Öffentliche Klotüren – dekonstruktivistische Performance besonderer Art [Glosse]
Wie war das eigentlich mit den sogenannten HasskommentaToren, bevor es das Internet gab? Wo haben sich diese Menschen ohne angemessene Erziehung, mit zumeist geringer Bildung und oft mit beschränktem Horizont geäußert? Wo haben sie ihre Vorurteile verkündet und ihre emotionale Unausgeglichenheit öffentlich gemacht? Wo haben sie früher gekotzt, wenn sie eine von ihrer Meinung abweichende gelesen haben („Wenn ich das lese, könnt ich kotzen mit einem Dutzend Ausrufezeichen“. Quelle: fb)?
Es war auf der einen Seite, vorn, der berühmte Stammtisch. Und auf der anderen Seite, hinten, eine Stufe drunter, ganz in der Nähe, waren es die Klotüren und die Klowände. Warum zumeist dort? Ersatzweise auch Wände, Parkbänke, Brückenpfeiler, Tunnel, Züge usw., also beschreibbare Flächen in der Öffentlichkeit. Manchmal auch Häuserecken. Dort wo Gassenköter ihre Reviere durch UrintröpfCHEN und HäufCHEN markieren: Hier: ICH!
Kleiner Exkurs am Rande: Als ich in den 1980er Jahren in einem Gymnasium arbeitete, verkündete dort ein älterer Kollege (Fächer Deutsch und Sozialkunde) im Lehrerzimmer unter der üblichen Anwesenheit mehrerer KollegInnen, wie man seiner Meinung nach „das Problem mit den Grünen“ lösen sollte. Sein Vorschlag: „Genickschuss!“ In dieser Weise verkündete er allerorten seine politische Meinung, und ich will nicht verschweigen, dass er auch entsprechend unterrichtete und benotete.
An sehr vielen Klotüren und öffentlich sichtbaren Flächen kann man, wenn man möchte, ähnliches Lesen und sehen, z.B. Hakenkreuze, Hammer & Sichel, Geschlechtsteile im Stil naiver Malerei usw.
Heute haben solche Menschen immer noch die Möglichkeit, ihre teilweise inhumanen Meinungen frei zu zeigen. Ihre Nutzfläche hat sich durch das Internet aber enorm vergrößert und ihre Reichweite ist nahezu grenzenlos.
Ich habe früher schon solche Äußerungen gesehen, kaum zu vermeiden, wenn man in einer Gaststätte auf die Toilette geht, und ich habe mich gefragt, warum benutzen solche Toren primär Klotüren und Klowände, um ihr geringes Geistiges abzusondern. Hat es etwas mit der Situation der Entschlackung des Körpers zu tun? Es sollen einem ja beim Kacken Gedanken kommen, sagen Hirn- und Kreativitätsforscher. Was aber, wenn das, was hinten rauskommt, was ja laut einem ehemaligen deutschen Kanzler das Entscheidende ist, sich wenig von dem unterscheidet, was über die Fressöffnung ausgesondert wird? Die Analysen von Giulia Enders in „Darm mit Charme“ lassen wir jetzt mal außen vor. Sind es gar Künstler? Alle Menschen sind ja Künstler, hat mal ein berühmter Künstler behauptet. Also sind es Künstler, die sich da äußern und in einem Anfall eines introspektivischen stream of consciousness dekonstruktivistisch performen? Es geht also um die aufmerksamkeitssteigernde Enthierarchisierung aller körperlichen Mittel, heißt: Was hinten rauskommt ist was vorne rauskommt ist pure körperlich-sinnliche Präsenz ist Versuch partizipativer Einbindung des Publikums, zumindest olfaktorisch-visuell? Ist haptisch? Performance ganz im ursprünglichen Sinne – the artist is present – das Publikum direkt konfrontierend, einbeziehend, berührend … Urgh! … Mpf!?
