Theater-Untericht in der Grundschule mit Fünf- und Sechsjährigen in einer gemischten Gruppe Vorschul- und 1. Klasse-Kinder (E1/ E2) [REPORTAGE]
Die zentrale Frage: Wie können alle Kinder in der Schule das Theatermachen kennen- und ausprobieren lernen?
2016 war ich in der Grundschule aktiv. Meine Erlebnisse habe ich in Blogbeiträgen aufgeschrieben (> Zusammenfassung).
In dem Buch „Theater und Darstellendes Spiel in der Praxis Band 1 Erzähltheater“ habe ich meine Erfahrungen in einem Theaterprojekt mit Schülern einer gesamten 4. Klasse zu einer Projektbeschreibung versachlicht und verdichtet. Es ist ein Versuch, das praktische Tun, das Theatermachen, unmittelbar mit theoretischen Überlegungen zu verknüpfen. Es soll zum Nachmachen anregen oder einfach nur inspirieren.
Seit Beginn des Schuljahres 2016/17 begleite ich eine Kollegin bei ihrer Arbeit in einer E1/ E2, das ist eine Eingangsstufe oder Vorschulklasse und eine 1. Klasse, Alter: 5-6 Jahre, teilweise auch älter. Die beiden Jahrgangsklassen werden zumeist getrennt unterrichtet. Die Schüler von E1 und E2 können sich für eine Doppelstunde pro Woche für ein Drittel des Schuljahres, also ca. acht Doppelstunden in verschiedene Projekte einwählen. In einem Projekt können sie Theater machen. Dieses Projekt begleite ich. Das erste Drittel mit einer Projektgruppe von ca. 20 Kindern ist zu Ende.
Warum habe ich bisher noch nichts darüber geschrieben?
Erste Ausrede: Ich habe mich bemüht, das Buch über mein erstes Grundschul-Experiment mit einer vierten Klasse zeitnah fertigzustellen.
Zweite Ausrede: Ich war ziemlich überrascht und anfangs auch überfordert. Ich hatte keine große Kompetenz in der Frage, wie ich diesen kleinen Kindern begegnen sollte. Schließlich sind meine eigenen Kinder inzwischen 31 Jahre alt, und das Betrachten der Fotos aus ihrer Kindheit brachte zwar viele Erinnerungen ans Tageslicht, aber nur wenig Hilfreiches für das, was ich mir vorgenommen hatte.
Dritte Ausrede: Die Schule ist umgezogen in ihre ursprünglichen Gebäude, aus denen sie vorübergehend ausquartiert war, weil diese komplett renoviert wurden. Dieser Umzug blieb nicht ohne Störungen des täglichen Unterrichtsablaufs. Und längst ist nicht alles fertiggestellt.
Das größte Desaster: Es gibt keine abgeschlossene Aula mehr. Statt dessen eine als Aula bezeichnete große Fläche (man könnte auch „Flur“ sagen), auf die ca. 10 Türen und ein großer Treppenabgang zum offenen Treppenhaus münden. Außerdem durchqueren diesen „Flur“ alle Lehrkräfte auf dem Weg ins Mitarbeiterzimmer und alle, die in die Verwaltung (zur Schulleitung usw.) wollen. Ich frage mich: Wer hat das wohl so geplant? Ein Experte, der sich mit Gebäuden für pädagogische Arbeit auskennt, vermutlich nicht. Ein Trost: Die neuen Klassenzimmer sind relativ geräumig.
Wie kann ich diese kleinen Menschen unter diesen Umständen für Theater begeistern? Die meisten wissen außerdem noch gar nicht, was Theater ist. Verstehen die Fünfjährigen mich überhaupt, jemanden der gewohnt ist, fast erwachsene Gymnasiasten anzusprechen? Die können ja noch gar nicht lesen, geschweige schreiben! Und frisch dazu gekommene Flüchtlingskinder können nichtmal meine Sprache. Auf was hab ich mich da bloß eingelassen?
Meine Grundschulkollegin war mir eine unschätzbare Hilfe bei meinen ersten Gehversuchen in diesem für mich vollkommen neuen Umfeld. Wir beraten und coachen uns gegenseitig. Sie kennt die Kinder, ich weiß einiges über das Theatermachen. Außerdem habe ich vorher eine kompetente Theaterpädagogin ausgequetscht, was man mit so Kleinen überhaupt machen kann. Sie hat mich sehr hilfreich beraten. Und da gibt es ja auch noch Literatur!
