Zu einer vollständigen Didaktik für schulischen Theaterunterricht gehört auch das Thema Performance, insbesondere um die Grenze zur Theater-Kunst sichtbar zu machen. Auch böte sich hier fachübergreifende Zusammenarbeit mit dem Unterrichtsfach Kunst an.
Der folgende Beitrag von Stephan Engelhardt soll Lehrkräften, die die Performance-Kunst zum Gegenstand ihres Theaterunterrichts machen möchten, dabei unterstützen, ein tieferes Verständnis dieser sehr speziellen Kunstform zu entwickeln und die Auseinandersetzung anregen, auf welche Weise Performance-Kunst Unterrichtsgegenstand sein kann und darf, insbesondere in Abgrenzung zu theatralen Kunstformen, dem eigentlich Gegenstand schulischen Theaterunterrichts. Vgl. dazu auch die Beiträge von AT > https://angewandte-theaterforschung.de/friedrich-verlag-hg-2018-postdramatisches-theater-rezension/ und https://angewandte-theaterforschung.de/hilliger-2018-keine-didaktik-der-performativen-kuenste/
Stephan Engelhardts Beitrag kann darüber hinaus die Wahrnehmung schärfen, warum und worin der wesentliche Unterschied zwischen Performance und Theater besteht.
Die Sprache des Körpers – Performing Art & Theatrale Kunst
von Dr. Stephan Engelhardt
I. »The Life And Death Of Marina Abramović« – Rekontextualisierung: Marina Abramović kämmt ihre Haare bis ihre Kopfhaut blutet (Art Must Be Beautiful, 1975)[i], schreit bis ihre Stimme versagt (Freeing The Voice, 1975)[ii], peitscht sich aus (Dissolution, 1997)[iii] und sitzt tagelang unbewegt da (The Artist Is Present, 2010)[iv]. Sie sucht unerträgliche Situation auf und macht ihre Schmerzen zu einem öffentlichen Ereignis. Warum quälte sich die Performancekünstlerin vor den Augen eines Publikums?
Seit 2011 führt sie ihr Leben und ihren Tod in Manchester, Madrid, Basel, Antwerpen, Amsterdam, Toronto und New York auf. Robert Wilson inszenierte in starken Bildern, von der Kritik gelobt, die Geschichte ihrer Schmerzen. In diesen Theateraufführungen erzählt sie, wie ihr Körper zu einem Ort der Schmerzen werden konnte.
Galerie Krinzinger Innsbruck 1975. Marina Abramović zieht sich aus und heftet ein Foto an die Wand, isst ein Kilo Honig und trinkt einen Liter Wein. Das Glas zerbricht. Sie blutet, sie steht auf, geht zur Wand und malt rund um das Foto einen fünfzackigen Stern. Sie kniet sich hin. (Fischer-Lichte, 2004, S. 9) (Abramović & Kaplan, 2016, S. 103) Sie schneidet sich mit einer Klinge ein Pentagramm in den Bauch, peitscht sich aus, legt sich auf ein Kreuz aus Eis unter einen Höhenstrahler und wird nach einer halben Stunde von einer Zuschauerin, Valie Export, gerettet. (Engelhardt, 2021b, S. 436)
Marina Abramović »performed« (Austin, 1979, S. 30), d.h., sie führt einen Vorgang aus, stellt damit eine Bedeutung her, erschafft mit ihrem Körper etwas, das vorher nicht existierte, sie inszeniert die Schmerzen ihres Körpers. Diese unerträglichen Gefühle werden über Ihre körperliche Präsenz zu einem konkreten Ereignis. Sie erschafft eine neue psychische und soziale Realität. Marina Abramović zeigt uns, dass unsere Wirklichkeit, so wie sie sich für uns darstellt, primär eine körperliche ist.
Jede nonverbale körperliche Interaktion erschafft eine ganz konkrete Situation. Die in ihrer Bedeutung durch den kulturellen und sozialen Rahmen, durch besonderen Kontext, in dem sie auftritt, definiert wird. Der Neurologe Antonio R. Damasio beschreibt, wie das »Bewusstsein« entsteht (Damasio A. , 1999, S. 40). Der Körper ist das primäre Medium, das eine Interaktion mit unserer Umwelt ermöglicht und die »Sprache des Körpers« (Engelhardt, 2021b, S. 436) bleibt uns auch in den psychischen Krisen erhalten. Der Körper ermöglicht uns den ersten Akt, in dem wir unsere Existenz formulieren, und den letzten.
