„Genug gespielt. Jetzt wird’s ernst.“[1]– Theater und Politik [Pamphlet]
Meine Güte! Theater und Politik. Was fließt da nun alles zusammen? Und wie?
Wie kann man sich in einem so überaus komplexen Geflecht, einem scheinbar undurchdringlichen Formen- und Bedeutungsgewirr orientieren, geschweige eine Karte der Zusammenhänge, der Perspektiven und der Beeinflussung entfalten? Als ob das Zerfließen der Kunstgrenzen bzw. das Zerstückeln der zarttransparenten Schleier in der Postmoderne, die sich die Gattungen als Selbstverständnis-Selbstverständungs-Hilfen umgelegt haben, nicht verwirrend genug wäre. Oder wird einfach nur eine vermeintlich neue Sau durchs Theaterdorf getrieben? Weil‘s gerade passt.
AUSGANG aus der selbst verschuldeten Mü(n)digkeit? –
Theater-Pädagogen, -Lehrkräfte, -Macher und -Wissenschaftler zwischen Größenwahn und Selbstverliebtheit.
Seit der Kampfruf einiger professioneller Theatermacher erschallte (im Chor häufig auch Studenten und Absolventen des Gießener Fachbereichs Angewandte Theaterwissenschaft): Zerstört die Theaterkunst! oder in Postdramatik-Sprech: Dekonstruiert das Drama! Wobei das Destruieren bisher recht gut klappte, zum „kon“ reichte es aber zumeist noch nicht. Die Konstruktion, die neue Komposition bleibt häufig beliebig-flaches Stückwerk, das wortschwallig überborden erklärt werden muss. Da heißt es dann beispielsweise „Ready-mades“, „Anleihen aus der Popkultur“, mit „Reenactments“, mit neuem „Framing“ mit neuen „Rules“, wir machen jetzt „Performance“ und sollen uns wieder in „Gefahr“ („Risk“) begeben; auch die Schüler im schulischen Theaterunterricht mit Lehrplänen und Noten sollen das. Am Ende sollte das „Gaming“ und die Zuschaueraktivierung („Erzwingung einer Aufmerksamkeitssteigerung“, die „Partizipation“ mit Gesellschaftsspielen mit allen im Theater) die wabernde Leere in den Köpfen zahlreicher Theatermacher und die Theater füllen.
Dies soll kein Widerspruch gegen die experimentelle Suche professioneller Theatermacher nach neuen ästhetischen Formen sein, wenn man schon keine Dramen mehr inszenieren möchte. Es ist vielmehr ein Plädoyer, nun den nächsten Schritt zu tun und das Destruierte wieder sinngebend zusammenzufügen und nicht beliebig, sondern bitte nach plausiblen und für ein Publikum nachvollziehbaren dramaturgischen Kompositionsideen (Brüche und Irritationen gehören natürlich dazu). Und natürlich gehört zum Theater seit Aristoteles bzw. eigentlich schon viel früher die Aufforderung ans Publikum, zu reagieren und irgendwie aktiv zu werden, sei es, indem es sich selbst befragt „Was hat das mit mir zu tun?“, sei es, konkrete Handlungen für sich im wirklichen Leben aus dem Bühnengeschehen abzuleiten.
„Alles Performance und kein Sein?“ (Vinken 2019)
Über einige Inszenierungen der aktuellen Theater-Kunstszene soll hier exemplarisch das Brennglas gehalten werden, wer und was im Moment unter dem Label „Zeitgenössisches Theater“ im Meer des Weltgeschehens segelt, kreuzt, dümpelt, havariert oder schon untergegangen ist. Also keine wissenschaftlich fundierte und breite Analyse, sondern Fokussierung auf einige Beispiele, an denen sich vielleicht besonders typische Merkmale für den aktuellen Modetrend „Theater und Politik“ und, ein bisschen weiter gefasst, vielleicht auch Merkmale, die den Zustand des sog. zeitgenössischen Theaters beschreiben. Versuchen wir eine erste begriffliche Differenzierung und sprechen nicht von Politik, sondern von dem Politischen, von dem politischen Aspekt im Theater.
Kunst wird dann sehr fragwürdig, wenn – wie kürzlich im Mousonturm Frankfurt gesehen – in einem weltweit gehypten Tanztheaterstück, der Zuschauer zu Beginn 20 Minuten zusehen muss, wie sich drei Akteure in Zeitlupe auf der Bühne um ihre eigene Achse drehen. Ein wenig später belästigt eine Akteurin eine Viertelstunde lang das Publikum damit, in einer offensichtlich improvisatorisch-experimentell-performativen Untersuchung herauszufinden, welche Geräusche sie mit ihrer Stimme machen kann, sprich: quieken, schreien, stöhnen, grunzen, gurgeln, krächzen usw. Ach ja, ich erinnere mich, in der sogenannten Postdramatik lautet die Zauberformel „Ausstellung der enthierarchisierten und gleichrangigen theatralen Mittel“. Anschließend robbt eine Frau 20 Minuten lang jammernd und heulend auf dem Bühnenboden herum. So geht es weiter mit allerlei Firlefanz und auch mal extatischen Bewegungsperformances dazwischen. Alles „untermalt“ von zwei Musikern, die live dazu „performen“. Der eine auf der Elektrogitarre, der andere als DJ bemühen sich improvisierend extrem lauten wummernden Psychosoundmix zu produzieren, vor dem man sich mit Gehörschutz, der einem schon an der Kasse empfohlen und ausgegeben wird, weil es „manchmal ein bisschen laut wird“, vor Gesundheitsschäden schützen soll. Na toll! Platteste Aufmerksamkeits- und Wirkungssteigerung bis die Ohren bluten!