Schon die erste Begegnung war eine Überraschung. Kein lauter und wilder Haufen Kinder, denen man erstmal die einfachsten Grundlagen von gegenseitigem Respekt usw. beibringen musste, sondern ganz aufmerksame große Kinderaugen, die einem an den Lippen kleben. Ich denke: toll! So eine Arbeitsatmosphäre in jeder Klasse. Das wär’s!
So starteten wir unsere ersten Versuche, meine Kollegin und ich, den Kindern eine Form von Theaterunterricht anzubieten, der sie in diesem Fachgebiet lustvoll kompetent macht.
Grundlegende Einflussgrößen für das Gelingen eines ergebnisoffenen Theater-Projektes sind Neugier – sowohl bei Schülern als auch bei Lehrkräften – und der Aufbau einer vertrauensvollen und konstruktiven Beziehungskultur.
Insofern startet ein Theater-Projekt mit spielerischen Übungen zum gegenseitigen Kennenlernen und Vertrauen gewinnen, bei denen die Lehrkraft nicht ausgenommen ist.
Ein Theater-Projekt im Theater-Unterricht startet nicht mit der Ausgabe eines Theatertextes bzw. der Vorstellung eines Dramas durch die Lehrkraft mit folgender Rollenzuweisung und Textlernen.
Es gibt zahlreiche Beispiele für Übungen, die die Kinder schnell ins praktische Machen locken und lustvoll-spielerisch theatrale Grundkompetenzen wie Präsenz und Zusammenarbeit in einer Kultur des respektvoll-konstruktiven Miteinanders in Vielfalt trainieren.
Das Machen wird kontinuierlich unter der Anleitung der Lehrkraft begründet, reflektiert und zielorientiert bewertet.
Mit Bewertung sind hier nicht die individuellen Schulnoten für vermeintliche Einzelleistungen gemeint, sondern das Kommunizieren und sanktionieren transparenter Kriterien, die sich an der gestellten Aufgabe orientieren.
Wenn die Aufgabe beispielsweise Blickkontakt erfordert wie in der Übung „Ich funke an …!“, dann ist deutlich von der Lehrkraft zu bewerten, ob dieser Blickkontakt tatsächlich hergestellt wird und einzufordern (im Sinne von Trainieren und Üben), dass er hergestellt wird, wenn dies von Schülern nicht oder ungenau gemacht wird.
Wenn die Aufgabe beispielsweise erfordert, einen Kreis im Stehen mit Arm-Abstand zu bilden, dann müssen Lehrkraft und auch Schüler schnell bewerten, ob der Aufgabe entsprechend gehandelt wurde oder nicht. Die schnelle Bewertung – Ist das ein Kreis oder ein Ei oder ein verbeultes Ei? – führt zu unmittelbarer Korrektur im Sinne der gestellten Aufgabe.
In der Tendenz übernehmen im Laufe des Prozesses alle Schüler mehr und mehr die Verantwortung für diese Bewertung und die erforderlichen Korrekturen. Die schrittweise Übernahme dieser Verantwortung durch die Kinder ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau einer wertorientierten Kultur.
Achtet die Lehrkraft nicht auf diese Wertmaßstäbe für die Qualität der Arbeit und fordert sie diese ständigen Bewertungen nicht ein, dann führt das zur Schludrigkeit mit den entsprechenden Folgen für den Umgang miteinander und die Qualität der ästhetischen Arbeit.
Diese Forderung einer an Wert– und Qualitätsmaßstäben orientierten Arbeit in einem Theater-Projekt findet ihre Grenze an der Leistungsfähigkeit und dem von den Schülern mitgebrachten Potenzial. Hier setzt die besondere künstlerisch-pädagogische Kompetenz der Lehrkraft bzw. des Theater-Pädagogen ein, das individuelle Maß an (Lernleistungs-)Herausforderung für jeden einzelnen Schüler zu finden und dies in der Vorbereitung für jede Unterrichtsstunde und zu jedem Moment während des Unterrichts kreativ in Aufgaben und Instruktionen umzusetzen.