Wir lesen den Bericht der Performance (»Thomas Lips« 1975) [v] und etwas passiert mit uns. Wir ahmen in einer Spiegelschaltung (Rizzolatti & Sinigaglia, 2006, S. 11) imaginativ das nach, was wir sehen oder wovon wir hören. Die Schilderung der Schmerzen löst bei uns für einen kurzen Moment eine vergleichbare körperlich und psychisch Reaktionen aus, als wenn wir unmittelbar Zeugen dieser Ereignisse wären. Die symbolische und auch die konkrete Szene der Schmerzen umgehen unsere Abwehr, unterwandern für einen kurzen Moment unser Reflexionsvermögen. Doch wir wenden uns nicht ab. Unser Körper antwortet für einen Augenblick so, als würde sich die Szene der Schmerzen hier und jetzt ereignen und wir wären Teil des Geschehens. Im Alltäglichen würden wir fliehen, kämpfen, angstvoll erstarren oder einfach nicht hinsehen. Unsere Erinnerung an erlebte Schmerzen wird mobilisiert. Wir bleiben jedoch und hoffen, dass wir die Furcht beherrschen (Balint, 1959, S. 20), weil wir die Situation jederzeit beenden können. Diese Angst macht Lust.
Was hat die Künstlerin dazu veranlasst, diese Selbstverletzungen auszuführen? Wir fragen hier nach dem künstlerischen Subjekt Marina Abramović und ihrer schwierigen Biographie. Geboren 1946 in Belgrad bestimmen traumatische Situationen ihre Kindheit. Ihre Mutter bestraft sie grausam – für nichts, kontrolliert und bevormundeten sie in unerträglicher Weise, behandelt sie wie eine Rekrutin (Fischer, 2018, S. 33). Der Vater bleibt unerreichbar fern. (Abramović & Kaplan, 2016, S. 12)
Ihre Eltern waren Partisanen. Sie kämpften im zweiten Weltkrieg in der Armee Titos gegen die deutsche Wehrmacht. Mit äußerster Härte wurde Marina Abramović für einen Kampf vorbereitet, der nur in den Köpfen ihrer Eltern stattfand.
Sie verkörpert im Stück „The Life And Death Of Marina Abramović“ ihren Vater, der auf einem weißen Pferd seine Truppen anführt (Abramović & Kaplan, 2016, S. 17 & 18), und ihre Mutter mit toupierten Haaren und schwarzem eleganten Kleid.
II. Die Schmerzen – Sprachzerstörung und Rekonstruktion: Es existiert eine Form der Erinnerung, unabhängig von der niedergeschriebenen Sprache, von Bildern oder anderen mehr oder weniger abstrakten Zeichensystemen, ein Gedächtnis, dass die frühen Erfahrungen des Körpers repräsentiert. »Embodied« (Leuzinger-Bohleber, 2014, S. 935) bedeutet hier viel mehr als nur eine »nonverbale Kommunikation«. Diese körpernahen Erinnerungen erhalten in »Bewegung, Mimik, Gestik, Artikulation, Modulation« (Engelhardt, 2021b, S. 435) die gesamten Ausdrucksmöglichkeiten des Körpers. Sie können, repräsentiert durch »neuronalen Muster« (Damasio A. , 2003, S. 164), jederzeit abgerufen werden und stehen für unsere Kommunikation mit anderen und einer Kommunikation mit uns selber und der Gesellschaft zur Verfügung. (Lorenzer, 1974, S. 117) Diese körpernahen Erinnerungen nutzt Marina Abramović. Daraus entwickelt sie ihre künstlerische Sprache des Körpers.
Wenn diese unterschiedlichen Zeichensysteme: Wort, Schrift, Bild und die Sprache des Körpers, sich nicht mehr aufeinander beziehen, sondern nur nebeneinander existieren, in ihrer Bedeutung beliebig geworden sind (Lorenzer, 1974, S. 125) und keine Übersetzung von einem Zeichensystem zum anderen möglich wird, ist das der Ausdruck eines inneren und äußeren Konfliktes. Der Grund dafür ist eine Blockade, die ein körperliches Agieren ohne Bewusstsein erzwingt, eine Szene ohne Bedeutung. (Lorenzer, 1974, S. 124) Gefühle und Bedürfnisse können nicht mit der sozialen Umgebung verhandelt werden. Sie finden keine zeichenhafte Übersetzung. Der Widerspruch zwischen den Ansprüchen des Subjekts an sich selbst (Freud, 1933a, S. 73) und die Ansprüche der Gesellschaft an das Subjekt (Erikson, 1966, S. 17) stehen im Widerspruch zueinander.
