Theater 4.1 – Digitale Authentizität
Wie ich in Theater 4.0 bereits zeigte, führte die technische Entwicklung von Datenverarbeitung zur vierten Stufe der digitalen Revolution: Maschinen kommunizieren selbstständig untereinander, ohne eine menschliche Verbindung dazwischen. Im Privatleben erkennt z.B. der Kühlschrank, welche Lebensmittel zur Neige gehen, bestellt rechtzeitig im Lebensmittelladen neue und erhöht selbstständig den Anteil an Gemüse, weil er die Blutwerte des Users kennt, die einen leicht erhöhten Cholesterinspiegel aufweisen. Der Drucker zu Hause erkennt, wann die Druckpatronen zur Neige gehen und bestellt rechtzeitig beim Hersteller neue. Der Hersteller liefert und bucht automatisch das Geld vom Konto und schickt digital die Rechnung, die vom Steuerprogramm sofort an der richtigen Stelle in die Steuererklärung eingefügt wird und das Original in einer Cloud ablegt, die für das Finanzamt, nach Abgabe der Steuererklärung freigeschaltet wird. Der Mensch wird zum Zuschauer und Objekt von Prozessen.
Wie hat die digitale Revolution 4.0 Einzug in die Kunst und das Theater gehalten?
Künstlerisch ambitionierte Menschen versuchen ständig die Grenzen überlieferter und eingeführter Kunstformen auszulosten und zu überschreiten. Dabei betreten sie natürlich auch immer wieder Neuland. Manche Versuche sind nett anzuschauen, wie die digitale Selbststeuerungsanlage, entpuppen sich aber als Sackgassen, führen zu keinen weiteren Inspirationen. Andere Experimente führen zu Reanimation alter Formen, zum Verschmelzen von Traditionellem und Neuem und manchmal auch zu Inspirationen für konstruktive Weiterentwicklungen. Für ein abschließendes Urteil ist es meist zu früh. Erst nach geraumer Zeit zeigt sich, was sich durchgesetzt hat, was Bestand hat und was nicht.
Die sog. Postmoderne bzw. Postdramatik ist so ein Fall, bei dem allein schon die Wortwahl deutlich macht, wir befinden uns mitten in einem künstlerischen Suchprozess. Lehmann[1] hat die unzähligen Erscheinungsformen und die Methodenvielfalt des professionellen avantgardistischen Experimentaltheaters, die er vorgefunden hat, umfassend beschrieben und immer wieder vor Normierung gewarnt. Dies hat allerdings nicht verhindern können, dass Theater-Macher, -Pädagogen und -Lehrkräfte in junkiehaftem Suchtverhalten nach Halt und Begrifflichkeit genau das taten und tun und marktschreierisch überall verkünden.[2] Sie lesen Lehmanns Werk als Bibel DER Postdramatik und leiten ihre Spiel- und Gestaltungabsichten exegetisch davon ab. Keinem fällt auf, dass das exkludierende Wort von der Postdramatik doch nur eine Negation, eine Ablehnung einer bestimmten Theaterform ist, nämlich des Dramentheaters. Das Wort ist kein Begriff, insofern es nichts Greifbares benennt. Es besagt lediglich, dass es die Zeit nach der Dramatik sein soll. Die inhaltliche Füllung des Wortes fehlt noch vollständig. Das Wort ist noch hohl, es ist noch kein Begriff, zu dem es die vorlauten Anbeter eines neuen Götzen heiligen wollen, wenn sie von DER Postdramatik als DEM zeitgenössischen Theater predigen und sich doch nur auf Lehmanns Beschreibungen der aktuellen Erscheinungsformen und Methodenvielfalt des professionellen avantgardistischen Experimentaltheaters berufen, der, wie gesagt, mehrfach vor diesem Missbrauch warnt: „Skeptisch bin ich in Hinblick auf den […] ‚Einfluss‘ des Buchs auf die Theaterpraxis, sehe ich doch Theorie als etwas an, das danach kommt, auf Begriffe bringt, was von Künstlern zuvor kreativ erfunden wurde. Wenn ‚Postdramatisches Theater‘ dennoch mancherorts wie eine Art Poetik behandelt wird, so lag das gewiss nicht in der Absicht des Verfassers.