Das reicht erstmal. Ich kann meinen Fluch(t)reflex kaum unterdrücken. Das ist Zuschauen bei Etüden in einem Proseminar Schauspielschule: Wir erkunden unseren Körper. Wir erkunden unsere Stimme. Wir erkunden unseren Raum. Das reicht mir leider nicht! Ja, alles ist Kultur, alles ist Performance, alles ist Selbstdarstellung, alles auch Mitmachkunst, alles gemeinschaftsbezogen, alles Theater und demnach auch alles politisch. Aber da waren wir schonmal. Das Tanz-Werk wird – für die Zuschauer, die es vom Anschauen nicht verstehen – wie folgt im Programmheft erklärt: „In ihrem jüngsten Tanzstück, das ebenso assoziationsreich wie emotional ist, begibt sich die Choreografin auf eine Reise in die menschliche Psyche – ausgehend von Besitzansprüchen und fiktiven Traumata. In einem aus unzähligen Glühlampen vom indonesischen Ausnahmekünstler Jompet Kuswidananto gestalteten Raum legen drei Tänzer*innen unerhörte Erinnerungsgeschichten frei. Mehr in Gesten als in erzählenden Handlungen treffen zu den treibenden Live-Sounds der experimentellen Musiker*innen Mieko Suzuki und Ikbal Simamora Lubys Körper aufeinander, um sich gleich wieder aufzulösen. Dunkelheit und Licht, Unbewusstes und Bewusstes, Ost und West, alles scheint in Verbindung treten zu wollen in einem Universum der Menschlichkeit. Gemeinsam bewegen sich die Performer*innen und Musiker*innen durch imaginäre und unsichtbare Räume und treffen auf Stimmen, die sie zum Schwingen bringen. Dieses Stück ist ein echter Trip. In einem Wort: Hypnotisierend!“
Der Lesende mag sich selbst ein Urteil über diese besondere Kunstform rhetorischer Unverbindlichkeit und Vernebelung bilden. So lesen sich übrigens zahlreiche Beschreibungen modernistisch-avantgardistischer Theaterkollektive bzw. so „klingt“ ihre erklärende Wortkunst im Nachgespräch, die manchmal ihre Theaterkunst zu ersetzen scheint durch Wortklangkunst, die das Hirn und die Reflektionsfähigkeit mit Text„flächen“ und Text„teppichen“ einwickeln und einschnüren. Kunstvolle Sprache ersetzt sprach- und inhaltslosen Kunstanspruch durch das postdramatische ‚Diktat‘ vom Ausstellen der „enthierarchisierten, gleichrangigen theatralen Mittel.“ Was bleibt ist seelenlose Technik, die der Rezipient, wenn er sich auf das hierarchische Partizipations-Spielchen Regisseur – Publikum einlässt, mit seinen eigenen Ideen und seiner eigenen Fantasie nachträglich füllen muss. Sonst wird die angeblich künstlerische Geste nur zur hohlen Pose, wird letztlich zur dürren Posse einer sich selbst entleibenden herz- und gedankenlosen Kunstform, die ihre Verantwortung an den Rezipienten – als vermeintliche Partizipation deklariert – abgibt. Oder wollen solche Textschreib-Künstler einfach nur unsterblich werden, indem sie versuchen, James Joyce nachzuahmen, der zu einem Freund – möglicherweise nur ironisch gemeint – gesagt haben soll: „Ich habe so viele Rätsel, Anspielungen und abstruse Denksportaufgaben in den Ulysses eingebaut, dass die Professoren Jahrhunderte brauchen würden, um herauszufinden, was ich nun genau damit gemeint habe. Das scheint mir der einzige Weg zu sein, sich die Unsterblichkeit zu sichern.“
„Theater, Museen und andere Kultureinrichtungen sind Orte,
an denen diese Gesellschaft über ihr Selbstverständnis, ihre Werte nachdenkt.“ (Khuon 2019)
Wie füllen Theatermacher ihre innere Leere und Einfallslosigkeit noch? Ach ja, die Welt sorgt sich wieder mal. Diesmal nicht Weltkrieg, Depression, Epidemie. Jetzt ist es das Klima, das Sorgen macht, und die Rechten, und die Rente und wieder mal der Ost-West-Konflikt usw. Dank IT und Internet jagen diese medial inszenierten Schockwellen der Aufregung durchs Weltdorf, und plötzlich fühlt sich jeder scheinbar angesprochen und wohl auch berührt – wie im guten Theater! Da ist Wirkung, erkennt der suchende avantgardistische Theatermacher. Das übernehmen wir! Jetzt machen wir auch Politik und Politische Bildung! Und die Rechtfertigung ist schnell gefunden. Da gibts doch was von … ach ja, aus der Theatergeschichte: Brecht, Forumtheater, Agitprop. „Ungezählt sind die Theaterarbeiten, die mit Deutsche-Bank-Logos, Mercedes-Sternen oder Videos von abschmelzenden Polkappen den globalisierten Kapitalismus anprangern. Des Kapitalismus mit bestimmtem Artikel, also im Kollektivsingular. Denn in der Abstraktion muss nicht in Rede stehen, was genau da eigentlich angeprangert wird: die Marktwirtschaft als solche? Oder ihr neoliberales Stadium? Die Finanzwirtschaft? Oder doch nur bestimmte ihrer okkulten Praktiken wie Leerverkäufe oder Kreditverbriefungskaskaden? Meist wird die Angriffsfläche nicht recht klar, weil die Geste der Empörung alles deckelt.“ (Rakow 2019)
„Ohne Solidarisierung wird die Geste hohl.“ (Rakow 2019)
Das passt, sagt sich der stumpf Brühtende und auf Einfälle hoffende Theatermacher. Jetzt holen wir die Betroffenen auf die Bühne, die wirkliche Realität. Und die stellen sich selbst dar und „erzählen“ ganz „authentisch“ von ihren Problemen. Die sog. Bürgerbühne ward geboren und „der Einbruch des Realen“ manifestiert sich. Den nächsten Schritt gehen wir auch gleich noch: Wir sagen dem Publikum – natürlich chorisch brüllend und der „neuen Kunstform“ des „Nicht-Perfekten“ (Jurké) huldigend – was es tun soll. Denn wir vom Theater, wir wissen es! Damit die Zuschauer wissen, wenn sie aus der Parteiveranstaltung … äh pardon … aus dem Theater gehen, wo und wie sie politisch aktiv werden sollen. Brecht hätte es ja auch so gemacht. Und die Leute müssen es so drastisch gesagt bekommen, sprich: angebrüllt werden. Die Parolen zur vermeintlichen Lösung der komplexen Weltprobleme müssen auf wenige Worte plakativ, also auf Plakaten, die Botschaft verdoppelnd, präsentiert werden, damit sie das Publikum auch tatsächlich aufnimmt. So scheint jedenfalls u.a. auch Volker Lösch zu denken (vgl. sein „Blaues Wunder“ in Dresden; Machowecz: 2019 und Kasch 2019).
