleich von Standardwerken u.a. des englischsprachigen Raums (inklusive USA, Australien und Kanada) wie „Dramawise” verweist Fopp auf „ein Musterbeispiel für diese bildungspolitische Entwicklung, […] das ambitioniertes und komplexeste Lehrbuch für ‚Theater/ Darstellendes Spiel’, das es zur Zeit auf dem Markt gibt; das deutschsprachige Buch „Darstellendes Spiel“ vom Klett-Verlag (List/ Pfeiffer 2009).“ (339)
Fopp benennt dabei seine Untersuchungskriterien: Was wird da von wem gelehrt und welches Menschen-, Bildungs- und Gesellschaftsbild steht dahinter und wird vermittelt? Zwei Traditionen macht er dabei aus. Die eine stellt abstraktes bildungsbürgerliches Wissen in den Vordergrund und die andere die Praxis des Theatermachens auch als eine Form des gemeinsamen Welterforschens.
Fopp weist auf eine ungeklärte Lücke zwischen den schulischen und universitären theatralen Arbeitsfeldern und auf einen Paradigmenwechsel in schulischer Theaterarbeit hin:
„Lehrmittel wie ‚Dramawise’ und ‚Kursbuch Darstellendes Spiel’ stellen (…) praktische(s) Wissen ins Zentrum. Was aber fast noch wichtiger ist: Sie verstehen das Theaterfach nicht einfach als Ort der Vermittlung dieser Kompetenzen. Sie wollen vielmehr den Jugendlichen einen Ort und Rahmen geben, an dem sie dies alles selbst ausprobieren und erforschen können. Theater wird so zum Forschungsraum (…) Durch diesen Umstand kommt es zu einer Kluft zwischen dem Wissen, das in den Lehrmitteln steckt und der Lehre und Forschung, die an den bedeutendsten Schauspielschulen geschieht (…) Die Rolle des Pädagogen und der Regisseurin ist in sämtlichen Lehrmitteln merkwürdig unterrepräsentiert, wie wenn es sie mit ihrem genuinen Wissen gar nicht gäbe (…) Bei den meisten gewöhnlichen Lehrmitteln sind die Bücher so etwas wie ein grundlegendes Konzentrat der wichtigsten Forschung auf dem jeweiligen Gebiet. Biologie-Lehrbücher, Geschichts- oder Geographie-Lehrmittel sollen gerade das ‚vermitteln’, was an Universitäten als gesichertes Wissen gilt. Es sollen die grundlegenden Konzepte, Fakten, Begriffe und Zusammenhänge dargestellt werden, so dass die, die nicht weiter studieren, das Wichtigste mitbekommen haben; und die, die sich darauf spezialisieren wollen, eine tragfähige Grundlage erhalten (…) Es handelt sich bei diesem Ansatz (des Kursbuchs) um eine radikal neue Bestimmung des Faches ‚Darstellendes Spiel’.“ (Fopp (2013): 25-29)
Bildung und Jugendbücher
An die Analyse von Theater-Schulbüchern schließt sich ein kritischer Blick auf die Normen an, die die Sphären der Schule und Bildung (später auch die universitäre Forschung) prägen. Hier wird der Begriff der Idee der Menschlichkeit eingeführt, der das Durchschauen von Herrschaftsverhältnissen und das kreative kooperative Zusammenspiel umfasst. Damit wird das „Darstellende Spiel“ zu einem möglichen Zentrum von Bildung überhaupt – als demokratisches Projekt.
Diese Idee wird auch an die klassische Jugendbuchliteratur und die in ihr skizzierten pädagogischen Beziehungen zurückgebunden. Ein ganzes Kapitel ist der Kritik der Harry-Potter-Bände gewidmet, in denen Magisches und Sozial-körperliches entkoppelt wird. Dagegen werden in Jugendbüchern (wie „Emil und die Detektive“, „Emil in Lönneberga“, „Krabat“, „Momo“) und Filmen („Billy Elliot“, „Wall-E“) philosophische Projekte Ernst genommen. In ihnen wird, so die These, nach und nach eine ganz spezifische Idee der Menschlichkeit in unterschiedlichen Konzepten erforscht, die im Theaterspielen und Theatermachen weiter erkundet und entfaltet werden können.
Fopp weist auf die Besonderheiten ästhetischer Forschung und deren Output hin, „weil ihre Forschung immer auch praktisch vor sich“ gehe. Das zeige sich zum Beispiel daran, dass sie oft ihre Forschung in Form von sogenannten Workbooks aufzeichnen und vermitteln, nicht als abstrakt akademische Texte. Dies gilt für die zentralen Größen im Feld wie Keith Johnstone („Impro“), Viola Spolin, Clark/Carey, Bridet Panet, Barbara Houseman, Declan Donellan und so weiter und so fort. Es wäre absurd, ihr Wissen nicht als genuines Forschungswissen zu bezeichnen; und sie haben den stärksten Einfluss auf das gesamte Feld des „Darstellenden Spieles“ – dennoch haben sie an Universitäten und Hochschulen, im Bildungssystem keinen Platz.
