Fuchs, Max/ Braun, Tom (Hg) 2015: Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung. Grundlagen, Analysen und Kritik. Band 1 Schultheorie und Schulentwicklung. Weinheim: Beltz Juventa. 278 Seiten – Rezension
Kulturschule als Motor für Schulentwicklung?
16 Autoren tragen ihr Wissen darüber zusammen, inwiefern das Konzept der Kulturschule zum wesentlichen Moment einer Schulentwicklung werden kann. Die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen verändert die Schule und das gesellschaftliche Umfeld. Vereinen, Musikschulen und anderen Kulturinitiativen gehen Mitglieder und Kunden verloren. Schulen müssen sich Gedanken machen, was sie mit den Schülern den ganzen Tag Sinnvolles anstellen wollen. Da liegt der Gedanke nah, Initiativen zur Kooperation von Schule mit außerschulischen Institutionen aufzugreifen und die darin enthaltenen Entwicklungschancen auszuloten.
Das ist eine Herkulesaufgabe, wenn man bedenkt, dass außerschulische Aktivitäten zum Teil schulischem Lernen ablehnend bis feindselig gegenüberstehen. Als Hauptargument von Künstlern und Theaterpädagogen wird dabei die Vereinnahmung und Funktionalisierung der Kunst für pädagogische Zwecke ins Feld geführt. Ein wenig plausibler Vorwand, um sich nicht mit den zugegeben schwierigen schulischen Rahmenbedingungen auseinandersetzen zu müssen. Es wird sich zeigen, wie offen diese Künstler sind, wenn es darum geht, z.B. mit Theater-Lehrkräften gemeinsam Konzepte zu erarbeiten, die dazu führen, was als Statement in den Vorworten des Sammelbandes formuliert ist:
„Kulturelle Bildung ist Teil allgemeiner Bildung. Sie eröffnet Kindern und Jugendlichen einzigartige Möglichkeiten, sich selbst als Person und die gesellschaftliche und natürliche Welt um sich herum zu erfahren, zu verstehen und aktiv mit zu gestalten. Dadurch fördert sie die Persönlichkeitsentwicklung und die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen, die für eine aktive und erfolgreiche Teilhabe an der Lebens- und der Arbeitswelt von heute und morgen wichtig und entscheidend sind. Deshalb sollte kulturelle Bildung zu jeder guten Bildung in der Schule nicht nur am Rand, sondern selbstverständlich und zentral als Teil des Selbstverständnisses guter Schule dazu gehören.“ (7)
Und
„Die Schule wird im Zuge der Ganztagsschulentwicklung zunehmend zum zentralen Aufenthalts- und Lebensort für Kinder und Jugendliche. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Qualität von Schule neu. Die Verschränkung individueller Persönlichkeitsentwicklung und einer gelingenden Bildungsbiografie mit Selbstbestimmung und pädagogischem Auftrag der Institution Schule rücken die Potenziale ästhetisch-kultureller Praxis für die Entwicklung einer veränderten Lern- und Lehrkultur in den Mittelpunkt. Kulturelle Bildung als ein unverzichtbarer Teil der Allgemeinbildung, der Kinder und Jugendliche vom Standpunkt der Subjektorientierung aus in ihren Stärken und Bedürfnissen anerkennt sowie Ihnen Befähigungs- und Bildungsgelegenheiten systematisch zugänglich macht, kann dazu einen entscheidenden Beitrag leisten.“ (9)
Der Sammelband will Auskunft über den Stand der Entwicklung zu den Schwerpunktthemen Schultheorie, Unterrichtsentwicklung, pädagogische Ästhetik und Kunstbegriff, die in engem Kontakt mit der Praxis der betroffenen Schulen erarbeitet werden. Dabei soll eine kritische Haltung gegenüber eindimensionalem Verständnis von Schule eingenommen werden, die sie auf „kognitive Dimension reduziert“ und „die Schule zu stark an Bedürfnissen der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft orientiert“. (16f)
Andererseits wird ein Statement gegen eine vorrangige Bedeutung des Ästhetischen formuliert, die das Künstlerische klar einer ethischen Dimension unterordne, dem Schule aber primär verpflichtet sei. (17)
Fuchs/ Braun erkennen an, dass eine Umsetzung des Konzeptes der Kulturschule „nur dann gelingt, wenn alle Beteiligten in ihrer alltäglichen Praxis erfahren, dass dieses Konzept von Nutzen für sie ist.“ (18) und es geht darum aufzuzeigen, inwieweit die ästhetische Dimension „Eingang in die entsprechende praktische Unterrichtsgestaltung finden kann.“ (19)
