Hentschel, Ulrike 2010, erste Auflage 1995: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. Uckerland: Schibri Verlag. 257 Seiten – Rezension
Hentschel sucht nach den „wesentlichen Voraussetzungen für das Gelingen ästhetischer Bildung in der theaterpädagogischen Arbeit.“ (29) wobei sie ästhetische Bildung wie folgt definiert: „Ästhetische Bildung wird verstanden als Auseinandersetzung des Subjektes mit sich selbst im Medium der Kunst.“ (19)
Mit der dritten unveränderte Auflage ihrer 1995 publizierten Arbeit fordert Hentschel in ihrem Vorwort zur 3. Auflage den Leser heraus „einige Entwicklungen der beschriebenen Zusammenhänge zu reflektieren und damit auch einen Blick auf die Historizität dieser Untersuchung zu werfen.“ (9)
Dies will ich gerne tun und auch danach fragen, ob die in ihrem Buch beschriebenen Einschätzungen noch eine Relevanz besitzen bzw. in welcher Weise die historisch begründete und lediglich theoretisch formulierte Gegenüberstellungen beispielsweise von einem geforderten Autonomieanspruch des Theaters (und der Theaterpädagogik) einerseits und seiner Verzweckung für den neoliberalen Markt oder anderer außerästhetischer Zielsetzungen andererseits noch eine hilfreiche theoretisch-analytische Konstruktion liefern, das was ästhetische Bildung von Amateuren durch Theaterspielen ausmacht, genauer zu bestimmen bzw. hilfreiche Hinweise für ein Gelingen zu geben.
Wie könnte eine Gegenüberstellung einer beschworenen Gefahr der Vermittlung von Spieltechniken, die in handwerklichen Fähigkeiten verharrt, mit einer Vermittlung von Spieltechniken, die vor dem Hintergrund einer Theorie ästhetischer Bildung stattfindet, einen Erkenntniswert generieren?
Oder kurz: Welchen Nutzwert können Theater-Pädagogen und Theater-Lehrer aus derlei Überlegungen ziehen, um ihre Qualifikation als Theater-Lehrende zu erhöhen? Und inwiefern wird eine Praxis von Theater-Pädagogen und Theater-Lehrern qualitativ hochwertiger, wenn sie vor dem Hintergrund einer bestimmten Theorie ästhetischer Bildung geschieht?
Machen wir es mal konkret. Raus aus dem Elfenbeinturm, rein ins Leben: Sind die seit Jahrzehnten obligatorischen Theaterprojekte der Drogerie-Kette DM für ihre Azubis theoretisch verwerflich, weil sie u.a. auch das selbstbewusste Auftreten der jungen Menschen praktisch fördern und sie damit möglicherweise auch mehr Umsatz für den Konzern generieren oder sind sie nicht verwerflich, weil der Inhaber und Initiator des Unternehmens explizit keinerlei Forderungen an einen Output dieses festen Bestandteils der Ausbildung bei DM stellt, sondern sich einer umfassenden Bildung der ihm anvertrauten jungen Menschen verpflichtet fühlt, zu der selbstverständlich Erfahrungen und Erleben mit und in Kunst und Theater zählen?
Verharren die in diesen Theaterprojekten arbeitenden Theater-Pädagogen und Theater-Lehrer in der Vermittlung von handwerklichen Fähigkeiten oder machen sie ihren Job vor dem Hintergrund einer bestimmten Theorie ästhetischer Bildung?
Was ist die Wirkung, die Folge?
Besser gebildete Menschen, die dann WAS machen und sich WIE verhalten (sollen)?
Für das System und die zeitgenössischen Forderung der Gesellschaft zugeschnittene und abgerichtete Azubis?
Diese rein theoretisch-analytische Gegenüberstellung wird sich noch als untauglich erweisen, hilfreiche Hinweise für eine ästhetische Bildung durch Theaterspielen zu generieren.