Warum sollte ich mich zu „Klotür-Inschriften äußern? Ich habe das doch früher auch nicht getan. Aus gutem Grund. Warum sollte ich es jetzt tun? Weil sich die beschriftbare Nutzfläche – auch YouTube usw. sind eigentlich erstmal nur speakers-corner, Werkzeuge zur Herstellung von Öffentlichkeit – bis ins Grenzenlose erweitert hat, für nahezu jeden Menschen? Warum gehen so viele Menschen, auch vermeintlich kompetente Journalisten, auf solch geistigen Dünnschiss immer wieder ein und erzeugen eigentlich erst eine große BREItenwirkung, indem sie diesen Scheißbrei noch ordentlich verteilen und breittreten. Wir wissen ja, dann klebt das Zeug auch irgendwie an einem und zieht diese Schmeißfliegen usw. erst recht an. Ich bitte meine etwas drastische Sprache zu entschuldigen, aber es geht nunmal um öffentlich gemachte Scheiße.
Ich bitte alle kompetenten Journalisten: Lasst Klotür-Inschriften da, wo sie sind. Helft nicht bei ihrer Verbreitung. Das hat nichts damit zu tun, dass man auch mal Stellung beziehen muss.
Neulich in einer öffentlichen Sauna musste ich einen Mann zu Rede stellen, der laut gestikulierend die KZs der Nazis verharmloste, indem er formulierte, die Engländer hätten die ja auch gehabt. Da er laut sprach und viele das mithören mussten, habe ich auch laut gesprochen. Er hat anschließend geschwiegen. Ich habe diesen Stammgast auch nicht mehr in der Sauna gesehen.
Ist es aber unumgänglich, zu einer unangemessen Äußerung, einer Beschimpfung der eigenen Person oder Kritik unter der Gürtellinie Stellung zu beziehen – ich erlebe das auch – dann begegne ich diesen Menschen mit normaler Freundlichkeit, spreche sie mir ihrem Namen an und lade auf ein Feierabend-Bierchen oder etwas Alkoholfreies ein, um mir in aller Ruhe ihre Meinung und ihre Argumente anzuhören. Ausgenommen Strafbares. Natürlich. Wir haben doch viele tolle Gesetze. Da ich jahrzehntelang Menschen zum Thema „Beschwerdemanagement“ trainiert habe, weiß ich, wie wichtig und überraschend wirksam es ist, den Beschwerdeführer höflich anzuhören, ihn zu ermuntern, seinem Ärger Luft zu machen und ihm ernsthaft zuzuhören. – Da hilft enorm die Impro-Übung „Und dann?“ – Nach dieser oft nur wenige Minuten dauernden Erfahrung, die der Beschwerdeführer macht, es hört ihm jemand ernsthaft zu, ist häufig der überwiegende Teil der Wut verflogen. Man kann dann häufig in ein respektvolles Gespräch einsteigen und gemeinsam nach Lösungen suchen. In ganz wenigen Fällen, bei ganz verbohrten und verblendeten, oft wissensarmen Menschen, klappt das nicht. Dann bin ich ganz Stoiker. Ach ja, nochwas zum Schluss. Die Anzahl der wirklichen Toren ist sehr gering. Die Verbreiter, die Multiplikatoren, lassen sie erst durch zahllose Wiederholungen für einfache Menschen zu einer großen gefühlten Menge anschwellen. Und um die Wirkung von „gefühlten“ Tatsachen wissen wir. Dagegen helfen auf Dauer nur überprüfbare Tatsachen.
Fazit:
Let the shit in the toilet. Put the toilet (and the urinal) back into the restroom. Hat so oder so ähnlich auch schonmal ein Künstler gesagt. Oder ein Kritiker eines Künstlers. So genau weiß ich das jetzt nicht mehr. Egal. Let the shit in the toilet. Und dann dazu schweigen.[1]
[1] Ganz so wie es ein Kritiker zu einem schlechten Theaterstück machte > https://angewandte-theaterforschung.de/theaterkritiker-werden-arbeitslos-gob-squad-praesentiert-koch-statt-theaterkunst/. Und dass er ankündigte, nichts zu etwas zu sagen und zu schreiben, dass einen nicht weiterbringt, etwas dazu zu sagen und das auch zu begründen, das hat ein bisschen theatrales Irritationspotenzial, finde ich.
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