Das sagt Entscheidendes über dieses Bildungssystem, das sich endlich von den Faktoren Imagination, Leiblichkeit und sozialer Interaktion, also den Gründen demokratischer Praxis, prägen lassen sollte. Zarte Ansätze kann man etwa an der Universität der Künste in Berlin sehen, die einen neuen Bereich ‚Theaterforschung’ eingerichtet hat. Sowie die Freie Universität ebenfalls in Berlin mit ihrem Fokus auf ‚angewandtes Theater’“. (Fopp (2013): 29)
Weiterhin führt Fopp in seiner Übersicht aus, wo der Fokus der internationalen Forschung liegt, wenn es darum geht, wie das „was im Schulzimmer oder dem Theatersaal im Unterricht geschieht, beschrieben und erforscht werden kann“ und konstatiert: „Dadurch steht selten das konkrete Handwerk, wie etwa szenisches Gestalten vor sich geht, im Mittelpunkt. Auch deswegen hat wohl die Forschungslandschaft so wenig Einfluss auf die Produktion der Lehrmittel.“ (Fopp (2013): 29)
Fopp fordert: „Theater als Fach, verstanden als Ort der Vermittlung und Erkundung des demokratischen Handwerkes, des Spielens mit und Etablierens von menschlichen Beziehungen auf gleicher Augenhöhe mit ausgebildeten uniken Stimmen, hätte nicht nur einen zentralen Ort im Schulgeschehen verdient, sondern genau so an der Universität. Von ihm aus könnte neu gedacht werden, was überhaupt Bildung, und vor allem die Geisteswissenschaften sind; was ihr Thema, ihre Funktion, ihre Methoden – jenseits eines isolierenden, kopflastigen, scheinbar wertneutralen, schriftzentrierten, die Persönlichkeit und die Phantasie ausgrenzenden kompetitiven Systems. (…) Die Fachforschung im Bereich Schultheater (‚drama education’) wie sie sich etwa in den Sammelbänden von Taylor (1996) und Pinker (2008) oder an Konferenzen wie IDEA (international drama education association) und IDIERI sowie in Zeitschriften wie der englischen RiDE präsentiert, ist wie oben schon angedeutet mit weitgehend (quantitativ gesehen) zwei Projekten beschäftigt. Nämlich damit,
– Theater/Drama überhaupt als Fach anzupreisen und den Nutzen und die Auswirkungen hervorzuheben. Als Resultat dieser Bemühungen kann das DICE-Projekt der EU gesehen werden. Forscher aus acht verschiedenen europäischen Ländern haben dabei minutiös nachgewiesen, wie der Theaterunterricht sogenannte „Kernkompetenzen“ der Schülerinnen verbessert.
– Sowie damit, Forschungsmethoden zu diskutieren, zu testen und zu präsentieren, wie konkret das, was im Schulzimmer oder dem Theatersaal im Unterricht geschieht, beschrieben und erforscht werden kann.“ (Fopp (2013): 30)
Fopp spitzt seine Position zu, wenn er sagt: „Dabei handelt es sich nicht nur um ein fachliches, sondern auch um ein Machtproblem: wie oben schon angedeutet, sind die Theater-Praktiker bereits institutionell marginalisiert – sie lehren selten an Universitäten oder Hochschulen; ihr Wissen taucht marginal in der Forschung auf; und ihr basis-demokratisches Weltbild geht nicht ein in den forschungsmäßigen Herrschaftsdiskurs. Die Herausforderung ist es, diese Machtverhältnisse zu ändern.“ (Fopp (2013): 32 Anmerkung 7)
Fopp verweist hier mit Recht auf einen nicht leicht aufzulösenden Widerspruch bei der Arbeit im Theaterunterricht, der es doppelt notwendig macht, dass die Schüler von einem kompetenten und gut ausgebildeten Theaterlehrer betreut werden, wenn es darum geht den Kompetenzzuwachs zu überprüfen: „Zunächst einmal: Wenn jemand nicht tief und klar atmen kann, sollte dieses ihm oder ihr eher Respekt entgegengebracht und weiter geholfen werden. Die dabei sich lösenden Spannungen sind dabei nicht einfach Fehler (wie in der Mathematik oder dem Sprachunterricht), sondern bergen in sich oft wichtige Geschichten. Das Ziel von Theater/Darstellendes Spiel sind – teilt man diese Kritik am Kompetenzdenken – nicht „perfekte bewegliche Körper“ wie dies die Tanzlehrerin Gun Roman an der Stockholmer Tanzakademie ausdrückt, sondern das sorgfältige und klug angeleitete Erkunden der eigenen Person im Zusammenspiel mit anderen; das Aufbauen eines menschlichen sozialen Raumes, in dem so viel Vertrauen herrschen kann, dass er es erlaubt, sich an die eigene Phantasie im Zusammenspiel anzukoppeln. Genau dann wird jeder Schüler auch anfangen, freier zu atmen.