Als Maßstab verweist Hentschel in Bezug auf die bildende Wirkung der Kunstform Theater auf den „Doppelcharakter theatraler Kommunikationsstruktur“. Dabei zeigt sich, „dass der produktive künstlerische Prozess der szenischen Gestaltung mit einer Ambiguitätserfahrung für die Produzierenden einhergeht, das heißt, mit einem Modus der Erfahrung, in dem gleichzeitig unterschiedliche und/ oder widersprüchliche Zustände akzeptiert und verwirklicht werden müssen.“ (24)
Übertragen wir mal – vorschnell und frech – diese Aussage in die Hinweis-Sprache:
Theaterspielende können beim Theaterspielen erfahren und erleben, dass man einen sich selbst genügenden ästhetisch Sinn im und fürs Leben mit einem Sinn fürs Geldverdienen und das Überleben vereinbaren und die Gleichzeitigkeit dieser Widersprüchlichkeit aushalten muss, wenn man im Laden steht und verkaufen muss oder in seiner Freizeit sich selbstvergessen z.B. der Poesie hingibt mit dem sich immer wieder Raum schaffenden Gedanken an die Sicherheit des Arbeitsplatzes?
Tja, Wirklichkeit zu definieren ist nicht einfach und Kunst und Leben miteinander zu vereinbaren, wenn man Kunst nicht als essentiellen Bestandteil von Leben erkennt, sondern im Interessen von Theoriebildung von ihr separiert als etwas angenommen Eigenständiges.
Wir werden sehen, wie sich in diesem praxisfernen Theoriekonstrukt noch so mancher verheddert.
Die Frage, ob ästhetische Erfahrung für gesellschaftspolitische Zielsetzungen instrumentalisiert werden, ist als erkenntnisleitende Frage scheinbar untauglich.
Sie beraubt alles Künstlerische und damit alles Ästhetische um den Kern ihres Wesens, nimmt nur die Hülle und stülpt sie Anderem über. Darüber hinaus mischen sich in der praktischen Arbeit ohnehin Absicht und Wirkung; sind dann auch nicht mehr trennbar. So bestätigen es jedenfalls die wenigen Versuche, die die Wirkung von Theaterspielen belegen wollen und keinen wirklichen Erkenntniswert generierten bzw. teilweise Ursache- und Wirkungszusammenhänge auf den Kopf stellen (vgl. Domkowskys Untersuchung).
Demokratie ist eben nicht (nur) die Herrschaft einer Mehrheit, also eine Hülle, eine Form. Der Kern einer Demokratie ist die Menschenwürde und Minderheitenschutz.
Theater ist nicht (nur) Form (vgl. dazu auch Lehmanns umfangreiche Ausführungen über Theater als Form). Theater ist – will seinem inneren Kern folgen – Kultur, und damit wesentlicher und mitgestaltender Teil von Mensch und Gesellschaft, und zwar in allen erdenklichen Formen, alle Strömungen erfassend (vgl. auch Hentschel: 26).
Insofern befragt Hentschel zurecht die Kunstpraxis: Die Untersuchung „fragt nach den phänomenalen Welten, nach den Wirklichkeiten, die im wahrnehmenden und produzierenden Umgang mit Kunst konstituiert werden: Inwieweit stellt die Fähigkeit, solche Wirklichkeitsentwürfe zu schaffen, die wesentliche Voraussetzung für das Gelingen ästhetischer Bildung in der theaterpädagogischen Arbeit dar?“ (29)
Hentschel geht es letztlich um „Handlungswissen“ auf der Basis von „Künstlertheorien“. Dieses sei „besser geeignet, den Erfahrungsprozess des produzierenden Subjekte zu beschreiben als theaterwissenschaftliche Theorien, die ihren Gegenstand auf der Ebene abstrakter Begrifflichkeit verhandeln.“ (25)
Um so spannender wird es sein, Hentschels Anspruch auf den Prüfstand zu holen, wenn sie formuliert, „Kriterien für eine theaterpädagogische Praxis“ (27) geben zu wollen und diese letztlich als „richtungsweisend auch in der aktuellen Auseinandersetzung mit Fragen ästhetischer Bildung“ (27) bezeichnet.
Hat ihre Untersuchung von 1995 im Rückblick von 2016 eine richtungsweisesende Qualität besessen bzw. hat sie noch eine?
Hentschel beginnt ihre Untersuchung mit einem kulturphilosophischen Rückblick. Zitiert Kant, Schiller, Hegel, Horkheimer, Marcuse, von Hentig, Lyotard, Welsch, usw. – und zeichnet ihre Positionen nach; auf der Suche nach der „besonderen Qualität“ ästhetischer Bildung und wie sich die theoretischen Auffassungen gegeneinander abgrenzen und durch manifeste gesellschaftliche Veränderungen theoretisch weiterentwickeln.