Carl Hegemann formulierte schon 1993: „Das Theater als Propagandainstrument mit funktionalisiertem Kunstanspruch ist Predigen für Überzeugte, Einrennen offener Türen, und auf diesem Gebiet anderen, weniger musealen Medien hoffnungslos unterlegen. Als Anhängsel ist es nicht nur außerhalb seiner Möglichkeiten, sondern auch funktionslos im Sinne dessen, dem es sich verschreibt. Wer macht schon, was ihm von der Bühne aus gesagt wird, zumal wenn es nur eine eh verbreitete gesellschaftliche Sicht illustriert?“ (Hegemann 2005: 59)
Der Übergang vom Theater als symbolischer Reflex auf Individuum und Gesellschaft zur performativen Ausstellung „realer“ Menschen zeigt sich im sog. Bürgerbühnen-Format besonders deutlich: Echte Hartz IV-Empfänger, wirkliche Opfer einer Militärdiktatur, Pegida-Marschierer usw. Es zeigt sich in der Rechtfertigungsmetapher vom „Einbruch des Realen“ des sogenannten postdramatischen Theaters. Jetzt fehlt aber die theaterästhetische Vermittlung, die Jahrtausende lang Wesensmerkmal des Theaters war. Nun wird Wirklichkeit gedoppelt und nochmals auch auf der Theaterbühne ausgestellt. Natürlich ist diese Wirklichkeit auch theatral inszeniert und gestaltet, aber die Regisseure, die Theaterkollektive hatten das Spiel, das Spielen und Darstellen von Menschen, die den Zuschauer teilhaben lassen an ihren Qualen im Umgang mit ihren großen und kleinen Weltproblemen, das Theater immer so reizvoll macht, weitgehend liquidiert. „Wir wollen Zuschauerinnen und Zuschauer zum aktiven Engagement aufrufen.“ (Lösch im Rekrutierungs-Handzettel zur Gewinnung von Dresdner Bürgern, am Stück mitzuwirken.)
„Wir wollen Zuschauerinnen und Zuschauer
zum aktiven Engagement aufrufen.“ (Lösch 2019)
Und so ruft der als stinkautoritär bekannte Lösch, der nicht mit Bühnentechnikern über Inhalte diskutiert und Schauspieler als Werkzeuge betrachtet (Lösch: „Theater ist das letzte feudalistische System.“) seine Zuschauer auf, den Mund aufzumachen, mitzureden, Partei zu ergreifen und politisch aktiv zu werden und gegen die Rechten vorzugehen (vgl. Machowicz 2019). Autoritärer Aufruf zur Befreiung. Befreit euch endlich, ihre Schlappschwänze! Theater öffnet die gesellschaftlichen Gefängnistüren und zeigt euch die Freiheit, in die wir euch stoßen wollen. Auch im Schul-, Kinder- und Jugendtheater sind die Schreie zu hören: „Befreit euch!“
Und wenn das nicht reicht, muss die Immersion her (auch so ein als Propagandawort missbrauchter eigentlich einen grundlegendenden Sachverhalt im Theater bezeichnender zentraler Begriff), wie beispielsweise im „Gesamtkunstwerk“ DAU, dem aktuell stärksten Projekt einer Theater-Film-Performance-Welt-Kunst mit dem härtesten Anspruch an Immersion, also ans Eintauchen in eine andere Welt, die eigentlich kein „normales Theater“ in diesen Dimensionen zu leisten vermag. Obwohl, es gab da auch schon tagelange Non-Stop-Aufführungs-Beteiligungs-Events in Theaterhäusern. DAU fasst in einer Weise Theatrales, Performatives, Mediales, Partizipatives, Real-Fiktives, Laienspieler in einer Immersions-Wolke zusammen, die den Eintauchenden förmlich in Bann schlägt, wenn nicht gar in Ketten legt, wie das am Spielort in der Sowjetunion mit Regimekritikern real geschehen ist. Das Projekt verdichtet vermutlich alles, was in den letzten Jahren vom sog. zeitgenössischen, sprich experimentell-avantgardistische Profitheater an Anregungen vorgestellt wurde in bzw. an einem Stück: Virtualität, Algorithmen und Smartphone-Steuerung, Amateure spielen sich selbst, Performance (mit Superstar Marina Abramović, die u.a. mit ihrer „Performance“ weltberühmt wurde, in der sie ihr Publikum aufforderte, sie in echt z.B. mit Messern zu verletzen; sogar eine echter und geladener Revolver lag bereit[2]). Der Regisseur Ilya Khrzhanovsky gibt keine Auskunft darüber, was DAU ist, lässt sich niemals zitieren (ein russischer Mäzen finanziert angeblich seit vielen Jahren sein Projekt mit großen Millionenbeträgen). Beschreibungen seines Werkes nennt er nur „Bullshit“.