Als Fazit dieser nicht ganz neuen Erkenntnis, dass Theorie ihre Lebensberechtigung nur über die Praxis vermitteln kann, wir formuliert, „dass es notwendig ist, sehr viel umfangreicher als bisher mit Arbeitshilfen die Arbeit der Lehrer/innen zu unterstützen.“ (19)
Kuschel, Sarah: Ästhetisches Lernen – eine Standortbestimmung. 26-87
Kuschel beschreibt die historische Entstehung, die Begrifflichkeiten um ästhetisches Lernen und geht der Frage nach, „was ästhetisches Lernen von allgemeinem und anderen Lernformen unterscheidet, welche Potenziale mit ästhetischem Lernen verbunden sind.“ (36)
Ästhetisches Lernen kennzeichnet sich „in besonderem Maße durch einen (erfahrungs-)offenen Ausgang sowie durch die Auseinandersetzung mit Hindernissen im Verlauf des Lernprozesses aus. Mit diesem Aspekt verbunden, stellen Übung, aber auch Scheitern als Erfahrung sowie reflektierte Selbstwahrnehmung innerhalb ästhetischer Lernprozesse charakteristische Merkmale dar.“ (36) Üben und Trainieren seien wesentliche Kategorien ästhetischer Erfahrungen ohne die kein ästhetisches Lernen möglich ist und „impliziert stets auch Erfahrungen von Scheitern, insofern die Notwendigkeit von Wiederholungen, die mit dem Einüben verbunden sind, die Erfahrung des ‚Noch-nicht-Genügens’ bedeuten, die es zu ertragen und emotional zu gestalten gilt. Hieran anknüpfend wird ästhetisches Lernen zu einem Prozess, der entgegen eines kontinuierlichen Aktes vielmehr mit Hindernissen und Erfahrungen von Negativität verbunden ist.“ (42)
Kuschel entfaltet einen weit gefassten Fächer der Bedeutungszuschreibungen für ästhetisches Lernen, dessen Kern eine reflexive Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit ist. Insgesamt werden 23 verschiedene Strukturelemente für ästhetische Erfahrung genannt, u.a. Aufmerksamkeit, unmittelbares Erleben, Spannung, Fantasie, kommunikative Mitteilung, Genuss, Überraschung, Staunen usw. durch eine Verdichtung von Wahrnehmung, Offenheit, Mehrdeutigkeit und Kontingenz. (40), die in einer Kulturschule wirksam werden können. Kuschel listet 10 Handlungsprinzipien nach Schorn auf, die „für die Konzeption und Durchführung als auch für die Reflexion ästhetischer Praxisprojekte“ gelten können:
- „Handlungsorientierung und Ganzheitlichkeit (Kopf, Herz und Hand),
- Freiwilligkeit,
- Partizipation,
- Lebensweltorientierung,
- Erfahrung und Selbstwirksamkeit,
- Fehlerfreundlichkeit und Stärkeorientierung,
- Selbstgesteuertes Lernen in Gruppen,
- Offenheit für Vielfalt,
- Zusammenarbeit mit Kulturpädagog/innen und Künstler/innen,
- Öffentlichkeit und Anerkennung (Braun/ Schorn 2012: 131ff.; Schorn 2009: 7ff.; M.Fuchs 2011: 46).“ (43)
In ausführlicher Weise stellt Kuschel im Folgenden drei ausgewählte Beispiele für Theorien und Modelle des ästhetischen Lernens, der ästhetischen Bildung und Erziehung der vergangenen Jahre vor „die mit einer pädagogischen Perspektive verbunden sind. Zu diesen zählen das durch Göhlich, Zierfas, Liebau und Wulf thematisierte ästhetische Lernen als eine spezifische Form des Können-Lernens, das von Mollenhauer beschriebene Konzept der ästhetischen Alphabetisierung sowie das von Dietrich, Schubert und Krinninger entwickelte FASS-Modell, das vier Dimensionen ästhetischer Erziehung und Bildung darstellt.“ (50)
Ein Blick auf internationale Forschung rundet die Zusammenstellung der Forschungsansätze ab, in dem Kuschel u.a. auf die von der UNESCO an Anne Bamford in Auftrag gegebene Studie aus 2010 hinweist, in der sie 2004 und 2005 in 40 Ländern Kinder und Jugendliche nach ihren Erfahrunge mit arts education befragte: „Zu den wichtigsten Ergebnissen der Studie zählt die Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche dabei nur von guten Angeboten künstlerischer Bildung profitieren, schlechte arts education hingegen verheerender als vollständig ausbleibende sei.“ (74) Es geht also um Qualität. Was sonst?