Ursachen und Auslöser für Ohnmacht, Angst, Hass, Wut, Neid und Begehren sind Trauma äquivalent Erfahrung, zu denen es keinen direkten emotionalen Zugang gibt.
Diese Gefühle erzeugen Schmerzen, die zuerst zu einem körperlichen Ereignis werden, bevor sie in ein anderes Zeichensysteme übersetzt werden können. Wenn diese Schmerzen zu groß sind, wird ein bewusstes Handeln unmöglich. Körperliche Aktion schaffen eine konkrete Wirklichkeit. Ihre Wirkung auf die psychische und soziale Situation eines Subjektes, wie die einer Gesellschaft, sind bedrohlich und destruktiv. Sie erschaffen den Ort einer totalen Gegenwart, den Körper des Schmerzes, ohne Zeit und Geschichte (Rau, 2023, S. 20).
Im performativen Akt umkreist Marina Abramović diese Erfahrungen, grenzt sie ein, aber kann sie nie direkt wiedergeben. Ihre performativen Erzählungen können mittels einer körperliche Aktion, einer Szene, das Trauma nur in einen neuen symbolischen Kontext stellen, um es indirekt zu bearbeiten und zu integrieren.
Ihre Schmerzen werden zum Thema einer performativen Szene. Ihr streng kalkuliertes Konzept folgte der Bruchkante zwischen dem aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein Ausgesperrten und dem noch performativ Darstellbaren, dem Tabu (Freud, 1912-1913a, S. 89).
Marina Abramović reinszeniert erlebte unerträgliche Situationen. Und das Publikum schaut zu und dechiffrierte Marina Abramovićs Spiel mit dem Körper und fühlt die Schmerzen mit ihr. Sie sucht über ihre Arbeit mit dem Körper die Momente auf, wo ihr die gesprochene Sprache verlorenging. Sie rekonstruiert von diesem Punkt aus ihren Körper, ihre Sprache und ihre Identität neu und gibt dem Schmerz eine Gegenwart. Er beginnt und endet, so wie sie es will.
Der Vorgang einer affektiven Spiegelung in der performativen Szene durch das Publikum ermöglicht Marina Abramović, sich selbst als ein von den Anderen abgegrenztes, geschlossenes Ganzes wahrzunehmen (Müller-Pozzi, 2002, S. 93) an einem Ort im Hier und Jetzt.
Im Schlussbild des Bühnenstück „The Life And Death Of Marina Abramović“ ist sie zu sehen. Befreit von allem Schmerz fliegt sie als weiße Gestalt in den Bühnenhimmel.
Die Performance Künstlerin möchte nicht als Schauspielerin bezeichnet werden und betont immer wieder, dass sie nichts mit der Illusion der Bühne zu tun haben will. In dem Interview am Ende der Doku berichtet sie unter Tränen, dass sie die Vorstellung, dass es eine Situation geben wird, in der sie körperlos, von Schmerzen befreit, alles hinter sich lassen kann, bei jeder Aufführung von neuem berührt.
III. Das Publikum – primäre, sekundäre & tertiäre mimetische Resonanz: Die aufgeführte konkrete Szene erzeugt bei der Performerin und allen Anwesenden eine unmittelbare Reaktion. Als Publikum dechiffrieren wir die Sprache des Körpers (Engelhardt, 2021b, S. 436), wir »fühlen«, was geschieht, auch wenn wir es nicht bewusst wahrnehmen. Die konkrete »Szene« (Lorenzer, 2002, S. 64) bewirkt eine qualitative Veränderung unserer Wahrnehmung, wir erleben körperlich, was gerade geschieht. Dieses Phänomen des unmittelbaren Nachempfindens eines körperlichen Vorganges bezeichne ich als primäre mimetische Resonanz (Engelhardt, 2021b, S. 299 & 355).
Wenn wir den Fotos und Schilderungen der Performance von Marina Abramovićs folgen, so wird die szenische Situation von uns imaginativ wiederholt. Diese körperliche Empfindung ist eine Nachempfindung. Ich möchte dieses Phänomen als sekundären mimetischen Resonanzeffekt bezeichnen.