Immer kreist ihre Suche dabei um den Dissens zweier grundlegender theoretischer Bestimmungen dessen, was mit Kunst gemacht wird, die sich gegenseitig ausschließen: Autonomie und Freiheit der Kunst und des Kunstschaffens einerseits, die keine Unterordnung und Abhängigkeiten duldet und Verzweckung, Indienstnahme und gesellschaftliche Instrumentalisierung andererseits.
Um die „besonderen Erfahrungsmodi“ der Kunstform Theater und des Theaterspielens auszumachen, zeichnet Hentschel in einem parallelen Strang zunächst die historischen Linien der Entwicklung der Theorien zum Spiel und Theater und die damit verbundenen Bildungsvorstellungen und „inwieweit Theaterspielen als bildend anzusehen ist“ nach. (75)
Was macht nun „das Besondere“ einer ästhetischen Erfahrung aus und wie kann man sie lehren?
So formuliert Hentschel dann schonmal für die Entwicklung ab den 1980er Jahren den Vorwurf einer „rein praktizistischen Ausrichtung“ theaterpädagogischer Arbeit, den später Jurké wiederholt, und unterstellt, dass die(!) Macher „keine Überlegungen zur Wirkungsweise von Spiel und Theater“ angestellt hätten. Ein differenzierter Blick in die Praxis und vorheriges Nachfragen bei den Machern wäre hier angebracht gewesen.
Sie schließt das vermutlich daraus, dass es keine oppulenten Theoriegebäude gibt („nur Tagungsberichte und Dokumentationen“), in denen die vielfältigen theaterpädagogischen Arbeitsformen in abstrakten (wissenschaftlichen?) Begriffswelten gerahmt sind, obwohl sie selbst in ihren vorherigen Ausführungen zu anderen theaterpädagogischen Beschreibungen die in ihnen implizit enthaltenen theoretischen Implikationen ableitet. Warum hier nicht?
Könnte eine gewisse Praxisscheu Triebfeder dieses Denkens sein, da hier die Überprüfung der manchmal tempelhaft mit Wissenschaftsanspruch daherkommenden Gedanken- und Sprachkunstwerke ansteht? Aber wie kann Theorie ihre Bedeutung und Wirksamkeit anders nachweisen als in der Praxis? Vielleicht spielen viele theoretische Sprachgebäude deshalb keine große Rolle in der Arbeit der Theaterpädagogen, weil sie schlichtweg keine Hilfen für die Praxis und das Reflektieren der Praxis bieten, also irrelevant sind?
Dabei sollte es doch die vornehmste Aufgabe von Forschung und Wissenschaft sein, die oszillierende Dynamik zwischen Praxis und Theorie und Theorie und Praxis zu befeuern und durch inspirierende erkenntnisleitende Fragestellungen den Forscherdrang auf weiße Flecken der Landkarte und in fundierte Untersuchungspraxis zu führen.
Vielleicht sind „Tagungsberichte und Dokumentationen“ genau die angemessene Form theoretischer Reflektion, die einen Mehrwert liefert? (vgl. dazu auch Stanislawskis Fleißarbeit).
Eine Kernfrage stellt sich: Von was oder über was wird hier geurteilt? Welche Form von Theaterspielen wird hier gemeint?
Hentschel geht offenbar von der Annahme aus, dass es ein einheitliches und überall gleiches Theaterspielen gibt und die Kategorie „Theaterspielen“ konsistent, allgemeingültig und eine feste Größe ist.
Die Formen „Theaterspielen“ sind aber so vielfältig wie die Personen, die es anleiten. Und dass die Personen, die Lehrer und ihre besonderen Eigenarten, Eigenschaften und Kompetenzen einen entscheidenden Einfluss haben, ist seit langem empirisch belegt.
Warum ist die empirische Untersuchung solch extrem komplexer Zusammenhänge wie „Theaterspielen“ so schwierig? Warum lassen sich alle relevanten Einflussgrößen gar nicht isolieren, kontrollieren und damit angemessen bewerten?
Solche experimentellen Szenarien wären unethisch.