Was ist nun DAU, dessen Name zurückgeht auf den Physiker Lew Landau, über den zunächst nur ein Film gedreht werden sollte. „Zum DAU-Projekt kam es dann ungeplant während der Dreharbeiten in Charkiw,“ schreibt Radisch, „wo das Moskauer Institut als eine von der Außenwelt abgeschlossene futuristische Festung auf einem 12.000 Quadratmeter großen Gelände nachgebaut wurde, als eine Mischung aus Straflager und Zauberberg, eine eigene Welt, in der die russischen Wissenschaftler, mit Familien, Bediensteten und Angestellten streng überwacht lebten. Unzählige Wissenschaftler der UdSSR verschwanden wirklich für Jahre in solchen geheimen, auf keiner Landkarte verzeichneten Städten, wo sie bei Zuckerbrot und Peitsche gefangen gehalten wurden.“ (Radisch: 2019: 39)
„Der Jargon der Interaktivität
erweist sich oft als simpler Unterwerfungsgedanke.“ (Richter 2019)
Khrzhanovsky besetzte alle Rollen mit Laiendarstellern, die sich selbst spielen sollten. Berühmte Physiker spielten die berühmten Physiker, KGB-Agenten spielen KGB-Agenten, Neonazis um den mehrfach verurteilten russischen Neonazi-Aktivisten Maxim Martsinkewitsch spielten sich selbst usw. In der Projektzeit galten von 2008-2011, also drei Jahre lang, durchgängig und ausnahmslos die „Regeln der Spielzeit“. Historische Simulation einer Epoche „von 1938 bis 1968“ durch ein authentisches Bürgertheater. Der einzige Unterschied, es gab noch kein zahlendes Publikum, es wurde zunächst nur gefilmt; und zwar alles. Es sollte nichts gespielt sein. Es sollte alles echt und authentisch sein. „Nichts sollte gestellt sein. Sperma, Schweiß, Angst, Verzweiflung und Tränen, alles echt – und doch unter den Laborbedingungen eines rigiden Kino-Menschenversuchs“ inszeniert-performt hergestellt. Alle Akteure haben freiwillig mitgemacht. (Radisch: 2019: 39) Tja, und da verprügelten halt auch mal die authentischen Nazis den echten amerikanischen Performancekünstler Andrew Ondrejcak in echt-performativ. Das fand der aber echt Scheiße. „Nach dem Existenziellen und Authentischen“ wurde gesucht, nach „Not“, „Dringlichkeit“ und „Gefahr“. Wir kommen darauf zurück, wenn es darum geht, was Kinder in der Schule im Theaterunterricht lernen und erleben sollen.
Was sollte nun dieses begrifflich kaum zu fassende Gesellschaftspolittheater, diese „soziale Performance, Menschenzoo, Selbsterkundung, Psycho-Séance, griechische Tragödie, sowjetisches Big Brother, historisches Reenactment“ oder „psychologisches Kammerspiel“ oder oder oder erbringen? Oder nur ein „Spiel“ mit den Verletzungen und Traumata des 20. Jahrhunderts? Oder mal ganz präzise analysiert: „Dunkelheit und Licht, Unbewusstes und Bewusstes, Ost und West, alles scheint in Verbindung treten zu wollen in einem Universum der Menschlichkeit“? Jedenfalls wurde am Ende des Projektes das Institut in Charkiw abgerissen, die Laiendarsteller alle von den russischen Neonazis ermordet. Upps! Also das jetzt nicht authentisch-immersiv. Nur im Spiel. Also hier haben sie nur so getan als ob. Da war das Theaterstück „Milgram-Experiment“ doch deutlich präziser. Probanden erteilten den ihnen Unbekannten auf Order des Weißkittels vermeintlich tatsächlich die 450-Volt Stromschläge, d.h. sie waren davon überzeugt, dass ihre Opfer wirklich durch sie litten bzw. starben. Präziser kann eigentlich keine „Performance“ den Zusammenhang zwischen Theater oder dem, was man so das Politische nennt, sein. Oder? Ach ja, in Paris wurde DAU verrissen und in Berlin sollte DAU auch durchgeführt werden. Man verzichtete in echt darauf.
Der aufhaltsame Aufstieg politischer (Per)Formen im Theater.
Werfen wir mal einen ganz kurzen Blick auf die andere Seite jenseits des Theaters ins aktuelle politische Geschehen und lassen wir uns berühren und beeindrucken von einer jungen Frau, die kein Theater macht, aber wohl intuitiv eines der stärksten Mittel des Theaters gekonnt nutzt: die dramatische Pause: Emma Gonzales während ihrer Rede gegen den Waffenwahn vieler Amis. Sie nutzt treffsicher ein Kunstmittel und verstärkt damit die Wirkung ihrer inhaltlichen Botschaft. –
Versucht man vielleicht in einer kritiklosen Übernahme von z.B. Kunstformen wie der Performance, die aus der bildenden Kunst stammt, ins Theater, weniger aus dem Motiv, bewusst Gattungsgrenzen zu überschreiten (platte Rechtfertigung?) als die eigene Fantasielosigkeit mit Labeln und Plakaten wie „Readymades“, „Einbruch des Realen“, „Authentizität“ und „Partizipation“ zuzukleistern und eine junkiehafte Sehnsucht nach mehr Wirkung zu befriedigen?
In der realen Theater-Simulation soll auch wieder eine echte Gefahr eine Rolle spielen, wie es von der einen oder anderen Theater-Lehrkraft mittlerweile auch für ihre Schutzbefohlenen, ihre Schüler, unkritisch einigen vorplappernden Epigonen des sog. postdramatischen Theaters nachgeplappert wird.[3]
Wie tief soll die Immersion gehen, die die Schüler mit „Not“, „Dringlichkeit“ und „Gefahr“ (!) konfrontiert, wohl gemerkt: in performativer Echtheit, also im Realen und Wirklichen, nicht im Als-ob des Theaters? Wohin diese fromme Wunschvorstellung kritikloser Lehrkräfte führen könnte, zeigt beispielhaft real DAU. Ich kann mir nur schwerlich vorstellen, dass eigentlich recht kluge Theater-Lehrkräfte über die möglichen Konsequenzen ihrer unbedachten Forderung nach mehr Gefahr auch im Schultheater (mit Kindern!) in ihrem götzenhaften Anbeten von Priestern der Postmoderne auch nur einen Gedanken verschwendet haben.
Welttheaterverbände organisieren den ersten Welttheaterkongress zum Thema „Welttheaterprobleme“ –
Eröffnungsveranstaltung mit einer zeitgenössischen Intermedialen-Gamifikation-Partizipations-Performance.