Leider wird – aus welchen Gründen auch immer – das Bewerten von (künstlerischer) Leistung im pädagogischen Rahmen von vielen Weiterbildnern und Theater-Künstlern abgelehnt. Gleichzeitig wird aber der Erwerb von Kompetenzen als überaus bedeutsam hervorgehoben; als ob diese Kompetenzen ohne Einsatz von großer Leistung nach entsprechenden Kriterien (Wertorientierungen und -beschreibungen) erworben werden könnten. Eine Ausschreibung für eine 4-stündige Qualifizierungsmaßnahme für die Grundschule liest sich dann beispielsweise so: „Theaterspielen ist kein Leistungsnachweis, der benotet wird, sondern künstlerische, kreative Leistung (Hervorhebung durch V.L.), die durch Applaus belohnt wird. Konzentrationsfähigkeit gehört ebenso wie Disziplin, Teamfähigkeit und Verantwortungsgefühl zu den Kompetenzen, die Schüler durch das Theaterspielen erwerben. Partnerschaftliches Denken und Handeln sind bei der Theaterarbeit von großer Bedeutung, da nur im Zusammenspiel aller Darsteller ein Theaterspiel entstehen kann. Es geht nur um Miteinander – nicht Gegeneinander. Die im darstellenden Spiel erworbenen Fähigkeiten wirken sich positiv auf die Anforderungen des täglichen Lebens aus. In diesem Kurs werden vier unterschiedliche bereits mit Schülern erprobte Theaterstücke vorgestellt. Diese eignen sich u. a. sehr gut zur Aufführung von Einschulungsfeiern oder anderen schulischen Festen (insbesondere dem bevorstehenden Weihnachtsfest). Es werden verschiedene Darstellungsformen, wie Menschenschattentheater und Musical, Methoden und Anregungen für das Theaterspielen mit Kindern im Unterricht, in der Projektarbeit und im AG Bereich vermittelt. Die Theaterstücke mit Regieanweisungen können vor Ort erworben werden.“ (Quelle: https://vedab.nibis.de/veran.php?vid=93541 – [23.02.2017]) (Siehe auch: List, Volker (2015): Theater benoten? – Geht nicht!)
Theaterunterricht – verstanden als Theatermachen – ist immer ein künstlerisches Projekt, in das enorm viel Leistung der Kinder einfließt und in das die Lehrkraft integriert ist. Damit ist das Wirken der Lehrkraft Teil des ästhetischen Prozesses, das zum Gelingen beiträgt. Dies macht die Besonderheit theaterästhetisch-pädagogischer Gestaltungsarbeit einer Theater-Lehrkraft aus.[1]
Pädagogische und künstlerische Instruktionen verschmelzen während der Arbeit der Lehrkraft, die während des Prozesses – je nach Erfordernissen und in gleicher Weise, wie das die Schüler auch tun – unterschiedliche Rollen übernimmt.
Sie startet den Prozess als Lehrkraft einer Klasse oder Gruppe und definiert den äußeren Rahmen des Projektes innerhalb des Bildungssystems, z.B. Schule mit den entsprechenden Bedingungen.
Die Lehrkraft startet die künstlerische Arbeit in der Rolle einer Spielleitung, die verantwortlich dafür ist, dass sich die Schüler möglichst angstfrei begegnen und kennen lernen können und etabliert zusammen mit den Kindern eine konstruktive und vertrauensvolle Werte-Kultur des Miteinanders durch klare Regeln, die durch Rituale gefestigt und sanktioniert werden, damit diese in einer solidarischen Kultur des Miteinander gelebt werden.
Die Lehrkraft stellt im weiteren Verlauf sicher, dass alle Schüler ihre Interessen und Wünsche formulieren können und Beachtung finden.
Die Lehrkraft greift die Anliegen der Schüler auf und macht sie mit altersgemäßen Möglichkeiten theaterästhetischer Gestaltung bekannt. Dabei erläutert sie die Zusammenhänge von theaterpraktischer und -theoretischer Arbeit.
Die Lehrkraft gibt den Schülern frühzeitig – nach entsprechenden Instruktionen und Anleitungen – Raum und Zeit in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen mit den neu erworbenen Informationen über theaterästhetische Gestaltungsmöglichkeiten zu experimentieren, zu improvisieren und eigene Gestaltungserfahrungen zu machen. Die Ergebnisse dieses Ausprobierens werden häufig vor der Gesamtgruppe präsentiert und entsprechend bewertet (vgl. dazu das Ritual des Zwei-Schritte-Feedbacks).
