ASSITEJ e.V. (Hg) 2015: Generation X, Y oder Z? Theater für junges Publikum zwischen Last des Erbes und und Lust auf Zukunft. IXYPSILONZETT. Jahrbuch 2015 für Kinder- und Jugendtheater der ASSITEJ Deutschland. Berlin: Verlag Theater der Zeit. 76 Seiten – Rezension
Wolfgang Schneider formuliert die Aufgabe des Jahrbuchs im Editorial wie folgt: „Die Beiträge beschäftigen sich mit dem Generationenwechsel in den Kinder- und Jugendtheatern, mit Generationenfragen im Theater für ein junges Publikum, mit Fragen zu Inhalten und Ästhetiken der nächsten Theatergeneration: X, Y oder Z, wie Soziologen und Zeitgeist die junge Gesellschaft auszudifferenzieren versuchen.“ (S. 1)
Die Generation X wurde Mitte der 1990er Jahre definiert als die orientierungs- und perspektivlose Gruppe der 20- bis 30-Jährigen.
Die Generation Y erblickte die Welt zwischen 1980 und 1995 und fragt nach dem Warum. Sie sucht einen Sinn im Leben, will Selbstbestimmung, Flexiblität und Freiräume, will sich selbst verwirklichen, und zwar mit Familie und Freunden.
Die Generation Z steckt – sofern sie schon auf der Welt ist – noch in den Kinderschuhen.
Das Jahrbuch enthält neben vierzehn Autoren-Beiträgen einen 27-seitigen Service-Teil mit Informationen über Auszeichnungen von Kinder- und Jugendtheatern in 2014, Festivaltermine 2015, Premierentermine in der Spielzeit 2014/15 auch die Adressen aller Mitglieder der ASSITEJ e.V. Bundesrepublik Deutschland.
Thomas Birkmeir konstatiert in seinem Artikel „Angekommen? Die Generation der Babyboomer auf der Suche nach dem Zeitgeist.“ das Ende der sogenannten Postdramatik mit ihrer aussagelosen Beliebigkeit.
Was ist die Zertrümmerung und Ironisierung gegen die „Sehnsucht nach einer guten Geschichte“?
Was ist die Selbstbezogenheit (schick versprachlicht in die sogenannte Selbstreferenzialität) gegen „das Wagnis, einfach nur gekonnt eine Geschichte zu erzählen.“ (S. 6)
„Die ironische bildungsbürgerliche Distanzierung der Post(post)moderne ist nicht unbedingt ein adäquates Mittel, sich jungen Menschen zu nähern, sehen sie doch bestimmte Inhalte schlichtweg das erste Mal. […] auch (dürfte) die Moralitätengebetsmühle à la René Pollesch im letzten Jahrzehnt auf Heranwachsende abschreckend wirken, denn hier wird das ‚Zu-denken-Habende’, die ‚Botschaft’, in endlosen Wiederholungsschleifen vorgekaut.“ (S. 5)
Birkmeir belegt die geringe Bedeutung der sogenannten Postdramatik, indem er darauf verweist, dass im letzten Jahrzehnt die am meisten gespielten Stücke im deutschsprachigen Raum zwei Jugendstücke waren, nämlich „Das Herz eines Boxers“ und „Tschick“. (S. 6) Die formalästhetischen Elemente der sogenannten Postdramatik seien eh schon vor Jahren im Jugendtheater angekommen und die Abgrenzung zum Erwachsenentheater sei überwunden.