“ 2009 hat Lehmann nochmals seine Beobachtungen verdichtet und die neuen Tendenzen des Theaters seit 1999 in groben Zügen zu benennen versucht: „1. einen deutlicher angestrebten Dialog mit der Gesellschaft (mehr direkt politische Inhalte, nachdem die 1980er und 1990er Jahre mehr der Erkundung neuer Theatermittel gegolten hatten; verstärkte Neigung zum Dokumentarischen); 2. eine Tendenz zu chorischen Formen, wesentlich inspiriert durch Einar Schleef; 3. die gestiegene Bedeutung des Tanzes und choreographischer Aspekte der Inszenierung; 4. die gestiegene Bedeutung der Gruppen im Unterschied zur Dominanz der individuellen Regie-Persönlichkeit; 5. den Wunsch nach etwas, das ich ‚Theater des Sprechakts‘ nenne und in dem, vordergründig betrachtet, der Text, vor allem aber das sprechende Individuum, seine Präsenz, unter Verzicht auf viele theatrale Effekte ins Zentrum rückt.“ (Lehmann 2014)
Selbstverständlich übernimmt das avantgardistisch-professionelle Experimentaltheater auch immer schnell neuste technische Entwicklungen. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Lächerlich wird es erst, wenn im Schultheater unverstanden-unkritisch z.B. Bühnengeschehen abgefilmt wird und ohne dramaturgischen Sinn und Verstand einfach nochmal live und in Großaufnahme auf eine Leinwand projiziert wird, weil es der Lehrkraft und den Schülern Spaß macht mit neuen Medien und der Digitaltechnik, die diese technischen Spielereien erst ermöglicht, in didaktisch sinnloser Weise herumzuspielen. Das Theater und das Theatrale bleibt dann auf der Strecke. Nun ja, wenn man sich mit Spaß als Unterrichtsziel begnügt und sich auf keine fundierte Theater-Didaktik berufen kann … Es lebe die Kreativität!
Logos versus Mythos
Zurück zum Kern des Themas. Die Kommunikation im Digitalzeitalter läuft auf der Ebene des Logos mit ja und nein. Eigentlich noch recht einfach nachzuvollziehen. Komplizierter wird es, wenn eine eindeutige Entscheidung nicht getroffen werden kann. Wenn Abgewogen werden muss, wenn logische Kriterien fehlen oder so viele Informationen geprüft werden müssen, die eine Entscheidungsfindung extrem komplex machen, wie beispielsweise Schachspielen. Nun wird man beim Schach vermutlich irgendwann so weit sein, den Menschen generell durch die Maschine schlagen lassen zu können, nämlich wenn die Rechenleistung noch um ein Vielfaches größer geworden ist, als sie das aktuell noch ist und die Algorithmen die Komplexität menschlichen Denkens abbilden können (KI). Wie ist das aber mit Vorgängen, die sich möglicherweise prinzipiell nicht mit einem logischen Raster erfassen lassen? Aus der Psychologie wissen wir, das Gleiche kann auch oft das Gegenteil sein. Es gibt auch Dilemmata, in denen evolutionär gewachsene Wertentscheidungen den Ausschlag geben (Familie/ Clan/ Blut hat Vorrang vor Nicht-Familie und Ego bricht übergeordnetes abstraktes Rechtssystem). Eine Prognose der Verhaltenseinschätzung von Menschen liefert keine zuverlässigen Ergebnisse, schon gar keine 100% Treffsicherheit.