Es gibt einen Unterschied zwischen der theatralen und der alltäglichen Wirklichkeit:
»Nur im Spiel ist der Inhalt der Theaterhandlung real, so sehr sie ihrer Form nach der Alltagsrealität gleichen mag; die Bühnentragödie ist eine fiktive Katastrophe!« (Brauneck, 1982, S. 16)
Als kleines Mädchen geriet Marina Abramović mit ihrer Hand in die Wäschemangel ihrer Mutter. Nach dem sie daraus befreit worden war, bekam sie von ihrer Mutter Ohrfeigen. Der Schmerz war doppelt. Bob Wilson mach daraus eine bedrückende Szene auf der Bühne.
Im Theater wird eine Wirklichkeit etabliert, die »so-tut-als-ob« (Brauneck, 1982, S. 17). Das Spiel auf der Bühne ist »nicht echt« und dennoch sind die Gefühle auf der Bühne ein konkretes Ereignis. Doch diese Fähigkeit, die Wirklichkeit des Spiels von der alltäglichen zu unterscheiden, muss gelernt werden. Dafür ist es notwendig, die eigenen Emotionen und Gedanken sowie die des Gegenübers deuten zu können. Die Mutter markiert (Winnicott, 1971, S. 129)in ihren Interaktionen ihr Als-ob-Handeln, mit einem emotionalen Als-ob-Ausdruck, um die evozierten mentalen Inhalte, die Gefühlen und Gedanken zu kennzeichnen und zu unterscheiden. (Fonagy, Gergely, Jurist, & Target, 2002, S. 185)
Marina Abramović beharrt darauf, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen ihren Arbeiten und einer Aufführung im Theater gibt. »Performance ist der Moment, wenn der Performer in seiner eigenen mentalen und psychischen Befindlichkeit vor seine Zuschauer tritt und mit ihnen Zeit verbringt. Performance ist real!« (Abramović, 2010c) Ihre Performances erzeugen ihre besondere Wirkung durch die schmerzhaften physischen Vorgänge.
Die Personen im Publikum fügen imaginativ zur performative Szene ihre individuelle Szene hinzu. Diese Gefühle werden möglich, »geschehen«, »werden sichtbar«, weil sie in die Sprache des Körpers übersetzt werden. Sie führen hier aber nicht zu einer Zerstörung des psychosoziale Kontextes, sondern zu einer Befreiung von ihrem zerstörerischen Potential.
Durch »Schrecken« und »Schaudern« (Aristoteles, zit. 1982, S. 19) reinigen wir uns von Gefühlen, indem wir sie symbolisch auf der Bühne miterleben. Diese Befreiung von Unerträglichem in der Katharsis wird durch eine symbolische Wiederholung möglich. Wir erleben das Eigene, schon einmal Erlebte, noch einmal, dadurch, dass wir die fremden Gefühlen auf der Bühne mitempfinden. In den Performances schlägt, schneidet, verbrennt, quält Marina Abramović sich selbst. Wir schauen ihr bei der Aufführung der Szenen ihrer Schmerzen zu, weil wir dadurch uns an unsere Schmerzen erinnern und sie so überarbeiten und integrieren können. So werden wir an Bekanntes erinnert, diese problematischen Inhalte können, so überformt und verändert, an die gegenwärtige Situation angepasst werden. Eine symbolische Abreaktion wird möglich, »durch die ein Subjekt sich von dem Affekt befreit, der an die Erinnerung eines traumatischen Ereignisses geknüpft ist und die es ihm erlaubt, nicht pathogen zu werden oder zu bleiben.« (Laplanche & Pontalis, 1967, S. 20)
Wir schauen zu und verstehen, was geschieht. Die »Mimesis« (Aristoteles, Poetik, 6) zit. nach (Aristoteles, zit. 1982, S. 19) , die imaginierte Imitation der körperlichen Aktion der Künstlerin, ermöglicht uns, diese mit ihr zu teilen. Diese stellvertretend erworbene Erfahrung wird durch eine Interaktion zwischen der Produzentin und uns, den Rezipient*innen, möglich. Etwas Gemeinsames entsteht im Hier und Jetzt.
Alle Beteiligten gewinnen eine Vorstellung davon, was hier in der »Aufführung« (Fischer-Lichte, 2004, S. 32) formuliert wird. Auf der Ebene der tertiären mimetischen Resonanz fühlen und erleben alle Beteiligten etwas gemeinsam. Es bildet sich auf der körperlichen und auf der emotionalen Ebene eine »Feedbackschleife« (Fischer-Lichte, 2004, S. 59).