„Figuren leben uns ihre Geschichte vor, mal dokumentarisch anmutend, mal märchenhaft. Indem sie Haltung beziehen, fordern sie auch uns eine Stellungnahme ab – deshalb sind einige von ihnen bereits ‚Klassiker’ geworden und somit in gewissen Weise ‚generationslos’.“ (S. 6)
Gerd Taube plädiert in seinem Beitrag „Das Kindertheater der Generationen. Wie die generationale Ordnung die darstellende Kunst verändert.“ dafür, „der Perspektive des Kindes Raum zu geben und sie zur Geltung zu bringen“. (S. 7) Die Kinder- und Jugendtheaterautoren nähmen die Rechte der Kinder auf eine selbstbestimmte Kinderkultur sehr ernst. In ihren Stücken könne man Kinder beobachten, wie sie lernten mit Welt klarzukommen. „Die Stücke wollen keine Handlungsanweisungen geben, und es werden keine allgemeingültigen Lösungen vorgeschlagen. Stattdessen geben die Stücke Denkanstöße, indem mögliche Lösungen durchgespielt werden.“ (S. 9)
Manfred Janke stellt in seinem Beitrag „Jugend immer noch ohne Gott. Der pubertäre Kampf der Generationen als Drama für ein junges Publikum“ fest, dass die gegenwärtigen Autoren sich allzu oft auf die Vorgänge selbst, ohne sie in ein Sinnkonzept einzubinden, beschränkten. So entstünde der Eindruck, dass das Leben eine Party mit Drogen und Sex sei. Die Fragen nach dem Sinn des Leidens (und des Lebens) sparten sie aus. Dabei sei es wichtig, die Geschichten von Figuren und die Fragen nach der Bedeutung des Seins zusammenzubringen. (S. 11)
Torsten Meyer stellt in einem Gespräch mit Wolfgang Schneider unter dem Titel „Der Generation C kann man viel zumuten“ fest, dass die Jungend längst im postironischen Zeitalter angekommen sei. Die Generation C [das C steht für creativity] sei geprägt durch „relativ niedrigschwellige Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks und des sozialen und politischen Engagements. Das fördert die Entwicklung neuer Ideen und die öffentliche Teilhabe daran.“ (S. 12)
Diesem jungen Publikum mute das Theater eine ganze Menge medialer Vielschichtigkeit und theatraler Formen zu. Das junge Publikum sei dennoch begeistert und könne damit umgehen, denn „das Publikum der Generation C hat sehr viel mehr Erfahrung mit jeglichen Formen von Darstellungen und hypermedialer Intertextualität als jede Generation zuvor.“ (S. 15)
Meyer erinnert – das schulpädagogische Verständnis von Bildung kritisch im Blick – an Wilhelm von Humboldt, der den ‚Transformationsprozess von Selbst- und Weltverhältnis’ immer als ‚Wechselwirkung’ gesehen habe. Das bleibe Schule schuldig, da sie sich nicht einbeziehe. Nähme man Humboldt an dieser Stelle ernst, dann habe eine Wechselwirkung auch die Veränderung von Schule im Blick. –
Insofern verweist Meyer zurecht auf einen, wenn nicht sogar den bedeutsamsten Kompetenzbereich, die Soziokulturelle Partizipation, den das Curriculum Theater/ Darstellendes Spiel für Theaterunterricht in der Schule definiert und fordert, nämlich: „Für die eigene Gestaltung Möglichkeiten soziokultureller Partizipation entwerfen.“ (Kultusministerkonferenz (2006): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) im Fach Darstellendes Spiel. Beschluss der KMK vom 16.11.2006, S. 13)
Da sollte das System Schule nicht ausgenommen sein.
Farnaz Arbabi und Gustav Deinoff verweisen in ihrem Beitrag „Eine Legende lebt. Das schwedische Unga Klara Theater auf Kurswechsel.“ auf eine veränderte Welt nach vierzig Jahren Leitung des Unga Klara durch ihre Gründerin Suzanne Osten und dessen Leitung die Autoren 2014 übernahmen.
Zwei bedeutsame Veränderungen in der Gesellschaft heben sie hervor: die eklatante Öffnung der Armut-Reichtums-Schere, die im Durchschnitt bei den ärmeren Menschen ein um 18 Jahre kürzeres Leben als bei den Menschen in den wohlhabenden Stadtvierteln bewirkt und dass jedes dritte Kind in Schweden mittlerweile seine Wurzel außerhalb Schwedens hat. Veränderungen, denen ein Kinder- und Jugendtheater Rechnung tragen müsse und ihre „künstlerische Arbeit wird das Theater zwangsläufig neu formen.“ (S. 17). Die tragenden Säulen des Konzepts von Suzanne Osten wollen sie aber beibehalten: Die Kindsperspektive, die sie auch immer wieder in sich selbst suchen, den intensiven Kontakt zu ihrem Publikum und dessen frühen Einbezug in den Arbeitsprozess und ihre Methode, sich mit Untersuchungen und Recherchen als Forscher auf den Weg zu machen, einen Zugang zu den Themen zu finden und sich ihm und einer Darstellung durch Improvisationen zu nähern.