Kann es eine KI mit dem komplexen System Mensch auf dem Hintergrund seiner Evolution, seiner Spiritualität und seiner Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit durch seine eigenschöpferische Kreativität jemals aufnehmen? Kann es ein Algorithmus mit dem Mythos[3]aufnehmen? Der Mathematiker Norbert Wiener hat bereits in der Erstausgabe seines wegweisenden Werkes „CYBERNETICS“ von 1948 vor einem „‘bedrohlichen neuen Faschismus, der von der Maschine als Regent bedingt wird‘“ gewarnt. Der Wissenschaftshistoriker George Dyson konkretisiert: „Keine Elite konnte seiner Kritik entkommen, von den Marxisten über die Jesuiten (‚der gesamte Katholizismus ist eigentliche eine totalitäre Religion‘) bis zum FBI (‚unsere Handelsprinzipien haben die Propagandatechniken der Russen betrachtet und sie für gut befunden [Trump-‚Landesverräter‘! Ick sehe dir! – Anm. v. V.L.] und die Finanziers, die mithalfen, ‚den amerikanischen Kapitalismus und das freie Unternehmertum zum obersten Gebot der Welt zu machen‘. Wissenschaftler unterzog er derselben strengen Prüfung wie die Kirche: ‚Die Leiter der großen Laboratorien sind wie Bischöfe, mit ihrer Nähe zu den Mächtigen in allen Bereichen des Lebens und den Gefahren der Todsünden von Hochmut und Machtlust.“ (Brockmann 2019)
Kunst flirtet mit Mathematik – Mathematik infiltriert Kunst
Spannend wird es werden, wenn Theater-Macher auf diesem Feld aktiv werden (vgl. Theater 4.0). Nun zur entscheidenden Frage: Wann und wie wird die Version 4.1 ins zeitgenössische Theater Einzug halten? Man stelle sich vor, ein Theater-Macher käme auf die Idee, vielleicht ist das ja schon längst passiert, und er lässt in sog. postdramatischer Manier zwei künstliche Intelligenzen, sagen wir die Figuren Alexa und Siri auf der Bühne live performen. Nach einer Weile inhaltsleeren algorithmusgesteuerten „Dialoges“ entwickelt sich ein Textteppich an Redundanzschleifen, denn natürlich hören sich die beiden „intelligenten“ Akteurinnen nicht wirklich gegenseitig zu, sondern aktivieren immer nur vorgegebene Muster (digitale Programme und Protokolle). Jetzt könnte man ja bösartigerweise einwenden, Menschen hören sich ja auch nicht immer einfühlsam zu, stellen in Gesprächen schnell ihre eigenen Themen in den Vordergrund, legen keinen besonderen Wert auf Argumente und Diskurs, sondern nutzen gern ihr Vorgefertigtes, in Schubladen bereit liegendes, also ihre Vorurteile, um sich nicht verunsichernden komplexen Gegebenheiten aussetzen zu müssen.[4] Insofern wäre eine maschinelle Abbildung eines Dialoges eigentlich nichts Neues und uninteressant (vgl. die Erzeugung von Gedichten und Gemälden von algorithmusgesteuerten Computern). Außer man findet es als Theaterwissenschaftlerin oder Theatermacher ganz toll, dass durch den Un- oder Nicht-Sinn auf der Bühne neue „Denk- und Assoziationsräume“ für das Publikum eröffnet würden und damit eine „Aufmerksamkeitssteigerung“ der Zuhörer einherginge. Aufmerksamkeitssteigerung als Vorstufe von erwünschter Wirkungssteigerung des künstlerischen Tuns (vgl. List 2019: Genug gespielt. Jetzt wird’s ernst – Theater und Politik).
Postdramatisches Digitaltheater
Denken wir unser digitales Theater-Spielchen 4.1 weiter. Was wäre, wenn nun jemand käme, der Alexa und Siri durch neue Impulse aus ihrer Algorithmus-Inzucht heraushelfen wollte?
Die Figuren „I, Robot“[5] und „Human“ betreten die Bühne.[6] Beide ausgestattet mit der neusten Software, die im Stande ist, aus der Stimme, mal relativ zuverlässig, mal relativ zufällig (sie ist ja noch nicht ganz ausgereift und 5G auch noch nicht in jedem Theater verfügbar), den Gefühls- und Gemütszustand einer „Figur“ zu erkennen, also ihren Subtext lesen kann. Die 4.1.-Figuren wären eine Entwicklungsstufe weiter als ihre Gesprächspartner. Sie könnten für zwei verschiedene soziale Klassen, Bildungsschichten, Intelligenzen stehen. Die Kammerspiele können beginnen.