Um das Ganze jetzt nochmal auf ordentliche Füße zu stellen. Es geht nicht darum, dass sich Theater nicht mit Politik beschäftigen soll. Die explizite thematische Verknüpfung von Politik und Theater eröffnet das Spektrum von der ausdrücklichen Beschäftigung mit z.B. tagespolitischen Themen wie in „Das blaue Wunder“ als (nahezu) 1:1-Abbildung von Wirklichkeit auf der Bühne auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Wirken politisch-gesellschaftlicher Dimensionen im Verhalten und Handlungen von Individuen aufblitzen oder sichtbar werden zu lassen. Wir wollen auf der Bühne sehen, wie sich Menschen in der Gemengelage von Individuum und Gesellschaft verstricken, kämpfen, weinen, lachen, verzweifeln, siegen oder untergehen. Wir wollen emotional mitleiden und auch rational darüber nachdenken, welche Impulse wir aus dem Theater in unseren Alltag mitnehmen können. Und wir wollen inspirierend und geistreich unterhalten werden. „Eine Theateraufführung, ein Schauspieler muss uns nämlich nicht die Staatsverschuldung oder das Problem eines Endlagers für Atommüll erklären oder die Präsidentschaft Trumps mit Fröschen und Fernsehkommentatoren illustrieren. Denn das sind nur Angebote, sofort damit einverstanden zu sein.“ (Hinrichs 2018)
Es geht um die Frage, in welcher Weise politische Themen im Theater verhandelt und ausgestellt werden sollen, also um eine ästhetische Frage, nicht um die Frage, welche Inhalte Theater behandeln sollte.
Hinrichs wendet sich klar gegen eine Verflachung von Theater durch die Eindimensionalität plakativer Abbildung politischer Aussagen und sagt sehr deutlich: „Was ist denn Theater, was kann denn Theater für uns sein? Theater kann ein kultischer Raum sein, ein Raum, in dem für einen Moment die existentielle Einsamkeit jedes Einzelnen in diesem darwinistischen Gesamtalptraum kollektiv spürbar wird, in dem Brücken geschlagen werden, in diesem Raum, für diesen Moment, lauter kleine zerbrechliche Brücken zwischen all diesen Individuierten, in ihrer eigenen existentiellen Notsituation Versammelten und für diesen kurzen Moment kann die Ahnung von Gemeinschaft, von einem gemeinsamen Träumen von Individuen entstehen, die alle in unterschiedlicher Art und Weise Schmerz empfinden, die alle in unterschiedlicher Art und Weise in Reibung zum gesellschaftlichen Kollektiv stehen. Der Schauspieler aber könnte in diesem Sinne dann ein Lebensmedium sein, für alle, die noch nicht erloschen sind.“ […] „Denn nicht die möglichst realistische Abbildung von Krisen ist primär politisch, sondern die Poesie ist es. Nichts scheint momentan politischer zu sein als Poesie. Sie ist da, dann wieder nicht. Sie befreit uns zur Spontaneität.“ Und „Eine ästhetische Erfahrung, die den Betrachter, die Betrachterin […] trifft, hat eine Wahrheit, die ich anders nicht erfahren kann. Und damit wir an der Wahrheit der Welt nicht zugrunde gehen, dafür brauchen wir die Kunst. Als Widerspruch zur Welt, als Beantwortung meiner eigenen Mangelerscheinung.“ (Hinrichs 2019)
Öffentliche Auftritte und Erscheinungsformen, kunst- und politikübergreifend, wirken als gesamtgesellschaftliches Phänomen, sind deswegen schon hochpolitisch.
„Theater sind ein Symbol für alles, was diese Leute [die Rechten]
an einer diversen, demokratischen Gesellschaft verachten.“ (Khuon 2019)
Der Diskurs um das, was in der Kunst, auch im Theater, politisch ist, wird geführt, seit es die Polis gibt, seit es Theater gibt. Aktuell hat sich daraus aber eine Gemengelange gebildet, die kaum noch ordentlich zu analysieren ist und drängender die Frage aufwirft, wo das alles hinführen soll; konkret: Wohin entwickelt sich die Kunst, wohin das Theater? Gibt es noch Aufgaben? Noch ästhetische Visionen?
Es drängt sich ein analoges Bild auf, dass des körperlich zuckenden Disc-Jockeys, der sich bewegt, als ob man ihm allerlei Stromschläge verpasste, aber nur mit Schallplatten herumscräscht und mit überzogenen Gesten mit seinen Händen über Schieberegler fährt, hier nichts verändert, da scheinbar einen Millimeter verschiebt, und alles in allem durch einen Bewegungshabitus seinem Publikum Glauben machen will, dass er Großes leistet, in Wirklichkeit aber nur die Inhaltslosigkeit und geistige Leere seines Tuns kaschiert, das immer nur das gleiche Bumm Bumm Bumm gebiert. Mehr brauchen die auf der Tanzfläche ja auch eigentlich nicht. Damit kann sich der darstellende Regisseur dieser Performance aber nicht zufriedengeben, also füllt er die Leere mit hohler Geste.
Methodenexperiment missglückt – Theater versucht politische Inhalte und Formen zu übernehmen.
Theater verhandelt von jeher Themen der Welt. Damit es keine Vorlesung über Themen wird (vgl. auch die postdramatische Zerstückelung in der sog. „Lecture-performance“), sondern eine lebendige Darstellung von Interessen, Konflikten und Verstrickungen, zeigt man auf der Bühne, wie sich Menschen, also Akteure, mühen.
Dieser Kampf von Menschen, die im glaubwürdigen Rollenspielen performen, macht die zu verhandelnden Welt-Probleme zu ihren individuellen Problemen und lassen dadurch den Zuschauer intensiv teilhaben. Vielleicht erkennen sie auch in der Darstellung der Schauspieler nicht nur die Auswirkungen gesellschaftlich nicht so offensichtlich sichtbarer Kräfte und Einflüsse. Vielleicht erkennen sie aber auch Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Leben. So haben es bedeutsame Theaterpraktiker und -theoretiker immer mal wieder formuliert: In der konkreten Handlung des Menschen auf der Bühne sollen gesellschaftliche Wirkkräfte („das System“) konkretisiert und für ein Publikum sichtbar gemacht werden. Was die dann damit machen, ist letztlich ihre Sache (Mitleiden/ Aristoteles; Revolution/ Brecht; …).