“ Und „Dies wäre bereits eine dritte Antwort auf die Frage, worum es eigentlich im Fach „Theater“ geht. Sie läuft der ersten, dass es um Schauspiel-Kompetenzen der Einzelnen geht, entgegen – und ist deswegen in den modernen Lehrbüchern oft vernachlässigt. Und damit auch die Rolle der Lehrerin, die für diesen gemeinsamen sozialen Vertrauensraum verantwortlich ist.“ (Fopp (2012): 11f)
Zum Phänomen des In-Kontakt-Seins und des Neben-sich-Stehens
Den philosophischen Kern des Buches bildet das zweite Kapitel, in dem auf sozialpsychologischen, physiologischem (also muskulären) und auch neuropsychologischen Gebiet beschrieben wird, was es heißt, wenn ein wirklicher begegnender Kontakt zu sich und Anderen zustande kommt; etwa wenn bei Kindern eine Begeisterung für ein Stoff zustande kommt. Das Gegenteil davon, die verschiedenen Formen des Neben-sich-Stehens (vom Verschwurbeltsein bis hin zum pathologischen Kontaktverlust), werden als Entfremdung beschrieben. Entsprechend wird im ganzen Buch nach den politische Bedingungen gefragt, die solches Neben-sich-Stehen erzwingen oder beseitigen.
Dabei werden Theorien präsentiert und Übungen vorgeführt, die ganz konkret in der zwischenmenschlichen Interaktion zeigen, wie sich ein Kontakt herstellen lässt: von der Alexandertechnik bis hin zu Schauspielübungen. Das erste Kapitel vertieft sich mit den wichtigsten Übungen der heutigen Schauspielschulen vor allem Londons. In ihnen geht es um das spielerische Aufheben von Herrschaftsverhältnissen und das gegenseitige Einrichten von etwas, das im Buch „Integritätsraum“ genannt wird.
Für eine globale politische Bewegung
Daraus ergibt sich dann für den letzten Teil des Buches die Frage, welche Bedingungen nötig sind, damit so ein „Integritätsraum“ für jede Kreatur zustande kommen kann – in einer neuen Sicht auf das Wirtschaften sowie den Finanz-, Bildungs- und Gesundheitssektor. Damit öffnet sich das Projekt auf Fragen der Demokratietheorie und des politischen Engagements.
Anstatt aber abstrakt nach dem zu fragen, was Gerechtigkeit oder Freiheit und Gleichheit wären, versucht der Autor hier, eben diese Fragen zurückzubinden an die ganz konkreten menschlichen Räume, die für das In-Kontakt-Kommen und Begegnen nötig sind und in denen Entfremdung und gegenseitiges Ausnutzen verschwinden können. Die Logik des gesellschaftlichen Miteinanders müsste sich dann vom konkurrierenden Gegeneinander in ein stützendes Miteinander ändern. Dies setzt einerseits bereits in der Schule eine andere Grunddynamik voraus; und ist andererseits in der heutigen Welt nur global zu organisieren, wenn inkludierende Verhältnisse nicht plötzlich in gewaltsame Exklusion umschlagen sollten.
Der Epilog skizziert entsprechend das Projekt einer neuen globalen politischen Bewegung. Ihr Ziel und Thema ist die gemeinsame Eröffnung eines Integritätsraums für jede Kreatur mitsamt den zu teilenden Ressourcen, die für ein würdevolles Leben gebraucht werden. Die Sicht, die eine solche Bewegung voraussetzt, aber auch anstrebt, wird als „magische Revolution“ bezeichnet: Sie verpflanzt die Intuition für Menschlichkeit mitsamt dem sozialen Vermögen der Phantasie ins Zentrum des sozialen Lebens.
Weiterführendes
- Fopp, David 2013: Ausbruch und Zuwendung – eine Einführung in die Ästhetik. Philosophisch-praktische Essais zum „applied theatre“/Angewandten Theater TP1. Das Film- und Schauspielbuch. Edition TP1 Band 3 Theater & Pädagogik. Theorie & Politik. Stockholm: Edition TP1 (unveröffentliches Manuskript)
- Fopp, David 2012: Menschliche Räume. Edition TP1 Das Workshop-Buch. Stockholm: Edition TP1
- Haseman, Brad/ O’Toole, John 1989: Dramawise. München: Heinemann
Friedhelm Roth-Lange meint
Die Rezension gibt einen Hinweis auf eine sehr wichtige Publikation und macht neugierig.