Als Inszenierungsidee reicht das, als Regiekonzept allemal. Ein bisschen digitalen Firlefanz als Kulisse, natürlich digitale Projektionen auf verschiedene Leinwände, deren Aktivität die Zuschauer mit einer speziellen Smartphone-App beeinflussen können. Nach der Pause oder schon vorher, wenn sich die digitalen Intelligenzen in Bugs verklemmt oder in Endlosschleifen festgehängt haben, dürfen die Zuschauer „proaktiv“ in das Bühnengeschehen eingreifen („Einbruch des Realen“; „Bürgerbeteiligung“, als Zuschau-„Experten“) und partizipativ den Gang der Dinge beeinflussen („Selbstermächtigung“). Sie dürfen die Protagonisten, die natürlich vernetzt sind, anrufen und Fragen stellen. Sie dürfen den Akteuren Anweisungen geben (zurzeit beliebtes TV-Format). Die Zuschauer müssen allerdings damit rechnen, das hat man ihnen vorher erläutert, und sie mussten ihre schriftliches Einverständnis erteilten, keinerlei Richtigstellungen oder gar Schadensersatz an das Theater und die Verantwortlichen zu stellen, wenn die KIs auf der Bühne in der Interaktion und der Diskussion mit Zuschauern ihre Stimmerkennungsalgorithmen und die damit abgeleiteten „Erkenntnisse“ nutzten und beispielsweise Gemütszustände von Zuschauerinnen öffentlich machten, z.B. dass sie ja zur Depression neigten und deshalb dieses oder jenes Argument vorbrächten oder ablehnten, dass sie mit 72,935 Prozent Wahrscheinlichkeit – was sehr hoch ist – an der und der Krankheit litten und eigentlich auch nicht beziehungsfähig seien, was die hohe Zahl der gescheiterten Beziehungen derjenigen ja bestätigten usw. Alles können die Algorithmen der 4.1-Figuren aus der Stimme der Theatergänger mehr oder weniger zuverlässig ableiten und in ihre Argumentation einbauen.[7] Der Regisseur trägt dafür keine Verantwortung. Er heißt auch ab jetzt „Operator“ und lehnt sich bequem zurück. Alles läuft auch ohne ihn.
Die unreflektierte Übernahme eines mathematischen Paradigmas in die Kunst generiert das theaterzersetzende Dogma von der Gleichrangigkeit der theatralen Mittel
Ach, ich vergaß. Natürlich können die künstlichen Intelligenzen Texte automatisch generieren. Man hat ihnen die endliche Zahl von Wörtern der deutschen Sprache, so um die 200.000, in eine Datenbank gelegt und nun dürfen Bots nach der ebenfalls programmierten Grammatik der deutschen Sprache fröhlich drauflos experimentieren. Hatten wir schon? Stimmt! 1970er Jahre: Generative Transformationsgrammatik nannte Noam Chomsky das. Ha! Mein Prüfungsthema in der Germanistikprüfung 1978. „Blaue Begriffe schwimmen lachend durch die Landschaft.“, erinnere ich mich, war so ein nach der GTG produzierter Satz. Er war grammatisch korrekt, aber Unsinn. Die Wiederholung dieses Unsinns im fälschlicherweise aus Lehmanns Beschreibungen abgeleiteten zum Dogma gekürten Satz lautete ja: Alle theatralen Mittel sind gleichrangig. Ergo gleich gültig. Also gleichgültig. Das ist nachgerade die vermeintlich künstlerische Aufforderung, Unsinn zu produzieren und auf semantische Kohärenz keine Rücksicht zu nehmen, wie es schön Ulla Hahn formulierte (vgl. Hahn 2019).
Dieses Setting sollte nun eigentlich das Publikum als innovativste Innovation des Theater feiern, also diese Verdummung. Falls doch nicht, dann aktiviert der Operator seinen Joker: Ein „Surrogate“ – sein zweites Ich[8], das er von seinem Regiepult (jetzt: Operator-panel) aus live steuern kann. Wie gesagt, vorausgesetzt, das Theater verfügt über den neuen digitalen Standard G5. Dieser Joker kommt aber nur zum Einsatz, wenn irgendwas nicht klappt oder wenn das Publikum renitent wird, wenn es aufsteht und geht und sein Eintrittsgeld zurückhaben will (Robo-Cop, ick hör die stapfen). Ansonsten hat das Publikum ein neues Gesellschaftsspiel und amüsiert sich prächtig. Ein gelungener Theaterabend 4.1.
Nicht dass ich mich wundern würde, wenn es das bereits gegeben hätte, oder demnächst ein Stadttheater sich mit einer revolutionären Inszenierung eines Absolventen des Fachbereichs Angewandte Theaterwissenschaft schmückt, in der keine Menschen mehr auftreten.
Endlich haben die avantgardistisch-experimentellen Profitheatermacher die wahre Authentizität des Menschen gefunden, mit Hilfe eines ästhetischen Algorithmus‘, der das wirklich Authentische am Menschen besser erkennt als der Mensch selbst: Die Über-Authentizität.
Damit erfüllt sich der Traum von der digitalen Signatur im Theater als gelungene Transformation der „Überaufgabe“[9] des Schauspielers in das digitale Zeitalter.