„Ich habe so manche denkwürdig gebliebene Ausstellung, Vernissage und Performance besucht. Die Schlußfolgerung, die ich daraus gezogen habe, steht unwandelbar fest: Die Kunst kann das Leben nicht verändern.“ resümiert Houellebecqs alter ego in seinem Roman „Plattform“ (Houellebecq 2002: 22), um mal aus einer ganz anderen Ecke einen Experten zu zitieren als in den Fundus der gewöhnlich Verdächtigen zu greifen.
Nach der Destruktion des Theaters durch die sogenannte Postdramatik (Lehmann), als Ablehnung von Dramenvorlagen und Zerschlagung des geistigen Theatergebäudes in seine Einzelteile (Dogma der Enthierarchisierung und Gleichrangigkeit der theatralen Mittel), der verzweifelten Übernahme anderer Kunstformen (Performance), der hektischen Suche experimenteller Avantgardegruppe nach Mörtel, um die Löcher der eigener Fantasielosigkeit und Unausgebildetheit in der Schauspielkunst (Fachbereich Angewandte Theaterwissenschaft) zu stopfen (Übernahme popkultureller Elemente, Spielshows mit dem Publikum als sog. Partizipation/ Gaming usw.), wird nun in einem letzten Aufbäumen der Hohlheit die allerletzte Sau durchs Avantgarde-Theaterdorf getrieben: Die Politik.
Claus Peymann räsoniert in seinem Artikel über die Theaterkunst von Einar Schleef und kommt zu dem Schluss: „Eigentlich müssten die Theater einmal für fünf Jahre geschlossen werden, Vorhang zu, eine Pause einlegen. Und dann ganz neu beginnen!“, denn „die Theatermacher heute [stünden] mehr denn je ‚am Rande‘, ‚im Abseits‘, haben nichts mehr zu melden.“ (Peymann 2019)
Schon 1999 formulierte Carl Hegemann unmissverständlich im Kontext der Reaktionen von Theatermachern auf den Kosovo-Krieg: „Mit CHANCE 2000 [einem überkonfessionellen künstlerisch politischen Bündnis] haben wir die Grenzen der theaterimmanenten Ästhetik weit überschritten. So weit, daß es meiner Ansicht nach keine andere Alternative gab, als uns vorläufig wieder auf die Bühne zurückzuziehen, wenn wir weiterhin Theater machen wollten, oder das Theater wirklich zu verlassen. Wenn man die so genannte vierte Wand, die den Theaterraum von der Realität trennt, vollständig abgerissen hat, wie es in CHANCE 2000 geschah, und also nicht mehr weiter ausbrechen kann, muss man die Wand wieder aufbauen. Das ist einfach so. Das Theater hat seine eigenen Strukturen, und man kann eine Zeitlang mit Ihnen spielen, dann schnellen Sie zurück und verlangen ihr Recht. Will man draußen bleiben, ist das kein Theater mehr, sondern Politik oder Wahnsinn oder was auch immer.“ (Hegemann 2005: 124-125)
Es bleiben Fragen. Klar. Kunst gibt keine Antworten. Also stellen wir nochmal die Fragen, und sie sind eigentlich nicht neu: Braucht Kunst soziale Relevanz, um gute Kunst/ gutes Theater sein? Natürlich. Selbstverständlich. Nur dann kann’s ernst werden. Aber Politik (aktuelle, explizit politische Themen) darf die Kunst nicht überlagern, verdrängen oder gar ersetzen. Theater muss seine Distanz, sein Wesen behalten, nämlich Menschen zeigen, die mit allen möglichen Themen ringen, natürlich auch politischen. Sie darf aber nicht verkommen zu eindimensionalen, platt-plakativen Abbildung und Wiederholung dessen, was draußen wirklich passiert. Theater sollte wieder seinen ganzen Werkzeugkasten aufmachen, der üppig gefüllt ist mit vielem, was sich bewährt hat, was Menschen ins Theater lockt, womit es Menschen tief innen drin berührt und anrührt. Nur das macht Theater letztlich wirkungsvoll. Wenn überhaupt. Ansonsten ist es überflüssig. „Theaterwissenschaftler“ sollten, bevor sie ihre Wissenschaft „anwenden“ Schauspiel, Dramaturgie, Regie lernen, bevor sie sich anmaßen unausgebildet auf der Bühne zu verkünden: Wir sind die Theateravantgarde! Aus diesem Grund schaue ich mir ab sofort auch keine modernen Stücke des sog. zeitgenössischen experimentellen Avantgarde-Theaters mehr an. Sie hinterlassen bei mir zumeist Verständnislosigkeit und Leere. Sie sind wie Ölsardinen. Kennste eine, kennste alle. Ihr „Re-Framing“, wie es in Postdramatik-Sprech hirnwashmäßig heißt, funktioniert leider bei mir nicht. Noch so ein lächerlicher Versuch, durch Umdeutung von Inhalten durch Sprache, wie es gerade die Politik wieder mal mehr oder weniger erfolgreich versucht, theaterkünstlerische Leere manipulativ zu füllen. Stefanie Kara und Martin Spiewak haben gerade die Framing-Diskussion recht aufschlussreich untersucht und beschrieben (siehe DIE ZEIT Nr. 10).
Aber vielleicht ist das ja das Gemeinsame, das Verbindende. Den Zuschauer aus seiner Welt des undurchdringlichverdinglichtfremdbestimmten Chaos ins Theater zu holen und ihn in der Kunst nochmal das gleiche, aber umgeframed erleben zu lassen: Schau wir haben auch keine Ahnung. Deshalb machen wir jetzt Politik. Realpolitik! oder so.