Johan De Smet erzählt in seinem Gespräch mit Christian Schönfelder mit dem Titel „Eine Baroness als Ikone und das Kind der Kopergiertery.“ von der Übergabe der Leitung des europaweit führenden Kinder- und Jugendtheaters „Kopergiertery“ in Gent von Eva Bal, die es 1978 gründete, an ihn vor elf Jahren und welche Schwierigkeiten damit verbunden waren und sind, da die Baroness Eva Bal zwar die künstlerische Leitung an ihn abgegeben hat, aber immer noch im Theater mitarbeitet.
Smet hat schon als Kind in diesem Theater mitgewirkt und hat es immer genossen, von Anfang an ernst genommen worden zu sein. Als er später als ausgebildeter Regisseur wieder an dieses Theater kam, war es allerdings ein Schock, denn das, was er im Regiestudium gelernt hatte, wollte nicht so recht zur künstlerischen Vision und Philosophie des Hauses passen. Der Anpassungskampf erbrachte die Erkenntnis, nicht mit der Tradition des Hauses zu brechen: „Eher Dinge hinzufügen, um die künstlerische Vision und Philosophie besser mit der sich schnell verändernden Gesellschaft zu verbinden.“ (S. 20)
Als erstes Beispiel dafür nennt er die Gründung eines zweiten Standorts der Compagnie, des „Kopergiertery Rabot“, in der ärmsten Gegend von Gent, um auch diesen Kinder, häufig mit ausländischen Wurzeln, die Gelegenheit zu geben, an den Ateliers, den Workshops, teilzunehmen. Zweitens beschreibt er die Arbeit des „Medilab“, das die neuen Medien im Fokus der Arbeit hat. Und drittens betont der die Wichtigkeit der internationalen Vernetzung.
Martin Baltscheit bereichert das Jahrbuch mit einem ausgefallenen Beitrag, einem tierischen „Drama über den Generationenwechsel im Theater“ mit dem Titel: „Das Neue“. – Unterhaltsam und pointiert.
Anna Teuwen schwärmt geradezu in ihrem Beitrag „Altersübergreifend. Ein Theater der neuen Generation“ von dem SKART-Performance-Duo Mark Schröppel und Philipp Karau, beide Absolventen der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, und deren altersübergreifenden Produktionen, denen allerdings „mit analytischer Interpretation nur begrenzt beizukommen“ (S. 26) sei. Sie seien vielmehr eher rätselhaft – z.B. die Produktion „Lucky Strike“ – und balancierten als Resultat eines kollektiven Prozesses auf einem „hauchfeinen Grat des Aushaltbaren“. Eine „spürbare Authentizität“, die man als Leser dieser Zeilen natürlich nicht nachvollziehen kann, insbesondere wenn es um eine geschilderte Szene geht, in der ein zartes und zerbrechlich wirkendes als Katze verkleidetes siebenjähriges Mädchen „den erwachsenen Hans-im-Glück-Darsteller zwingt, sich am Strick zu erhängen.“ Fürwahr rätselhaft.
Hannah Biedermann und Winfried Wrede bedauern in ihrem Gespräch mit Eckardt Mittelstädt unter dem Titel „ Flausen – ein Residenzprogramm auch für das Kinder- und Jugendtheater der nächsten Generation?“ die geringe Nachfrage von Kinder- und Jugendtheatern nach dem Angebot „flausen – young artists in residence“, das sechs Wochen kostenfreies theatrales Forschen in professioneller Umgebung ermöglicht; inklusive Unterkunft, Aufwandsentschädigung und Betreuung. Sie vermuten: „Künstlerisches Forschen sei in diesem Bereich noch ungewöhnlich und neue Formate gerade für freie Kinder- und Jugendtheater eher hinderlich, die ihre Produktionen auf dem Markt anbieten müssen.“ (S. 29) –
Dieser Fakt wirft die Frage auf, ob der Zwang zur Produktion von marktgängigen Kinder- und Jugendtheateraufführungen auch mit den Erwartungen dieses Publikums zu tun hat, nämlich Bezüge zu ihrer eigenen Lebenswelt und ihren Fantasien und Tagträumen durch Identifikation mit den Figuren herstellen zu können und gleichermaßen nachvollziehbare auch figural-ästhetische, also greif- und übertragbare Darstellungen von Angstmachendem und Ungeheuerlichem im Theater erleben zu können. Letztlich geht es dabei immer um wenigstens teilweise nachvollziehbare Geschichten mit den bekannten Strickmustern des Lebens: Menschen begegnen sich, haben gleiche Interessen und kämpfen gegen äußere Widrigkeiten oder haben gegensätzliche Interessen und damit einen Konflikt, den sie austragen. Diese Mustererkennung kann auch ein junges Publikum leisten.