Bei den bildnerischen Künsten ist man allerdings schon vermeintlich weiter und konkreter und hat auch schon die Urheberrechtsfrage beantwortet. Das Gesetz entscheide nämlich, was Kunst ist. Problem: „Wenn vier Juristen im Saal sind, gibt es keine zwei Meinungen, die sich auch nur annähernd gleichen. Von ‚gewisser Schöpfungshöhe‘ sprechen dann in Zürich die Urheberrechtsgelehrten, von ‚Originalität‘ und ‚individuellem Charakter‘ des Werkes und der ‚Angewiesenheit auf ein analoges Medium‘, davon, dass ‚es aber vielleicht nicht reiche, wenn ein Mensch einen kreativen Prozess nur in Gang‘ setze. Man weiß um die ‚Kopien ohne Originale‘ und ‚erweiterte Originale‘, räumt aber ein, dass jene ‚Black Box‘, die die KI immer noch darstellt, ein großes juristisches Fragezeichen bleibt.“ (Graff 2019)
Heureka!
Fußnoten
[1] Lehmann, Hans-Thies 1999: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren
[2] Vgl. Friedrich Verlag (Hg) 2018: Postdramatisches Theater. Schultheater Nr. 32/2018. Seelze > Rezension
[3] Unter Mythos soll hier ein weitgehend durch Sozialisation, aber auch oft erzwungenes kohärentes Weltverständnis verstanden werden, meist religiös überformt. Ins Politische übersetzt könnte man auch von Ideologie sprechen („gesellschaftlich notwendiger Schein“). Der Mythos dient dazu, dass sich Gemeinschaften ihrer Zusammengehörigkeit versichern und wird gestützt durch spezifische Rituale, Traditionen und Framing (insbesondere der Sprache), die letztlich auch den Zweck haben, das unverstandene chaotische Natur- und Weltgeschehen beherrschen zu wollen („Macht euch die Erde untertan!“, „Tötet alle Ungläubigen!“, „Der Hexenhammer“, „Die Reichsbürger“, „Bist du nicht für mich, dann bist du gegen mich!“, „Wer Jesus kennt, lebt!“ Usw.). Dies funktioniert in der Regel über Ausgrenzung, über Exklusion, denn Gefahr und Angst sind evolutionär bedingt bei Menschen leichter und nachhaltiger zu aktivieren als positive Erfahrungen aufgrund von Offenheit und Wagnis.
[4] Vgl. die wunderbaren Stücke des absurden Theaters, die herrlich eloquent Nicht-Kommunikation bzw. missglückte Kommunikation in Szene setzen wie beispielsweise Ionescos „Die kahle Sängerin“.
[5] Vgl. „I, Robot“. Film aus dem Jahr 2004. Hintergrund: Isaac Asimovs Buch „Ich, der Robot“ aus dem Jahr 1950.
[6] Vgl. „Real Humans – Echte Menschen“. Film (Serie) aus dem Jahr 2012.
[7] Ja, das kann ein Algorithmus inzwischen wirklich. 1974 schon hat der Psychologe Klaus Scherer vom Neuroscience Center der Universität Genf ein Computerprogramm zur Stimmanalyse geschrieben, um die so gewonnenen Informationen über die Gefühlszustände von Patienten in der Therapie zu nutzen. Inzwischen können die Programme Tausende Einflüsse in Stimmen erkennen und analysieren. Sie finden Muster für Gefühle und Krankheiten und die Programme lernen selbstständig. Dabei erkennt der Computer inzwischen mehr als den Menschen bewusst ist. Und die Menschen können dem nicht entfliehen, denn es nützt nichts, wenn sie ihre Stimme verstellen. Auch das erkennt der Computer. Es wird wohl alsbald eine neue Generation von Lügendetektoren auf den Markt kommen. Lügendetektoren, die nicht auszutricksen sein werden. Happy justice! Bei der Analyse von Stimmen von Paaren in paartherapeutischen Sitzungen ist das Programm bereits erfolgreicher als die Therapeuten. Es konnte mit höherer Treffsicherheit als die Therapeuten voraussagen, welche Paare zusammenbleiben werden und welche nicht. „Amazon hat bereits ein Patent darauf angemeldet, Emotionen und sogar Krankheiten aus der Stimme herauszulesen.“ […] Das Unternehmen Precire aus Aachen bietet an, auf Basis eines 15-minütigen Telefongesprächs die Persönlichkeit eines Bewerbers zu entschlüsseln. Konzerne wie der Talanx-Konzern, die Fraport-AG und RWE setzen das bereits in Vorstellungsgesprächen und zur Personalentwicklung ein (ZEIT Nr. 35/18).“ (Wolfangel 2019)