Weil eine wissenschaftliche Fundierung, die als empirische „Datenbasis“ lediglich subjektive Beobachtungen, Befragungen und Interviews, dünn ist, um daraus haltbare für die Praxis relevante Aussagen machen zu können? Gibt es als Ausweg nur das umfangreiche Erfahrungswissen vieler, das man in deduktiver Weise aufarbeitet, um darin Regelhaftigkeit zu entdecken, die man in Summe als Erkenntnisse ausformulieren kann?
Hentschel Untersuchung bestätigt bereits auf der Ebene der Erscheinungsformen theatraler Spielkonzeptionen eine Pluralität, die erkenntnistheoretisch als einheitliches Konstrukt nicht fassbar ist: „Das Beispiel dieser vielschichtigen Erscheinungsformen einer Schulspielpraxis zeigt die Schwierigkeit und theoretische Begrenztheit einer scharfen Trennung der unterschiedlichen Begründungsmuster.“ (126) Und es geht noch nicht einmal um „Schulspielpraxis“, sondern lediglich um theoretische Konzepte für eine mögliche Schulspielpraxis
Immer wieder konstatiert Hentschel in ihren Rezeptionen der Theoretiker des Theaterspielens und des Darstellenden Spiels grundsätzlich ähnliche Rechtfertigungs- und Begründungsmuster: Auf der einen Seite wird eine eigenständige „Wirklichkeit“ im theatralen Akt, im Spielen von Szenen als das „Besondere“ ästhetischer Erfahrung ausgegeben, in dem sich der Akteur in ein „Dazwischen“ begibt und sich gleichermaßen und gleichzeitig als Darsteller und Figur, als Person in einer Rolle, als er selbst und als ein anderer erlebt. Darin liege die „Magie“ des Theaterspielens. Auf der anderen Seite wird das Theaterspielen als Erzeugung einer „Als-ob-Realität“ angenommen, die ihre Impulse von „außer-ästhetischen“ Setzungen und Begründungen erhalte.
Ich denke an den hinter der Ladentheke von DM stehenden und zuweilen in Gedanken versunkenen philosophierenden Mensch Azubi. Er macht täglich die Erfahrung des „Dazwischen“. Und um die geforderte Rahmung als „Theaterspielen“ zu erfüllen: Kunden schauen ihm zu.
Beiden Definitionen dieser grundlegenden Art mangelt es meines Erachtens an einer differenzierten und umfassenden Wahrnehmung von Wirklichkeit, die letztlich unteilbar ist. Nichts macht einen theatralen Akt zu etwas Besonderem, was ihn von einem x-beliebigen Vorgang in der Welt unterscheiden könnte, lediglich das bewusste Tun, das bewusste Gestalten, die Rahmung – egal ob es hochkompetent aufgrund einer qualifizierten Schauspiel- oder Regieausbildung, dilettantisch im Schultheater oder kompetenzfrei bzw. (darum) bewusst „programmatisch“ als fehlerhaft durch Angewandte Theaterwissenschaftler geschieht und der umfassendste Teil der theatralen Arbeit die nachgelagerte Erläuterung und Rechtfertigung dieses Tuns ist, also eher Rede-, Argumentations- und Rechtfertigungskunst, sprich: Rhetorik, wie man es vielfach in Nachbesprechung postmoderner Theoretiker erlebt, die sich in die Niederungen des „Theaterspielens“ begeben haben. Vielfach beobachtet und immer wieder zu beobachten u.a. bei den jährlichen Präsentationen der Angewandten Theaterwissenschaftler in Gießen.
Das Pinkelbecken gehört halt doch in den restroom. Ein Vorgang wird nicht zur Kunst, indem jemand ihn mit Wortschwaden zur Kunst (v)erklärt. Dann empfehle ich doch des Kaisers neue Kleider als Lektüre oder die Bilder von Wolfgang Beltracchi anzuschauen.
Hentschels Annahme, dem Begriff „Darstellendes Spiel“ sei eine Fremdbestimmung ja bereits inhärent, aufgrund der Abstinenz des Begriffs „Theater“ lässt außer acht, dass der Begriff meines Wissens bewusst in Opposition zu den theorieüberfrachteten anderen beiden Schulfachbegriffen des ästhetischen Lernens „Kunst“ und „Musik“ gewählt wurde. Mit dem Begriff „Darstellendes Spiel“ sollte deutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um ein Praxisfach handelt, das nicht das gleiche Schicksal erleiden will wie seine beiden Geschwisterfächer, also kein Schulfach „Theater“ mit überwiegend theoretisch-geschichtlichen Inhalten, keine Theaterwissenschaft, sondern „Theater spielen“.