Nochmal zum endgültigen Abschluss mit Nino Haratischwillis Worten, was Theater sein kann, sein sollte:
„Theater kann und darf vieles bedeuten, bloß keine Doktrin und keine Ideologie. Eine Geschichte kann auf eine Million verschiedene Weisen erzählt werden, wenn es den Zuschauer erreicht – und das sollte das Theater bieten. Kunst sollte sich nicht in Selbstbeweihräucherung erschöpfen, und Theater sollte nicht unentwegt in der Tagespolitik nach Rechtfertigungen für sich selbst suchen, sondern sich auf seine mehr als zweitausendjährige Daseinsberechtigung berufen und dem Vertrauen, was es kann, wenn es gelingt: den Menschen in all seiner Widersprüchlichkeit, seiner Verletzlichkeit, in seiner Grausamkeit, in seiner Schönheit zu zeigen. Und zwar mit allen Sinnen, nicht nur mit dem Kopf, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir sollten zeigen und nicht mehr andeuten, wir sollten wieder weit gehen, weiter, als es die Coolness zulässt, wir sollten von uns erzählen, nicht nur kopieren. Wir haben genug dekonstruiert und auseinandergenommen, jetzt sollten wir erzählen und wieder zusammensetzen, was auseinandergefallen ist.“ (30)
Was kommt nach der Destruktion? – Experten definieren präzise die Zukunft des Theaters.
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Die Karikaturen entstammen einer Zusammenarbeit mit Thomas Plaßmann in einem anderen Projekt. Er hat sie gezeichnet und erlaubte mir dankenswerterweise, sie weiter zu nutzen und kleine Veränderungen vorzunehmen, z.B. Aufschriften zu ändern.
Fußnoten
[1]Machowecz 2019: 13
[2]Abramovic, Marina 1974: „Rhythm 0“ Performance. Abramovićs Fazit: „Diese Arbeit enthüllt etwas wirklich Schreckliches über die Menschen: Es zeigt, wie schnell jemand unter begünstigenden Umständen dich verletzen kann. Es zeigt, wie einfach es ist, jemanden zu entmenschlichen, der sich nicht wehrt. Es zeigt, dass eine Mehrheit von ’normalen‘ Leuten offensichtlich wirklich gewalttätig werden kann, sofern man ihnen eine Bühne bietet.“ (https://www.heftig.de/marinasechsstunden/) Tja, das wissen wir aber spätestens seit dem wissenschaftlich anerkannten Milgram-Experiment von 1961 (vgl. z.B. „Menschliche Bestien – die Milgram Experimente“ > https://www.youtube.com/watch?v=aD_4RslPEH4). Also was war der eigentliche Impuls, Zweck und Nutzen dieser „Performance“? Worin bestand ihr künstlerisch-ästhetischer Wert? Sollte es nochmal zeigen, dass Demokratie und Menschenwürde nur fromme Wünsche sind? Oder dass Menschen Autoritäten brauchen, eigentlich in der Mehrzahl autoritätshörig sind? Oder warum laufen in geschichtlich wiederkehrenden Episoden Menschenmassen hinter verlogenen Demagogen her, die ihnen Heilsversprechungen machen, Wasser predigen und selbst Wein saufen, Nächstenliebe fordern und massenhaft Kinder missbrauchen? Welche Rolle kann hier eine vom Theater einverleibte Kunstform wie die Performance in Bezug auf Politik, auf das Politische spielen?
[3]„Das ist es vielleicht tatsächlich, was wir uns als Theaterlehrer gefallen lassen müssen von der Theaterwissenschaft: dass wir nicht dringlich werden in unserer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern, es irgendwie bei der Organisation von großen Gruppen belassen, es aber selten zu einem erkennbaren Moment der Not[!], der Dringlichkeit[!], vielleicht auch der Gefahr[!] kommen lassen in unseren Produktionen.“ (Riedel/ Studt: Postdramatisches Theater in der Schule – geht das? In: Postdramatisches Theater Heft 32/ 2018, Seite 6 > Rezension)
Peter Dittmar erklärt in DIE ZEIT Nr.10 vom 28.02.2019 auf Seite 27 sehr schön, woher die Begriffe Performance, Reenactment, Readymade usw. kommen, was sie eigentlich bedeuten, und man kann daraus ableiten, warum des Schauspielens Unmächtige, z.B. Theaterwissenschaftler so geil darauf sind, diese Formen aus anderen Künsten zu kopieren und „anzuwenden“, und warum sie Glaube und Hoffnung haben, sich damit selbst ermächtigen zu können:
„I. Kunst ohne Bilder
Happening und Performance – das steht am Anfang dieser Art der bildenden Kunst, die keine Bilder schafft. Die Künstler bewegen sich beim Reenactment, ohne Tänzer zu sein, sie stellen etwas dar, ohne Theater zu spielen. Ihr Kunstmittel ist ihr Körper. Beim Happening werden in diese Improvisationen, die nichts erzählen wollen, spontan die Zuschauer einbezogen. Bei der Performance ist sich der Künstler gewöhnlich selbst genug.
II. Kunst für die Ewigkeit
Es ist eine vergängliche Kunst. Ursprünglich als unwiederholbar gedacht, werden Performances in Kunstzeitschriften ausführlich beschrieben, analysiert und gedeutet. Und welcher Künstler träumt nicht von der Ewigkeit seines Werkes? Also werden die Performances auch fotografiert, gefilmt, als Video aufgezeichnet – und bald auch gehandelt. Aber das ist totes Material, das nichts von der Unmittelbarkeit des Ereignisses spüren lässt. Diesem Manko soll das Reenactment abhelfen.
III. Kunst als Vergangenheitsbeschwörung
Das Wort Reenactment ist jenen Vereinen entliehen, die historische Ereignisse nachstellen. Vor allem berühmte Schlachten in nachgeschneiderten Uniformen, Histotainment, Dokufiction wird das spöttisch genannt, weil man pedantisch und beflissen imitiert, ‚wie es gewesen sein soll‘. Das bleibt ein Schauspiel, ein Surrogat der Wirklichkeit, auch wenn es scheinbar die Vergangenheit ersetzt. Das berühmteste Beispiel ist die Nachinszenierung des Sturms auf das Winterpalais während der Oktoberrevolution in Eisensteins Film Oktober, die manche inzwischen für ein authentisches Zeugnis halten.