Eine weitere bedeutsame Studie, die als inspirierendes Anschauungsbeispiel für die Zusammenarbeit von außerschulischen Experten wie Künstlern, Architekten und Wissenschaftlern und den Wandel von Schulen und Curricula sowie der Praxis des Lernens und Lehrens gelten könne, wie sie die Kulturschule reklamiert, sei „Creative Partnership“, das in England von 2002-2011 mit mehr als 8.000 Projekten, 90.000 Lehrenden, 6.000 Kulturinstitutionen und 2.700 Schulen durchgeführt wurde.
Mack, Wolfgang: Zur Sozialraumortientierung von Schule. 88-117
Mack beschreibt einige Studien, die den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg beschreiben. Kinder aus defizitären Sozialräumen erfahren geringere Förderung bei ihrer Bildung als Kinder aus sozial höher stehenden Sozialräumen. „Terpoorten kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass Bildungssegregation im Sinne einer sozial strukturellen unterschiedlichen Verteilung der Chancen im Bildungssystem und sozialräumliche Segregation in den Städten in einem engen Zusammenhang stehen.“ (100)
Schulen in entsprechend benachteiligten Sozialräumen „stehen dabei in der Gefahr, zu Brennpunktschulen zu werden, die keine Perspektiven für ihre Schüler/innen bieten können und die selbst die dadurch induzierten Probleme kaum mehr bewältigen können. Deshalb sind Maßnahmen erforderlich, Schulen in sozial benachteiligten Quartieren in die Lage zu versetzen, ein attraktives Bildungsprogramm für Kinder und Jugendliche benachteiligten Lebensverhältnissen zu bieten.“ (102)
Ganztagsschulen erscheinen hinsichtlich dieser Problematik als mögliche Gegenmaßnahme. „Ganztagsschule in diesem Sinne ist keine Insel, von der aus es kaum Bezüge zu dem gibt, was um sie herum vorgeht, sie muss sich vielmehr selbst in einer neuen Weise als Teil des Stadtteils und der Gemeinde, in der sie sich befindet, begreifen. Damit eröffnet sich auch eine sozial räumliche Perspektive auf Schule.“ (103) Der Institution „Jugendhilfe“ kommt dabei eine besondere Bedeutung zu bei der Umgestaltung zur Kulturschule.
„Für die Kulturschule sind damit Erwartungen und Herausforderungen verbunden. Sie können in der konkreten pädagogischen Arbeit aufgenommen und gestaltet werden und sie erfordern, dass sich die Kulturschule im Sinne dieser Erwartungen an Sozialraumorientierung in die bildungs-, jugend- und sozialpolitischen Diskussionen im Gemeinwesen einmischt und sich mit der Vernetzung mit anderen Institutionen und Akteur/innen an der Gestaltung von lokalen Bildungslandschaften beteiligt.“ (114)
Weigand, Gabriele: Personorientierung und kulturelle Bildung. Ein Vergleich pädagogischer Ansätze zu Grundlegung und Gestaltung von Schulen. 118-133
Weigand fordert eine Orientierung am Personbegriff, wenn es um kulturelle Bildung geht, da sie zu einer Bildungstheorie führe, die „nicht allein die Aspekte der kognitiven Leistung und der intellektuellen Mündigkeit berücksichtigt, sondern die Einmaligkeit und Unverfügbarkeit des Menschen betont und auch weiter personale Momente einbezieht, den Körper, Affekte und Emotionen, die Sensibilität, die Dialog- und Wahrnehmungsfähigkeit.“ (120)
Durch diese Setzung habe die Schule eine schlüssige Antwort auf die Frage zu liefern, unter welchen Voraussetzung alle Kinder und Heranwachsenden ihre Potenziale entfalten können.