Die Entwicklung bleibt in einer erkenntnistheoretischen Sackgasse stecken, wenn weiter einer unangemessenen wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden rein analytisch vorgenommenen Trennung zwischen Theater als etwas außerhalb von Gesellschaft Stattfindendes, das dann durch gesellschaftlich-politische Forderungen verzweckt wird bzw. es zu einer abzulehnenden „Vermischung ästhetischer und sozialer Wirklichkeit“ (129) kommt. Theater ist auch soziale Wirklichkeit, besonders intensive soziale Wirklichkeit, weil sie von den Protagonisten im Tun, davor und danach ästhetisch gestaltet und reflektiert wird als integrativer Augenblick, Prozess und Produkt.
Bei Theater „handelt es sich immer um eine Produktion und Rezeption im direkten sozialen Zusammenhang.“ (136)
Diese Verschmelzung macht es wohl so schwierig, dem „magischen“, „heiligen“ und wie auch immer apostrophierten Phänomen Theater(spielen) rein wissenschaftlich beikommen zu wollen.
Vielleicht ist ein Hinweis auf das Unerklärliche im ästhetischen Tun auch die Weigerung mancher Künstlern über ihr „Handwerk“ zu reden und Auskunft darüber zu geben, warum sie etwas wie und auf welche Weise machen. Vielleicht wollen sie auch nur einfach ihre Kunst nicht entzaubern und sich weiter mystifizieren in einem Geniekult, auch wenn Schauspielen – wie viele andere Berufe – nichts weiter ist als ein gewisses Talent und viel Fleiß. So erfährt man es auch von souveräneren Schauspielern, die über ihre Arbeitsweise, Kompetenzen, Unzulänglichkeiten, Fehlschläge und Erfolge sprechen (vgl. die filmisch dokumentierten Künstlerinterviews an US-Schauspielschulen mit prominenten Schauspielern).
„Die begrifflichen Abstraktionen der Theaterwissenschaft sind innerhalb der [theatralen] Praxis wenig hilfreich.“ (133) Und der „‚flüchtige’ Charakter des Theaterereignisses ist Grundbedingung der Rezeption, erschwert aber das alltägliche und das wissenschaftliche Reden über das Rezipierte.“ (135) und das Theaterereignis entzieht „sich deswegen weitgehend der Objektivierung durch eine Wissenschaftssprache.“ (136)
Paul – so Hentschel – komme deshalb „in Bezug auf die wissenschaftliche Erfassbarkeit des Theaterereignisses“ zu der Forderung nach „empirisch-analytische[n] Verfahren, insbesondere […] ‚systematische[n] Beobachtungen theatralischer Prozesse’“. (136)
Hentschels Untersuchung versucht theoretisch zu ergründen, was „das Besondere ästhetischer Bildung durch Theaterspielen“ ausmacht.
Die Kategorie „Theaterspielen“ wird jedoch nicht hinreichend definiert und bleibt vage und abstrakt. Die vielfältigen Einflüsse und Kriterien dessen, was „Theaterspielen“ tatsächlich ist und am Ende ausmacht, werden in ihrer Untersuchung nicht berücksichtigt.
Es dürfte selbstverständlich sein, dass sich ein ästhetischer Prozess beim „Theaterspielen“ nicht aus heiterem Himmel irgendwo irgendwie und unter irgendwelchen räumlichen, zeitlichen, personalen, sächlichen Bedingungen von selbst einstellt. Alle diese Bedingungen müssten selbstverständlich einer wissenschaftlich haltbaren Untersuchung zugänglich gemacht werden, bevor man irgendwelche theoretischen Aussagen über theoretisch angenommene Wirkungszusammenhänge macht.
Dennoch ist Hentschels Untersuchung kein Weg in eine wissenschaftliche Sackgasse, da eine Praxis auch immer theoretisch reflektiert werden muss und Praxis und Theorie in einem oszillierenden Verhältnis stehen sollten, will man haltbare Aussagen machen und – das ist das, was Hentschel will – Hinweise geben für eine fundierte Praxis mit Aussicht auf Erfolg, sprich: Erreichung dessen, was man anstrebt, mag man es nun vordefinierte Ziele nennen oder überrascht beschreiben, was am Ende Unerwartetes herausgekommen ist.
