Hüther, Gerald 2015: Etwas mehr Hirn, bitte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 187 Seiten – Rezension
Hüther wurde populär durch seine radikale Kritik am Schulsystem, seine Ansichten über ADHS und durch seine Forderung nach Potenzialentfaltung für Heranwachsende. Er beruft sich in seinen Ausführungen auf die Erkenntnisse der Hirnforschung.
Dieses Buch sei „das schwierigste Buch“ gewesen, das er bisher geschrieben habe, denn es ginge darin ans „’Eingemachte’, […] um die Erkenntnisfähigkeit des Menschen“. (181)
Inhalt
Teil 1 Das Leben als erkenntnisgewinnender Prozess
Teil 2 Die Strukturierung des menschlichen Gehirns durch soziale Erfahrungen
Teil 3 Potentialentfaltung in menschlichen Gemeinschaften
Um sein Fazit aus diesem Buch gleich vorweg zu nehmen: Es brauche mehr Hirn, da „wir als Menschen weder von unseren Genen noch von unseren Gehirnen gesteuert werden.“ (183)
„Nur durch eigenes Nachdenken“ könne jeder Mensch „zu einer eigenen Erkenntnis“ (183) gelangen. „Kein Mensch wird irgendetwas in seinem Leben verändern, nur weil er von irgendjemandem erfährt, dass es besser, günstiger für ihn oder für sein Gehirn wäre, sich anders zu verhalten. Es sei denn, er hat diesen Lehrmeister zum Objekt seiner Bewunderung gemacht.“ (183)
Auf dem Weg des Nachdenkens und Schreibens dieses Buches, sei Hüther „endlich klar geworden, was Menschen brauchen, damit sie den Mut finden, sich selbst auf den Weg zu machen, um all das, was in ihnen an Potential verborgen ist, schrittweise entfalten zu können: Sie brauchen dazu andere Menschen. […] das wären dann Gemeinschaften, deren Mitglieder einander als autonom denkende Subjekte begegnen.“ (184) und der Blick solle sich richten auf „das wichtigste Merkmal alles Lebendigen“, nämlich „seine Fähigkeit zur Selbstorganisation“ (54). Diese Erkenntnis ist jetzt aber nicht neu. Man kann sie nicht nur bei Marx nachlesen: „Erst in der Gemeinschaft [mit andren hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.“ (Marx: 74)
Gerald Hüther fordert, jedes Kind als hoch begabt anzuerkennen. Er engagiert sich dafür, Kinder nicht zu erziehen, sondern ihnen Freiräume („als autonom denkende Subjekte“) zuzugestehen, in denen sie, – also alle – gleichermaßen ihr Hochbegabtenpotenzial entfalten können. Idealerweise hätten wir dann eine Gesellschaft von nur hoch Begabten. Warum können nun nicht alle hoch Begabten ihr Potenzial entfalten? Das liege an der Gesellschaft, die Anderes mit den Kinder vorhabe wie beispielsweise die Schule, nämlich sie den entsprechenden Machtverhältnissen anzupassen und stromlinienförmig in die vorhandenen Muster einzuprägen.
Fragen wir zunächst nach der wissenschaftlichen Begründung für die These, dass alle Menschen hoch begabt seien.
Hüther bestätigt, dass es schon bei der ersten Zellteilung zu Abweichungen und Mutationen kommt. Besonders schön nachvollziehbar bei eineiigen Zwillingen, die in den gleichen Verhältnissen aufwachsen. Auch hier zeigt sich, dass sie durch diese Tatsache niemals genetisch identisch sein und nicht die gleichen Anlagen, das gleiche Potenzial haben können. Nur die Potenziale können entwickelt werden, die vorhanden sind. Also entstehen verschiedene Menschen, welche die schneller Sprachen lernen als andere, welche die eher durch Zuschauen lernen, welche die einen unbändigen Forscherdrang haben, welche die alles sehr genau machen, welche die eher großzügig sind, welche die eher zugucken und welche die eher handeln.
Es können sich also nur die Anlagen entwickeln, die auch da sind. Und wenn ein Kind bestimmte Anlagen nicht hat, ist es sinnlos, es für die angeblich faszinierenden Geheimnisse der Logik und der Mathematik oder der Biologie und der Natur oder was auch immer begeistern zu wollen. Dann wird es in diesem Bereich eben nur wenig oder nichts lernen wollen und können. So viel zur These, alle Kinder seien hoch begabt. Im Übrigen kann man in Roths neustem Buch („Bildung braucht Persönlichkeit“ > Rezension) noch einmal – wissenschaftlich fundiert – erfahren, dass die Behauptung, alle Kinder seien hoch begabt, nicht haltbar ist.
Zu fragen ist, wo sind die Forschungsergebnisse der Pädagogik und die Erkenntnisse der Geschichte pädagogischer Experimente wie beispielsweise Tvind in Dänemark, Scoula di Barbiana in Italien, Summerhill in England, Peter Petersen in Hannover, antiautoritäre Kindergruppen in Berlin Institut Bartenberg in der Schweiz usw. und die Verweise auf die unzähligen Forschungsarbeiten im Bildungsbereich. Dazu erfahren wir leider nichts. Hüters vermutlich einziges pädagogisches Forschungsprojekt, das ADHS-Alm-Experiment, wird sehr kritisch rezipiert (siehe Weiterführendes).