Duncker, Ludwig: Ganztägige Bildung und ästhetisches Lernen. Neue Herausforderungen für Theorie und Praxis der Schulentwicklung. 134-150
Duncker warnt vor einer Mogelpackung der Ganztagsschule, wenn es nur um ein zusätzliches Mittagessen und eine Nachmittagsbetreuung durch billige Hilfekräfte gehe. Außerdem sieht er die Einführung von Bildungsstandards kritisch, die letztlich dazu dienten in „Analogien zu einem industriellen Produktionsbetrieb“ komplexe Themen und Inhalte in kleine Bestandteile zu zerlegen und linear hintereinander anzuordnen, das die angestrebten Ziele ohne Umwege und möglichst gradlinig erreich- und überprüfbar machen will. „Die solchermaßen gewonnene Struktur eines methodisch-systematischen Lernens wird besonders deutlich in den Spielarten des Trainings und des Lehrgangs, die in engmaschigen Schritten vorgegebene Ziele verfolgen.“ (136) und letztlich zu einem Teaching-to-the-test führten.
Dunker setzt eine Form von Bildung dagegen „die unser Denken erweitert, die uns in die Lage versetzt unsere Erfahrungen zu reflektieren und ihren Sinn in größeren Kontexten zu klären.“ (137) Die Kulturschule liefert „nicht nur fertige Antworten auf vorgegebene Fragen (…), sondern (findet) auch neue Fragen (…), sogar dann, wenn keine schnellen und in kalkulierbaren Zeiträumen erreichbaren Antworten erwartet werden können. Bildung ist deshalb immer angewiesen auf Verständigung und Offenheit für das Neue, sie sensibilisiert uns für das Staunenswerte und Überraschende, sie mündet nur selten ein in abfragbare Merksätze. Das offene Suchen und Abtasten, das Ausprobieren und Erkunden, das Innehalten und Auskosten, das spielerische Sondieren von Möglichkeiten, Ideen und Wegen – all dies sind Momente eines bildenden Lernens.“ 137)
Insofern sollten Ganztagsschulen „nicht nur ein Ort der Belehrung, sondern auch ein Erfahrungsraum werden.“ (144) Dunker beschreibt an einem Beispiel eine Schule, die „das ästhetische Lernen konstruktiv in ihre pädagogische Arbeit“ aufgenommen und integriert hat. (148)
Sliwka, Anne/ Kopsch, Britta/ Maksimovic, Aleksandra: Schulkultur durch kulturelle Bildung entwickeln: Die Kulturschule als wirksame Lernumgebung. 151-164
Die drei Autorinnen wollen ihr Verständnis von Kulturschule als Lernprozess verdeutlichen, der „Schüler/innen die aktive Teilhabe an der Entwicklung der menschlichen Kultur“ (151) ermöglicht. Die „drei menschlichen Grundbedürfnisse Kompetenzerleben, Autonomie und emotionale Zugehörigkeit“ (151) sollten unter dem Dachbegriff „Kulturschule“ eine wesentliche Rolle spielen, und – auf Fuchs verweisend – sich in dem vor Ort situativ Machbaren arrangieren, was in der zunehmenden Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit von Schulen auf ein Gestaltungsfeld trifft.
Learning through the arts realisiert sich damit in Schulen, die durch „schulscharfe Ausschreibungen gezielt Lehrkräfte“ (154) einstellen können, die über entsprechende Qualifikationen verfügen, z.B. über zusätzliche künstlerische Kompetenzen. Eine derart gestaltete Lernumgebung ist Nährboden für die Bildung von „Communities“, die sich im gemeinsamen Schaffensprozess verbunden fühlen.