Hentschels Untersuchung der Künstlertheorien gibt nicht nur deutliche Hinweise, in welchem theoretischen Rahmen sich das, was allgemein als „Theaterspielen“ bezeichnet wird, bewegt, sondern zeigt damit gleichzeitig implizit deutlich auf, was Wesentliches fehlt:
Das reflektierte Erfahrungswissen all der Praktiker, die seit Jahrzehnten „Theaterspielen“ mit ihren Anvertrauten Amateuren praktizieren; manchmal etwas einfältig von sog. Theaterwissenschaftlern als „praktizistisch“ denunziert. Dass sich dieses Praxiswissen nicht in der Weise aufschreiben lässt, wie man Theoriegebäude konstruiert (in manchmal allzu luftigen Höhen sich bei Verlust des Bodenkontaktes verlierend) ist augenfällig und haben nicht nur professionelle Künstler in ihren „Künstlertheorien“ vielfach belegt, allen voran Stanislwaski, der fälschlicherweise oft als der größte Theatertheoretiker bezeichnet wird, tatsächlich aber durch und durch Praktiker war und das versucht hat auf ca. 130.000 Seiten schriftlich zu fixieren. Diese enorme Menge beschriftetes Papier bezieht sich auf seine Skripte. Welche Probleme dabei entstanden sind, diese Praxisprotokolle und Praxisreflektionen in lesbares Buchseitenformat zu bringen, kann man hier auch bei Hentschel nachlesen.
Fazit Hentschels Untersuchung: „Womöglich kann das in Künstlertheorien aufgehobene Wissen um Selbstbildungsprozesse auch im Hinblick auf allgemeine bildungstheoretische Fragen unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft von Bedeutung sein.“ (246)
Das formulierte Hentschel 1995. Eine Überarbeitung für die Ausgabe 2010 ihres Fazits auf der Grundlage sorgfältigen Einbezugs des Erfahrungswissens der vielen Theaterpraktiker, die mit Amateuren arbeiten, und selbstverständlich ihre Praxis professionell theoriebasiert reflektieren, sich darüber aber nicht in zahllosen Publikationen äußern, sondern eher in Hilfen und Hinweisen für die Praxis, wäre hilfreich gewesen.
Als inhaltliche Weiterführung Hentschels „Untersuchung“ empfehle ich u.a. Stegemann zu lesen > Rezension.
Wie könnte es weitergehen mit Untersuchungen, die Hentschel angestoßen hat?
Einen ersten Schritt habe ich mit der Untersuchung der Zusammenhänge der ästhetischen Bildung durch Theaterspielen gemacht, indem in versuchte, ein Konzept dessen, was das Theaterspielen praktisch sein kann, zu entwerfen und ausgebildete Theater-Lehrkräfte, keine als „Theater-Pädagogen“ ausgebildete Spielleiter, ein Jahr lang nach diesem für alle einheitlichen Konzept unterrichten zu lassen und die Erfahrungen auszuwerten.
Weitere Vereinheitlichungen wären in nächsten Schritten erforderlich, um haltbare Aussagen machen zu können, wie ästhetische Bildung durch Theaterspielen funktioniert, z.B. räumliche, zeitliche, personale, sächliche Bedingungen vergleichbar zu machen, die alle in gleicher oder ähnlicher Weise Bedingungen herstellen, in denen der Raum, das Lernsetting entsteht, in denen die als wesentlich und „besonders“ definierten ästhetischen Erfahrungen durch das und mit dem Theaterspielen (siehe oben) durch die Schüler gemacht werden können.
Dann stellte sich die Frage, wie die unter ähnlichen Bedingungen gemachten Erfahrungen der Theaterspielenden dokumentiert, objektiviert und einer kritischen Reflexion im Sinne einer Evaluation zugänglich gemacht werden können, wenn man die so gemachten Erfahrungen des „Dazwischen“ vorab als nicht kommunizierbar und unaussprechbar definiert und damit als „heilig“ mystifiziert.
Theaterspielen braucht offensichtlich eine andere theoretische Rahmung.