Hüther beruft sich immer wieder in seinen Ausführungen auf neurobiologische Forschungsergebnisse, auf die er aber nur sehr allgemein umgangssprachlich verweist.
Auch wenn Hüther ausdrücklich sagt, er schreibe bewusst populärwissenschaftlich, stellt sich die Frage, ob bei dieser Art leicht verständlicher Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnis für Normal-Eltern und Normal-Lehrer die Redlichkeit gebietet, eine maximale auch detaillierte Genauigkeit der Aussage bei gleichzeitig guter Verständlichkeit anzubieten, wie das beispielsweise ein Wissenschaftler wie Roth tut, der übrigens nachweislich seit vielen Jahren in schulische Bildungsprojekte involviert ist.
Als Leser hätte ich schon gerne gewusst, auf welchen konkreten Forschungsergebnissen die Annahme beruht bzw. durch welche Forschungsprojekte sie belegt ist, dass alle Kinder hoch begabt sein sollen. Weil sie alle über einen „Überschuss“ an Nervenzellen verfügten?
Sollten wir nicht besser anerkennen, das die Natur zwar fast alle Menschen mit einer Fülle von Nervenzellen ausstattet, aber noch lange nicht geklärt und beschrieben ist, in welcher Weise diese „arbeiten“ können und welche Rolle die „Dirigenten“ (Monyer) dieses Ensembles, die Interneuronen, spielen? Unser Wissen darüber scheint noch spärlich. Auch Roth bestätigt das recht selbstkritisch.
Hüther empfiehlt als „neue Strategie“ zur optimalen Entfaltung der Potenziale des Menschen, „Verlangsamung, Verringerung des Differenzdrucks, Verhinderung zu früher Spezialisierung.“ (74)
Die folgende Passage zitiere ich etwas ausführlicher, weil sie beispielhaft Hüthers Argumentationslogik nachvollziehbar macht:
„Unsere Vorfahren müssen also im Verlauf ihrer Entwicklung Strategien gefunden haben, die den Druck zu vorschneller Reifung, Differenzierung uns Spezialisierung der im Hirn ihrer Kinder stattfindenden Entwicklungsprozesse schrittweise verringerten. Mit anderen Worten: Die Eltern müssen in der Lage gewesen sein, ihre Kinder vor all jenen Problemen immer besser zu schützen, die diese Kinder zum vorschnellen Erwerb bestimmter Fähigkeiten, zur Aneignung von Überlebensstrategien, zur Erbringung bestimmter Leistungen gezwungen haben: vor Hunger, Not und Elend, Selektionsdruck und Leistungszwang. Und je besser ihnen das gelang, desto länger konnten diese Kinder das in ihrem Hirn angelegte Potential zur Herausbildung vieler Nervenzellen und zum Knüpfen möglichst vielen Kontakte nutzen. Desto länger blieb deren Hirn in diesem plastischen Zustand. Desto größer war ihre Lernfähigkeit und desto länger blieb sie dann auch erhalten. So einfach lässt sich diese Entwicklung erklären.“ (74)
Nichts dieser Setzungen und Annahmen Hüthers ist wissenschaftlich belegt. Die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung weisen sogar eher in die entgegengesetzte Richtung, dass gerade eine Stimulierung durch entsprechende Impulse das Hirn erst seine Plastizität ausspielen kann (vgl. beispielsweise die Forschungsergebnisse von Monyer und Untersuchungen der Sporthochschule Köln).
Dass Lust zum Lernen gehört, weiß jedes Kind. Und dass man manchmal auch etwas lernen muss, das einem keinen Spaß macht, wissen die Erwachsenen, und versuchen es den Kindern irgendwie zu vermitteln. Das Leben ist halt kein Pony-Schlecken, pardon Honig-Hof … oder so ähnlich. Um sich in ihm, in der aktuellen Welt zurechtzufinden, einen angemessenen Platz zu finden, braucht´s auch Anpassung und Kompromisse. Nur wenn man in einer Kultur Fuß gefasst hat, sie gut kennt, kann man sie auch ändern. Tut man das von außen, dann stößt man meist auf Widerstand.
Roth weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass vorgeburtliche und früh-nachgeburtliche Einflussfaktoren für die Weitergabe und Veränderungen in der Genstruktur mitverantwortlich sind (vgl. Epigenese).
Unklar und weiter kritisch zu hinterfragen wären die folgenden Aspekte:
- Wettbewerb und Konkurrenz führte nur zur Spezialisierung und Fachidiotentum und verhinderten Innovationen > http://www.gerald-huether.de/populaer/audio/zuendstoffe/index.php. Vergleichen ist aber noch keine Konkurrenz. (Hawemann: 201)
- Nicht jedes Kind ist hochbegabt, weil schon bei der ersten Zellteilung Mutationen auftreten (vgl. Zwillingsforschung).