Die Autorinnen zeigen, dass auch in der Kulturschule Leistungsmessungen keine Behinderung sind, sondern als angemessene Herausforderung den Lernprozess fördern, indem sie eine „Zone der nächsten Entwicklung“ beschreiben, die von Schülern als angemessene Herausforderung und nicht als Über- oder Unterforderung für die eigene Entwicklung erkannt werden. „Formative Leistungsrückmeldung bedeutet, dass dem Lernenden eine Rückmeldung gegeben wird, die vor allem darauf abzielt, seinen Prozess zu stärken und die ihm einen Korridor aufzeigt, in dem er sich weiterentwickeln kann. (…) Dies steht nicht im Widerspruch zum emanzipatorischen und identitätsstärkenden Anspruch der kulturellen Bildung. – Es sei ergänzt, dass es ein natürliche Bedürfnis von Kinder ist, Leistung zu erbringen. Denn über erbrachte Leistung vermittelt sich regelmäßig ein gutes Eigengefühl und soziale Anerkennung. Jeder, der ein Kind großgezogen hat, weiß das, ohne jemals ein Buch darüber gelesen zu haben.
Bastian, Johannes: Kulturelle Bildung – ein Motor für Schulentwicklung? Fragen an das Konzept einer „kulturellen Schulentwicklung“. 165-175
Bastian will einen „Impuls geben für eine selbstkritische Überprüfung eines Diskurses über Schulentwicklung im Kontext der kulturellen Bildung“ wobei „Basis der hier eingenommenen Perspektive von Schulentwicklung (…) ein Verständnis von Lehren, Lernen und Unterricht (ist), das am Leitbild des selbstständig Lernenden orientiert ist und dementsprechend eine Entwicklung von Unterrichtsarrangements anstrebt, in der die Aufgabe des/der Lehrenden verstanden wird als Wahrnehmen, Verstehen und Begleiten von Bildungsprozessen.“ (165)
Er relativiert das Ansinnen, insofern er feststellt: „Was hier den Anschein eines modernen Konzepts von Lernen und Unterricht erweckt, ist theoretisch und konzeptionell aufgehoben in der Traditionslinie der Allgemeinen Didaktik seit den 1980er Jahren repräsentiert von Wolfgang Schulz über Wolfgang Klafki bis Lothar Klingenberg; dies wird seit Beginn dieses Jahrhunderts weitergeführt in der aktualisierten Diskussion der Bildungsdidaktik (zum Überblick vgl. Terhart 2009; zur Bildungsdidaktik u.a. Hericks 2008).“ (165f)
Ein gelingender Prozess von kultureller Bildung in Schulen hänge wesentlich davon ab, dass die allgemeinen Entwicklungsaufgaben von Schulentwicklung „in fachspezifisch ausdifferenzierte Material- und Aufgabenentwicklung“ (170) transformiert würden. Hierin sieht Bastian einen Anknüpfungspunkt „zur Reflexion des Verhältnisses von kultureller Bildung und Schulentwicklung sowie einer Analyse der eigenen Praxis, vor dem Hintergrund von Befunden, die zur Schulprofilierung als Strategie der Schulentwicklung vorliegen.“ (174) –
In diesem Kontext sei die Aufmerksamkeit auf ein seit vielen Jahren vorliegendes bzw. sich entwickeltendes Unterrichtskonzept für den Bereich Theater gelenkt, das verdichtet in dem Lernarrangement des Kursbuch-Konzeptes versucht, Material in dieser Kontextualität zu erarbeiten und in 2014/15 einer ersten Evaluation unterzogen wurde. Deutlich wird hierbei auch die praktische Umsetzung, wie sich über konkret beschriebene Lernimpulse zur ästhetische Bildung im Bereich Theater eine Ethik ausformuliert, und sich auf der Verhaltensebene in erarbeiteten Ritualen gemeinsamen Umgangs (z.B. Feedback-Regeln, Prozessteuerung usw.) manifestiert, was als Kernkultur der Kulturschule gelten sollte.