Katrin Gellrich plädiert in ihrer Stellungnahme „Wann gibt es denn mal wieder richtige Puppen auf der Bühne? Ästhetische Innvotionen, generations- portionsweise.“ für eine Öffnung des Figurentheaters Neuem gegenüber, um das Publikum „ästhetisch anzuregen und intellektuell herauszufordern“, denn „Kinder, in Unkenntnis des Erbes, schlucken das Neue meist völlig unproblematisch.“ (S. 31) –
Als ergänzende Lektüre zur knappen Darstellung von Gellrich sei der Aufsatz von Christian Plätzer (2015): „Zeitgenössisches Figurentheater – Entwicklung und didaktisches Potential“, in: Olsen, Ralph/ Paule, Gabriela (2015): Vielfalt im Theater. Deutschdidaktische Annäherungen. Balmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 130-142, empfohlen. Plätzer setzt sich mit der Fehlwahrnehmung der Öffentlichkeit – Figurentheater sei ‚nur’ Puppentheater für Kinder – auseinander und verweist darauf, dass sich die Sparte in den 1970er und 1980er Jahren stark verändert habe und seit dem verschiedene Kunstformen auf anspruchsvolle Weise integriere und es werde deswegen auch überwiegend von Erwachsenen rezipiert.
Lorris Andre Blazejewski stellt sich das gesammelte Wissen der Generationen als gigantischen Schatz vor, von dem er nach und nach eine Münze geschenkt bekommt. Ein schönes und konstruktives Bild, das Blazejewski in seinem kurzen Beitrag „Das gesammelte Wissen der Generationen. Wertschätzende Arbeitsatmosphäre, kommunikations- und kompromissbereit.“ entfaltet und mit seinen Erfahrungen begründet: Die wertschätzende Arbeitsatmosphäre in generationenübergreifenden Projekten ist bereichernd für alle. Sie enthält die „stetige Bereitschaft, Dinge aus der Perspektive der anderen sehen zu wollen.“ (S. 32)
Yvonne Kespohl hält in ihrer Ansprache an die Generationen Y und Z „Bewahre deinen offenen Blick. Erneuerung der Strukturen, mutig und optimistisch.“ ein leidenschaftliches Plädoyer für fantasievolle Sinnlichkeit im Theater und betont die Wichtigkeit, Geschichten zu erzählen, in allen erdenklichen Formen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Kespohl hat keine Angst vor einem angeblichen „Instant-Messaging-süchtigen Hashtag-Twitter-Facebook-Monster“. Wer hat das eigentliche erfunden?
Ilona Sauer gibt in ihrem Beitrag „Facing the audience – facing the reality. Ein Streifzug durch die Publikationen zum Kinder- und Jugendtheater in der Spielzeit 2013/14.“ einen Überblick über das, was die Autoren des vergangenen Jahres bewegte und wozu sie publizierten. Ihr Fazit: „Die bibliografische Sichtung in diesem Jahr zeichnet sich gegenüber anderen vor allem durch grundsätzliche Reflexionen und auch durch neue Überlegungen zum Kinder- und Jugendtheater aus. Vielleicht ein Wendepunkt in der Debatte, vielleicht Diskurseröffnungen, die ihre Wirkungen entfalten werden.“ (S. 40)
Mit einem persönlichen telegrammartigen Rückblick auf die Spielzeit 2013/14 „Ein Jahr des Kinder- und Jugendtheaters.“ beschließt Wolfgang Schneider den redaktionellen Teil des Jahrbuchs und verweist schlaglichtartig und grenzüberschreitend auf diese Erfolgsstory und auf jene Gefährdung kultureller Bildung im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters.
Das Jahrbuch zeigt: Es tut sich mehr und mehr.
Kulturelle Bildung im Kinder- und Jugendtheater scheint weiter auf dem Vormarsch im öffentlichen Bewusstsein, öffnet sich selbst neuen Formen gegenüber und zeigt eine kaum überschaubare Heterogenität in Konzeption und Praxis.
Es darf geabenteuert werden.
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