In dem Theaterstück »The Life And Death Of Marina Abramović« spielt sie ihre Eltern, schreitet die Stationen ihres Lebens ab. Wir identifizieren uns mit ihr auf eine andere Weise wie in ihrer Aufführung (Fischer-Lichte, 2004, S. 33-34). Hier wird der Schmerz imaginativ hinzugefügt, da er nicht unmittelbar als ein körperliches Ereignis auf der Bühne zu sehen ist. Wir denken den Schmerz, obwohl der Schmerz nicht unserer ist und nur indirekt abgebildet wurde.
IV. Robert Wilson – mimetische Resonanz als imaginativer Prozess: 2010 bittet die Performancekünstlerin Marina Abramović Robert Wilson über ihr Leben und ihr Sterben ein Theaterstück zu machen. 1941 geboren, ist er in Waco Texas aufgewachsen, studierte Malerei und Architektur und lernte Tanz bei den Choreographen George Balanchine und Merce Cunninghham und entwickelte seine eigene theatrale Formsprache im Performance-Kollektiv The Byrd Hoffman School Of Byrds in New York. Seine frühen Arbeiten besitzen eine gewisse formale Ähnlichkeiten zu denen von Marina Abramović. 1970 entwickelt er eine Oper ohne Musik aus Bewegungen und Bildern, ein Theaterstück ohne Sprache, Deafman Glance[vi]. Heute gehört er zu den wichtigsten Vertretern des Postmodernen Theaters. »Der dramatische Prozess spielte sich zwischen den Körpern ab, der postdramatische Prozess spielt sich am Körper ab.« (Lehmann, 1999, S. 367)
In den frühen neunzehnhundertsiebziger Jahren kombiniert er die streng choreografierten Szenen auf der Bühne mit Licht, Farbe, mit Bühnenbild, Musik und Sprache. Der Ausgangspunkt seiner Arbeit bleibt dabei immer der Körper im Raum. Er »bestimmt und überwacht jedes Detail, jede Position eines Körpers, jede Geste, jeden Schritt.« (Simandl, 1996, S. 481) So entwickelt er seine bildgewaltigen Bühneninszenierungen, die sich zu einem Gesamtkunstwerk (Linders, 2007b, S. 169) verdichten. Er definiert in den Opern »Einstein on the Beach«[vii] 1976 oder »The Black Rider«[viii] 1990, die Guckkasten-Bühne als »Illusionsmaschine« (Simandl, 1996, S. 474) neu. Die einzelnen gestalterischen Elemente der theatrale Täuschung werden in ihre Bestandteile zerlegt, wieder zusammengesetzt, um sie überraschend anders nutzen zu können.
Dieses Prinzip der Dekonstruktion und scheinbar absichtslosen Rekonstruktion wird dramaturgisch genutzt. Er zergliedert die konkreten Handlungsabläufe in ihre einzelnen Bestandteile, setzt diese Fragmente einer traumhaften Logik folgend wieder zusammen. Er trennt den szenischen Vorgang vom gesprochen Wort, organisiert die verlangsamten Bewegungen der Protagonist*innen in Zeit und Raum und erschafft so einen »Verfremdungseffekt« (Brecht, 1964, S. 36), der die Personen im Zuschauerraum zum ahnungsvollen Weiterimaginieren einlädt. Der Surrealist Louis Aragon schreib in einem Brief an André Breton über seinen Besuch der Aufführung von »Deafman Glance« von Robert Wilson 1971: »Aber es ist der Traum, von dem, was wir waren, es ist die Zukunft, die wir vorhergesagt haben!« (Aragon, 1971) zit. nach (Aragon, 1976, S. 5) Aragon denkt als Surrealist das psychoanalytische Konzept der freien Assoziation weiter, erhebt scheinbar zufälligen den Einfall zur künstlerischen Strategie.
2012 sortiert er in »Live And Death Of Marina Abramović«, die biographischen Szenen der Künstlerin nach diesem Prinzip. Die in ihrer Bedeutung offene Oper verändert die Wahrnehmung seiner Besucher*innen. Sie müssen die Bühnenhandlung weiterdenken. Die Schmerzen der Bühnenfigur Maria Abramović berühren sie, ohne dass sich die Darstellerin konkrete Schmerzen zuführen müsste.
Durch ein abstraktes theatrales Zeichensystem wird hier ein Schmerz in der Vorstellung des Publikums erzeugt. Ich möchte dieses Phänomen der tertiären mimetischen Resonanz als Ergebnis eines imaginativen Prozesses bezeichnen.