Hasse, Jürgen: Ästhetische Bildung als Projekt der Differenzierung der Wahrnehmung. 178-198
Hasse versucht in seinem Beitrag eine Brücke zu schlagen zwischen der Neuen Phänomenologie und dem bildungsphilosophischen Verständnis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule: „An knapp illustrierten Beispielen werden mögliche Perspektiven einer Praxis ästhetischer Bildung als fächerübergreifende Methode des Lernens skizziert.“ (178) gegen eine „Aufteilung der Welt nach künstlichen Inhaltsfeldern bzw. fachspezifischen Zuständigkeiten.“ (179)
Nach Adorno gehe es vorrangig um die „Bewusstwerdung und Erweiterung der Wahrnehmung“. (179) und Hasse will die „Notwendigkeit der Schärfung der Wahrnehmung als bildungstheoretische(n) Ausdruck Kritischer Theorie“ (180) umreißen. Eine gelingende Aufklärung sei an Emanzipation gebunden und diese setze ein differenziertes Wahrnehmungsvermögen voraus. „Nur wer in seinem welt- wie selbstbezogenen Leben im Detail wahrzunehmen vermag, was ist und wie die Dinge und Verhältnisse sich verändern, kann auch differenziert handeln.“ (181)
Hasse fragt nach der Wirksamkeit atmosphärisch inszenierter Räume, weil Situationen des Lehrens und Lernens stets mit anderen rahmenden Situationen wie Schulbauten und -räume verschachtelt seien.
Die Bedeutung der Raum-/ Situationsanmutung habe ich im Tutorial zum Empfang der Schüler im Probenraum und Start eines Theaterprojektes beschrieben im ersten Tutorial zur Erläuterung der Arbeitsweise mit dem Kursbuch Theater machen.
Ein eindrückliches Beispiel wie groß der Einfluss von Raumgestaltung auf unterrichtliche Prozesse und die entsprechende ästhetische Bildung hat, habe ich in einer Schule erlebt, in der es um die Erneuerung des Teppichbodens im Theaterraum ging. Eine Erneuerung wurde von der Schuladministration mit der Begründung abgelehnt, dass die regelmäßige Reinigung zu teuer sei und die Lehrer und Schüler dies auch nicht übernehmen dürften. Stattdessen wurde ein kalter Kunststoffboden verlegt, der nun jedes wunderbar wirksame häufige Sitzkreis-Ritual (bei Start und Ende, bei Feedback- und Reflexions-Runden, bei Besprechungen) verunmöglicht, weil ein Sitzen und Bodenarbeit überhaupt nicht mehr bzw. kaum noch praktikabel erscheint durch die kälteausstrahlende Wirkung des dysfunktionalen Bodens. So macht Schuladministration ihre Macht deutlich und verunmöglicht aufgrund Uneinsichtigkeit und vorgeschobenem finanziellen Argument wirksame Impulse ästhetischer Arbeit im Handstreich.
Mit Hasse kann man schlussfolgern: „Letztlich sind es immer mit Bedeutung aufgeladene Eindrücke, die vor dem Denken noch die Aufmerksamkeit entzünden.“ (188) denn jedes kognitive Verhalten hat ein affektives Gegenstück. –
Die in den folgenden Beiträgen beschriebenen Unterrichtsbeispiele zum kreativen Lernen in einer fachübergreifenden Naturwissenschaft stellten Lehrkräfte einer Gesamtschule zur Verfügung. Sie bieten unter Berücksichtigung von Lerngruppe und Lernumgebung Methoden kultureller Bildung und ein vielfältiges Potenzial didaktischer Bereicherung an, das in unterschiedlichen Kontexten des fachübergreifenden Naturwissenschaftsunterrichtes wirksam werden kann.