IV. Kunst der Darsteller
Auch das Reenactment spielt mit einem bewusst erzeugten Eindruck der Authentizität. Eine zentrale Rolle dabei haben die Personen, die das Kunstwerk im wahrsten Sinne verkörpern. Sei es ‚restaged‘, also vom selben Künstler wiederholt, oder als ‚delegierte Performance‘ von ‚engagierten‘ Darstellern nachgespielt. Auch bei der Marina-Abramović-Ausstellung in der Bonner Kunsthalle im vergangenen Jahr war das ein zentrales Element.
V. Kunst, die nachspielt
Niemand käme auf die Idee, eine Richard-Wagner-Oper wie zu seinen Lebzeiten zu inszenieren, um der Authentizität des Kunstwerks gerecht zu werden. In den bildenden Künsten ist das anders. Deshalb gelten in den Museen die Readymades von Marcel Duchamps als ‚original‘, obwohl es nur Repliken – freundlicher ausgedrückt: Reeditionen – sind. Die gleiche Originalität zeichnet jedes Reenactment aus, das – nachgespielt, nachinszeniert, nachempfunden –, wie ein Kritiker anmerkte, ‚same same but different‘ ist.“
Quellen und Weiterführendes
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- Deck, Jan/ Angelika Sieburg (Hg) 2011: Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten; [eine Publikation von laPROF, dem Landesverband Professionelle Freie Darstellende Künste Hessen]. Bielefeld: transcript > https://www.socialnet.de/rezensionen/12659.php
- Dittmar, Peter 2019: Grundkurs. In: DIE ZEIT Nr. 10 vom 28.02.2019, Seite 27
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- Hinrichs, Fabian 2018: Rede über die Schauspielkunst – Der Schauspieler Fabian Hinrichs denkt als Alleinjuror des Alfred-Kerr-Darstellerpreises beim Berliner Theatertreffen über seinen Berufstand nach. Der Text ist die ungekürzte Fassung der Rede, die Fabian Hinrichs in seiner Eigenschaft als Alleinjuror des Alfred-Kerr-Darstellerpreises am 21. Mai 2018 im Rahmen des Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele gehalten hat. Hinrichs selbst erhielt den Preis im Jahr 2012 > https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=15434:rede-ueber-die-schauspielkunst-der-fabian-hinrichs-denkt-als-alleinjurors-des-alfred-kerr-darstellerpreises-beim-berliner-theatertreffen-ueber-seinen-berufstand-nach&catid=1635&Itemid=100190
- Houellebecq, Michel 2002: Plattform. Köln: DuMont
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- Kasch, Georg 2019: Die Arche NoAfD > https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16340:das-blaue-wunder-in-dresden-laesst-volker-loesch-zusammen-mit-thomas-freyer-und-ulf-schmidt-die-afd-zu-wasser&catid=38:die-nachtkritik-k&Itemid=40
- Künstlerhaus Mousonturm 2018: Tanzfestival Rhein-Main. Meg Stuart & Jompet Kuswidananto/ Damaged Gods CELESTIAL SORROW. Programmheft
- Laudenbach, Peter 2019: Kampffeld Kultur. „Sie wollen ein völkisch nationales Theater“: Ein Gespräch darüber, wie sich Bühnen gegen die Angriffe der Rechten wehren können. In: SZ vom 22.02.2019, Seite 15. Interviewpartner ist Ulrich Khuon, Präsident des Deutschen Bühnenvereins seit 2017
- Locke, Stefan 2019: Bitte mal lachen. Was passiert, wenn die AfD regiert? „Das Blaue Wunder“ spielt dies am Staatsschauspiel Dresden durch. Eine schöne Idee, die leider scheitert. In: FAZ Nr. 53 vom 04.03.2019, Seite 12
- Machowecz, Martin 2019: „Genug gespielt. Jetzt wird’s ernst.“ Am Dresdener Staatsschauspiel kommt ein Stück auf die Bühne, das zum Kampf gegen die AfD aufruft. In: DIE ZEIT Nr. 5, 24.01.2019, Seite 13-15
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- Radisch, Iris 2019: Das andere Universum. Menschenzoo oder gigantisches Gesamtkunstwerk. In Paris wird das DAU-Projekt des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky eröffnet, das in Berlin am Einspruch der Politik gescheitert war. In: DIE ZEIT Nr. 5 vom 24.01.2019, Seite 39
- Rakow, Christian 2019: Theater und politische Bildung – geht das überhaupt zusammen? > https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=16392:theater-und-politische-bildung-geht-das-ueberhaupt-zusammen&catid=101&Itemid=84
- Richter, Peter 2019: Kommen Sie raus, können Sie reinschauen. Ideologiefalle Immersion. Das Debakel des Stalinismus-Spektakels „DAU“ in Paris zeigt den Irrweg der interaktiven Mitmachkunst. In: SZ 19.02.2019, Seite 11
- Seibert, Thomas 2018: Emma Gonzalez – eine Schülerin rüttelt die USA auf. In: Der Tagesspielgel vom 19.02.2018 > https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/nach-dem-massaker-von-parkland-emma-gonzalez-eine-schuelerin-ruettelt-die-usa-auf/20977040.html. Siehe auch > https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/nach-dem-massaker-von-parkland-emma-gonzalez-eine-schuelerin-ruettelt-die-usa-auf/20977040.html und https://edition.cnn.com/2018/02/17/us/florida-student-emma-gonzalez-speech/index.html und https://www.jetzt.de/politik/emma-gonzalez-haelt-bewegende-rede-beim-march-for-our-lives und die Rede von Emma Gonzales im Original > https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/videos/emma-gonzalez-schweigen-volle-laenge-100.html
- Vinken, Barbara 2019: Laufsteg und Theater sind Bühnen, die mehr über das Menschsein erzählen, als man glaubt. In: SZ Magazin vom 22.02.2019, Seite 22
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List, Volker Genug gespielt. Jetzt wird’s ernst – Theater und Politik [Pamphlet]
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