V. Zusammenfassung: Ende der neunzehnhundertsechziger Jahre starten Robert Wilson und Marina Abramović als Performance Künstler*innen. Im Laufe der Zeit entwickeln sie sehr unterschiedliche künstlerische Vorgehensweisen. Bob Wilsons szenische Bilder, sein besonderer Einsatz von Sprache und Musik und die streng arrangierten Bewegungen der Darsteller*innen, sind für das Theater gemacht. Marina Abramovićs schmerzhafte Aktionen finden in einer Galerie statt. Robert Wilson inszeniert eine Bühnenillusionen. Die Schmerzen werden von ihm in abstrakte theatrale Zeichen übersetzt und nicht wie bei Marina Abramović konkret produziert. Bei ihr ist jede Verletzungen real. Aus dem konkreten Ereignis, das im Alltäglichen als Selbstverletzung gewertet werden könnte, wird durch den veränderten Kontext der »Aufführung« (Fischer-Lichte, 1983a, zit. 2007, S. 22) vor einem Publikum ein symbolischer Vorgang. Beide Künstlerpersönlichkeiten arbeiten mit unterschiedlichen gestalterischen Mittel, aber dennoch gelingt es auf unterschiedliche Weise, die Qualität des Erlebens der Anwesenden zu verändern, weil sich etwas Essenzielles ereignet, ein „Moment der gelebten Erfahrung, […] während sie sich vollzieht.“ (Stern, 2004, S. 14) Der damit bezeichnete Augenblick, der »Now Moment« (Stern, 2004, S. 50-57), gib den unterschiedlich inszenierten Schmerzen ihre spezifische Bedeutung.
Fühlen wir die Schmerzen, finden wir einen Ort im Hier und Jetzt, unseren Körper und die Köper der Anderen, so dass wir gemeinsam eine Szene der Schmerzen erleben, um auf einer rekonstruierten Vergangenheit eine Zukunft zu entwerfen, damit wir wieder etwas neues Denken können.
[i]Art Must Be Beautiful: I brush my hair with a metal brush in my right hand and simultaneously comb my hair with a metal comb in my left hand. While doing so, II continuously repeat “art must be beautiful”, artist must be beautiful” until I hurt my face and damage my hair. 1975, Performance, 1 hour, Charlottenburg Art Festival, Copenhagen (Abramović, 2010a, S. 80-81)
[ii] Freeing the Voice: lie on the floor with my head tilted backward, I steam until I lose my voice, 1975, Performance, 3 hours, Student Culture Center, Belgrade (Abramović, 2010a, S. 84-85)
[iii] Dissolution: I whip myself to the point where I don´t feel the pain anymore. May 1997, Performance, 15 min. Performed for Video, Amsterdam (Abramović, 2010a, S. 158-159)
[iv] The Artist is Present: 2010, Performed continuously throughout the exhibition for total of 600 hours. Museum of Modern Art, New York (Abramović, 2010a, S. 1)
[v] Lips of Thomas: I slowly eat, 1 kilo honey, with a silver spoon. I slowly drink 1 liter of red wine out of a crystal glass. I break the glass with my hand. I cut a five-point star on my stomach with a razor blade. I violently whip myself until I no longer feel any pain. I lay down on a cross made of ice blocks. The heat of a suspended heater point at my stomach causes the cut star to bleed. The rest of my body begins to freeze. I remain on the ice cross for 30 minutes until the public interrupts the piece by removing the ice blocks from underneath me. 1975, Galerie Krinzinger, Innsbruck (Abramović, 2010a, S. 196-197)
[vi] Deafman Glance: By Robert Wilson, Music by Alan Lloyd, Igor Demjen, and others
Performed by Robert Wilson, Raymond Andrews, Sheryl Sutton and The Byrd Hoffman School of Byrds, First performed on December 15, 1970 at the Center for New Performing Arts, Iowa City, Iowa
[vii] Einstein on the Beach: Opera in four acts by Robert Wilson and Philip Glass, Premiered on July 25, 1976 at the Festival d’Avignon, Avignon, France
[viii] The Black Rider: The Casting of the Magic Bullets Opera by Robert Wilson, Tom Waits, and William S. Burroughs, Premiered on March 31, 1990 at the Thalia Theater, Hamburg, Germany
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Stephan ENGELHARDT, Dr. phil. Mag. art., Psychotherapeut für KIP, Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, in freie Praxis, Wien; Kunst- & Theater-Pädagoge, Regisseure, Leiter LESSINGTHEATER-WIEN; Tel. 0049 676 712 4990, E-Mail: stephanengelhardt1@gmail.com
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