- geblitzdingst
Ruppel, Lars (Hg) 2016: Geblitzdingst. Slam Poetry über Demenz. Berlin: Satyr Verlag. 112 Seiten – Rezension
Ausnahmsweise schreibe ich hier über ein Buch, das nichts mit Theater zu tun hat. Oder doch? „Geblitzdingst“ – weg ist die Erinnerung! Das macht ein handliches Arbeitsgerät der „Men In Black“ in der gleichnamigen Sf-Komödie.
Im wahren und wirklichen Leben werden Menschen mit Demenz oder Alzheimer geblitzdingst. Es dauert allerdings – nix Blitz und weg -, sondern meist viele Jahre bis die Erlösung eintritt: Der Tod für die übrig gebliebene Hülle, physiologisch schlecht funktionierende Fassade, die einst von einem wirklichen Menschen bewohnt wurde.
Ich musste selbst schmerzlich lernen by erleben, was das heißt, bei meinen Eltern und meiner Schwiegermutter. Musste das absurde Theater mitspielen.
Hätte ich damals schon das Geblitzdingst-Bändchen lesen können, hätte ich vieles besser verstehen und angemessener reagieren können. Und ich finde auch „Honig im Kopf“ ist ein regelrechter Lernfilm. Da wird mit den Mitteln des Theaters gearbeitet. Unterhaltsam, ergreifend, manchmal zum Heulen und manchmal zum Totlachen.
„ … und nimmst was mit und lässt was hier: zwei Tränen und ein Lachen.“ schreibt Baumann in seinem Poem „Vom Vater“ (60).
Die einfühlsame Textsammlung konnte ich nicht am Stück durchlesen. Nahezu jedes Gedicht, jede Kurzgeschichte brauchte ihre eigene Zeit und Pause, setzte bei mir Kopf-Theater, sprich: Erinnerungen in Gang an die traurigen und witzigen Erfahrungen, dich ich im Kontakt und bei der Pflege meiner Eltern/ Schwiegermutter machte.
„ … Wenn Erika spazieren geht, geht sie immer im Kreis und pflückt dabei Grashalme. Die kommen dann auf den Braten. Der ist heute zäh wie Juchtenleder, und an der Seite steht ‚Reebok’. Wildbret hat Erika anders in Erinnerung. […] Erika baut Türme und Schlösser aus Hackbraten und Kartoffelbrei.“ (51) schreibt Lopram, der Simon heißt, in seinem Text „Erika“.
Die Schuhe im Kühlschrank, das nicht endende „Hallo!“-Rufen die halbe Nacht, der Mann mit den Steinen an den Füßen im Bett und die Frage, wann gibt’s Essen nach dem Essen. Absurdes Theater. Keinen Sinn? Dekonstruktion, Destruktion, ohne Aussicht auf einen Restart. Keine Neu-Komposition. Was sagst du, wenn deine eigene Mutter dich mit großen Augen anschaut und fragt „Arbeiten Sie hier?“, während du ihr zu Hause dein zubereitetes Essen auf den Tisch stellst?
Mancher verborgene Sinn im Tun lässt sich nur schwer entschlüsseln. Wie das Schweigen der Frauen, die in Kriegsgefangenschaft zum Kartoffelschälen mussten und immer weinend in die Baracke zurückkamen.
„Schmier dir Scheiße ins Gesicht, sagt die Mutter, aber sie holen sie trotzdem. Als sie zurückkommt, weint sie und hat noch immer Dreck im Gesicht.“ schreibt Teichmann in seinem Text „Flucht“, „Und sie rufen uns an vom Altersheim, und sie rufen uns, weil die Schwester schreit und sich vom Pfleger nicht ausziehen lässt, wenn sie baden soll.“ (64) Verborgener Sinn, nie offenbart.
Das Alter in die Selbstauflösung ist kein Pony-Schlecken. In Ruppels Sammelband erhält es eine bisher nicht gekannte Würdigung. Und was seine Kunst sonst noch ausmacht, erzählt er in einem Interview bei AT > Ruppel, Lars (Poetry Slam) – Interview.
Chapeau vor solcher Kunst und vor solchem Engagement, wie es Ruppel auch mit seinem Projekt „Weckworte“ in die Welt setzt.
Ich bin glücklich ihn einmal als Schüler gehabt zu haben.
Eine letzte Textprobe aus Barrels Text „Süßkirschenohringe“:
„Das schlimmste ist, dass die Erinnerungen immer mehr verblassen. Mir ist damals nichts geblieben außer den vielen kleinen Anekdoten, den Gerüchen, den Aromen, den Farben, den Klängen und den Formen, die im Gedächtnis haften geblieben sind. Doch eines Tages wachst du auf, und die ersten winzigen Details sind nicht mehr da. Zuerst vergisst du, wie sich das Kleid anfühlte. Dann erinnerst du dich nicht mehr daran, welche Farbe es hatte. Irgendwann fehlt auch der besonderer Anlass, zu dem du es getragen hast. Die weißen Flecken breiten sich aus, verstehst du? Weiße Flecken, die bald zu riesigen Flächen werden. Flächen, so still und unberührt wie frisch gefallener Schnee. Es ist doch aber nur irgendein Kleid gewesen, versuchst du, dich dann zu beruhigen. Aber nach dem Kleid kommen die Häuser, und nach den Häusern kommen die Menschen, und nach den Menschen kommt nichts mehr. Deine Erinnerung steht mit nackten Füßen im knöcheltiefen Schnee, und alles, was du siehst, ist eine riesige, weiße Ebene.“ (70)
Ich lese jetzt nochmal von Tardieu „Die Sonate und die drei Herren oder Wie spricht man Musik?
Warum?
Selbst lesen!
Weiterführendes
- Redezeit mit Lars Ruppel > http://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/neugier-genuegt/lars-ruppel-102.html
- Tardieu, Jean (1966): Die Sonate und die drei Herren oder Wie spricht man Musik? In: Absurdes Theater. Stücke von Ionesco, Arrabal, Tardieu, Ghelderode, Audiberti. München: dtv: 112-119