Die Informatikerin Julia Hirschberg von der Columbia Universität in New York arbeitet derzeit daran, eine vertrauenswürdige synthetische Stimme zu programmieren, damit Menschen in Zukunft Maschinen vertrauen, wenn diese mit ihnen sprechen. „Ich bringe sie sicher nach Hause!“, sagt das selbstfahrende Auto mit vertrauenswürdiger Stimme zu seinen Insassen. „Die Informationen zu ihren Vorlieben und Abneigungen, zu ihren geheimen Süchten, die wir per Stimmanalyse aus ihren Telefonkontakten mit uns, ihren telefonischen Bestellungen, unseren Aufnahmen bei Ihnen zu Hause über ihr interaktives Smart-TV, über Alexa, Siri, Claudia, Chantalle und Charmeuse und ihre Telefongespräche über ihr Smartphone gewonnen haben, sind auf unseren US-Servern absolut sicher“, sagt die Eincheck-Computerdame am Empfang des Versicherungskonzerns mit vertrauenserweckender Stimme. „Auch die Informationen über Krankheiten, die wir aus ihrer Stimme herauslesen, die bei Ihnen später mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihrer besonderen Genausstattung ausbrechen werden und uns hohe Kosten verursachen würden, sind bei uns ganz sicher. Glauben Sie uns. Wir bieten Ihnen eine kostengünstige, maßgeschneiderte Kranken-, Lebens-, Arbeitsunfähigkeits-, Pflege-, Sterbe- und Bestattungsversicherung an“. Bei uns sind sie sicher … siechen … sich …bnöai güio äaedvjäpwoaox (Wolfangel, Eva 2019: Die Seele auf der Zunge. In: DIE ZEIT Nr. 7 vom 07.02.2019, Seite 27-28)
[8] Vgl. „Surrogates – Mein zweites Ich“. Film aus dem Jahr 2009.
[9] Vgl. Stanislawski.
Weiterführendes
- Brockman, John 2019: Der Geist der unbegrenzten Möglichkeiten. Von Kybernetik, Mensch und Maschine – eine kurze Geschichte des Nachdenkens über künstliche Intelligenz. In: SZ Nr. 63 vom 15.03.2019, Seite 11
- Brühl, Jannis/ Steinke, Ronen 2019: Morgen ein Mörder. Polizisten jagen Verbrecher immer häufiger mit Algorithmen: Software errechnet die Gefährlichkeit von Menschen und warnt vor Anschlägen. Aber was, wenn sie sich irrt? In: SZ vom 02.03.2019, Seite 33
- Graff, Bernd 2019: Malen nach Zahlen. Ein von einer künstliche Intelligenz „gemaltes“ Bild sorgt für Aufsehen und bringt unseren Kunstbegriff ins Wanken. Bei einer Tagung in Zürich versuchten Künstler, Juristen und Forscher, ihn zu retten. In: SZ Nr. 66 vom 19.03.2019, Seite 10
- Hahn, Ulla 2019: Vernunft ist auch eine Herzenssache. Zum Verhältnis von künstlicher Intelligenz und Literatur. In: FAZ Nr. 58 vom 09.03.2019, Seite 16
- Hegemann, Carl 2005: Muss Theater Theater sein? Die Bühne als Anachronismus und Paradigma der Mediengesellschaft. In: Hegemann, Carl 2005: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Herausgegeben von Sandra Umathum.Recherchen 28. Berlin: Theater der Zeit: 203-208
- Lehmann, Hans-Thies 2014: Die postdramatische Chance der Autoren > http://heidelberger-stueckemarkt.nachtkritik.de/2014/index.php/debatte/hans-thies-lehmann
- Spiekermann, Sarah 2019: Der Mensch: ein Fehler. Welches Weltbild steckt in künstlicher Intelligenz? In: SZ Nr. 70 vom 23.03.2019, Seite 13
- Wiener, Norbert 1958: Mensch und Menschmaschine. Berlin: Ullstein
Diese Beitrag ist hier als PDF herunterzuladen: Theater 4.1
Schreiben Sie einen Kommentar