Schon in dieser kurzen Aufzählung zeigt sich die herausragende Bedeutung der Lehrkraft. Sie wird noch genauer zu untersuchen sein.
In diesem Sinne kann die folgende Unterrichtsvorbereitung nur eine Hilfestellung für die Lehrkraft sein. Sie sollte sich nicht der Hoffnung hingeben, dass ein guter Plan, eine gute Vorbereitung, eine Methode oder ein ausgearbeitetes Skript in Form einer minutiösen Unterrichtsvorbereitung ein Garant für Erfolg ist. –
Die Erfahrungen mit der ersten Projektgruppe zeigen, die Unterschiede zur Arbeit mit älteren Kindern ist doch nicht so groß, wie ich anfangs befürchtete. Die Arbeitsstruktur eines ästhetischen Prozesses kann weitgehend übernommen werden. Geändert werden müssen selbstverständlich die Leistungs-Anforderungen an die Kinder, insbesondere im Abstraktionsgrad. So findet ästhetisches Lernen noch sehr viel stärker durch praktisches Tun und Handeln statt, während theoretische Reflektionen des Handelns noch auf ein Minimum beschränkt bleiben. Es zeigt sich aber, dass etliche die Kinder, wenn die entsprechenden Lernsettings für sie vorbereitet sind, zu erstaunlichen Eigenleistungen sowohl in darstellerischer als auch in dramaturgischer Hinsicht in der Lage sind und auf diese Weise den Prozess deutlich sichtbar bereits an einfachen ästhetischen Kriterien orientiert mitgestalten können. Man muss ihnen nur die entsprechende Gelegenheiten und Freiräume ihrem Alter entsprechend dafür einräumen, künstlerisch-kulturelle Leistung zu erbringen und ihnen dafür eine konkrete Orientierung – sprich: Wert- und Beurteilungskriterien für ästhetische Qualität – geben.
[1] Die Wissenschaftlerin Mira Sack führt dazu das Folgende aus: „Für die theaterpädagogische Arbeit sind PraxisHaltungen zu finden, die produktive Zumutungen für die Spieler sind. Dies ist immer mit einem Abwägen verbunden, was in und mit einer konkreten Gruppe riskiert werden kann, um eine ergebnisoffene Suche anregen, dringlich machen und Selbstüberholungen damit auslösen zu können. Das Entwickeln von konstruktiven Verunsicherungsprozessen setzt voraus, dass der Theaterpädagoge Verfahrensweisen von Spiel und Theater kennt, darin eigene PraxisHaltungen formulieren und auf die Probe stellen kann. Verfahrenskenntnis sind somit immer unter der Folie der eigenen Resonanz auf bestimme pädagogische und künstlerische Handschriften, auf ein eigenes Klangspektrum des Handelns und der Haltungen ausgerichtet. Sie setzen an den Erfahrungen, die das Subjekt im Spiel damit machen kann, stellen Korrespondenzen und Resonanzen zwischen Subjekt und Vorgehensweise ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Erfahrungskrisen anzuregen und in szenisch-theatrale Praxis übersetzen zu können, so dass sie für beide Seiten, Spieler und Theaterpädagogen, neue, andere Erfahrungen generieren.
Die Auswahl von bevorzugten Verfahrensweisen bedingt aber auch eine Haltung, die bestimmte Mentalitäten zur Praxis schafft. Theaterpädagogische Verfahrensforschung und Verfahrensfindung werden zum dynamischen Prinzip, in dem fremde Praxis mit eigenem Denken zu verbinden ist, eigene Praxis durch Wissen um andere Verfahrensmöglichkeiten spielend neu verhandelt wird. Dabei wird die eigene andere Praxis im Spiel hervorgebracht und in Folge Haltungen zur eigenen Praxis infrage gestellt, neu befragt. Wesentlich daran sind die Lust und Neugier, mit Verfahrensweisen zu spielen und sie für eine konkrete Probenpraxis produktiv machen zu können.“ (Sack, Mira (2011): spielend denken. Bielefeld. transcript Verlag, S. 345. Rezension in Kürze)
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