Die Ausgangshypothese lautet: „Biologie als interdisziplinäres und prozessorientiertes Brückenfach bietet innerhalb der Naturwissenschaften besonders viele Anknüpfungspunkte für den Einsatz kultureller Methoden und fordert ästhetisches Lernen geradezu heraus.“ (200f) –
Die Haupt-Problematik der Beschreibung der folgenden Unterrichtsbeispiele für die Naturwissenschaften, Mathematik, Sport und Englisch besteht in einer schlüssigen Beantwortung der Fragen: Wie werden präzise vorgegebene Inhalte eines Faches gegenüber ästhetischen Bearbeitungen in einer Kulturschule gewichtet? Sind Elemente von Logik und Kausalität mit Kriterien von Schönheit, Komposition und künstlerischem Ausdruck überhaupt miteinander vereinbar? Muss sich nicht zwangsläufig das Eine dem Anderen unterordnen? Auf Fächer bezogen hieße das, z.B. für die Mathematik zu fragen: Gibt es eine Schönheit von Zahlenverhältnissen (goldener Schnitt), eine Eleganz einer Beweisführung und eine ästhetische Ergriffenheit von der Zahl Pi? Lassen sich Verfahren der Bewegungsgenerierung und -komposition beim Tanz wie die contact improvisation, bei der physikalische Gesetze wie Reibung, Schwungkraft, Anziehungskraft und Trägheit genutzt und sicht-, beschreib- und berechenbar werden, schlüssig in einem stimmigen Lernkonzept verknüpfen, das nicht krampfig und aufgesetzt erscheint? (Vgl. Klein 2015)
In dem vorgestellten Beispiel der Anwendung ästhetischer Methoden für den Englischunterricht zeichnet sich eine weitere bedeutende Problematik ab. Hier wird eine Methode lebendigen Englischunterrichts vorgestellt, die die Kommunikation in den Mittelpunkt des Spracherwerb stellt, wie sie bereits in den 1970er Jahren an den Universitäten den Lehrern beigebracht wurde (vgl. z.B. Piepho: 1974) und selbstverständlich auch das Rollenspielen und das Theaterspielen für diese Zwecke nutzte (vgl. auch die zahlreichen English Theaters, die sich aus diesem Impuls heraus bildeten).
In dieser Art Gebrauch von Theater als Methode für einen anderen Zweck wird in diesem hier vorgestellten Beispiel eine Vorstellung von Theater tradiert, die die gravierenden Veränderungen sowohl im professionellen Kinder- und Jugendtheater als auch im Schultheater der letzten 20 Jahre ignoriert und mit einer aktuellen Didaktik des Theaters, wie sie sich in den Lehrplänen und Schulbüchern seit vielen Jahren manifestiert nur wenig zu tun hat. Wesentliche Impulse für die Einrichtung einer Kulturschule bleiben so ungenutzt. Für den aktuellen Theater-Unterricht im Unterrichtsfach Darstellendes Spiel wirken diese Beispiele sogar kontraproduktiv. Schüler kommen mit einem verstaubten Bild von Theater in den Theater-Unterricht, das sie schon in früher Kindheit von Lehrkräften mit laienhaftem Verständnis von Kindertheater in die Köpfe gepflanzt bekommen. Theater-Unterricht nach einer zeitgemäßen Didaktik muss dieses eingeschränkte Bild von Theater eröffnen; manchmal gegen große Widerstände der Schüler und ihre falschen Erwartungen: Wann bekommen wir unsere Rollen? Wann fangen wir an, den Text zu lernen? Wo sind unsere Kostüme? Usw.
Es wäre schön, wenn sich auch hier eine gewisse Scheuklappenmentalität der verschiedenen Bereiche, die sich mit kultureller Bildung beschäftigen abgelegt würde und man sich zu einem offenen Austausch von Informationen, Erfahrungen und Erkenntnissen aufmachte. Es würde sich insbesondere lohnen, wenn es darum geht, bei der Umgestaltung eines zu wenig an menschlichen Bedürfnissen ausgerichteten System von schulischer Bildung einen starken Impuls bei der Politik und den Entscheidern zu platzieren, der von den verschiedenen beteiligten gesellschaftlichen Gruppen und den verschiedenen professionell mit diesem Thema befassten Menschen gemeinsam getragen wird. Andernfalls könnten sich vorgetragene unterschiedliche Argumentationen als kontraproduktiv erweisen, bei dem Versuch, die Vision Kulturschule als Regelschule zu etablieren.
Literatur
- Klein, Gabriele (Hg) 2015: Choreografischer Baukasten. Das Buch. Bielefeld: transcript
- Piepho, Hans-Eberhard 1974: Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht. Limburg: Frankonius
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