- Kinder müssen manchmal aus Selbst- und Fremdschutz erzogen werden, sprich: kulturell integriert werden.
- Kinder (wie Erwachsene) müssen manchmal in Gemeinschaften mit Druck und Strafe zu bestimmtem sozialen Verhalten angehalten werden, wenn eine Bildung misslingt, und der Gemeinschaft Schaden droht. > gesellschaftliche Konsense, Regeln, Gesetze.
- Das Gehirn roste im Alter ein. Natürlich(!) fährt das Gehirn im Alter die Neurogenese zurück wie alle anderen Zellerneuerungen auch, weil das biologische Alter sich nicht beliebig verlängern lässt. Die postnatale Migration von Interneuronen wird auch zurückgefahren; klug eingerichtet von der Natur und der genetischen Disposition im Hinblick auf das Lebensende und des allgemeinen Niedergangs der Lebensenergien und der Leistungsfähigkeit. Würde das Hirn weiterhin so feuern wie in der Jugend, hätte man im Alter ein ziemliches Problem, das die Jugend zurecht in Bezug auf beispielsweise die Sexualität im Begriff des notgeilen alten Sacks treffend auf den Punkt bringt. Wir wissen Fortpflanzung hat die Natur so eingerichtet, dass sie überwiegend in jungen Jahren stattfindet, weil in zunehmendem Alter die Risiken für eine gesunde Zeugung und Geburt steigen (Mutationen).
Könnte es sein, dass die Triebkräfte der Menschen, sich miteinander zu vergleichen und im Wettbewerb ihre Fähigkeiten zu messen und ihre Potenziale auszuspielen, im sog. Reptilienhirn verankert sind, dem ältesten Teil des Hirns, das sie im Überlebenskampf schon immer unterstützte und noch unterstützt?
Könnte es sein, dass dieser Fakt genau zu den spezifischen Ausprägungen von Gemeinschaften und Gesellschaften geführt hat, wie sie sich besonders in Konflikten zeigt? Alle friedlichen, aufklärerischen, kulturellen Bestrebungen stünden demnach ständig im Kampf gegen diese Triebkräfte, und nur bei Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse der Menschen sei ein friedliches Miteinander möglich (vgl. Alfred Grossers Erkenntnis, unsere Gesellschaft sei nur ein Schönwetter-Demokratie und die These von der Ruhigstellung eines immer größeren Teils der Bevölkerung, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat, durch staatliche Versorgung, um Unruhen und Aufstände zu verhindern).
Meine Erfahrungen als Kinder- und Jugendbetreuer in zahllosen Projekten, als Lehrer, Coach und (Nachwuchs-) Führungskräfte-Trainer, Berater, und Vater von eineiigen Zwillingen, Verfasser von zahllosen Unterrichtshilfen, Gestalter von innovativen Lernsettings in traditionellen Schulen (z.B. Betriebssimulationen), Großgruppenverfahren (die Hirnstrukturen nachempfunden sind) Mitarbeit an der Erforschung von Wirkungen von Hirnwellenmuster-Stimulationen (Binaurale Schwebungen) – kurz gesagt, mit umfangreicher reflektierter Lebenserfahrung – hinterlassen mich sehr skeptisch gegenüber Hüthers Ausführungen.
Spannende Hinweise gibt uns schon Margaret Mead mit ihren Studien über primitive Gesellschaften, den Berg-Arapesch, den Mudugomor vom Fluss und Tchambuli vom See, die jeweils extrem unterschiedliche Ausprägungen der in Menschen angelegten Potenziale belegen. Untersuchungen über abweichende bzw. unterschiedliche Genstrukturen, die sich im Laufe der Jahrhunderte durch die Fortpflanzung entwickelt haben, konnte sie natürlich noch nicht machen. Diese Frage bleibt offen. Es mehren sich jedoch die Zeichen – spätestens seit Konrad Lorenz darauf aufmerksam gemacht hat – dass sich kulturell induzierte Lebensveränderungen möglicherweise in der Genstruktur der Menschen verankern, sodass sie sich leichter an die veränderten Bedingungen anpassen können ohne erst umständliche und lange Lernprozesse zu durchleben.
Es gibt unzählige Fälle von liebevollen, fürsorglichen, verantwortungsvollen, klugen Eltern, die trotz des förderlichsten Umfeldes und umfassender Spielmöglichkeiten und kreativer Betätigungen ohne Erziehungs-Druck und Dressur nur gering begabte Kinder haben.
Liegt der Gedanke nicht viel näher, dass dieses Überangebot an Hirn, das der Mensch entwickelt, genau die Funktion hat, den Menschen so anpassungsfähig wie nur möglich zu machen, damit er sich in allen erdenklichen Umwelten zurechtfinden kann? Das Potenzial also gar nicht komplett entfaltet werden kann oder soll, nur so weit, wie es die Anforderungen der entsprechenden Umwelt eben erfordert? Mal ganz abgesehen von dem grundlegenden Prinzip des Überschusses, mit dem die Natur von Anbeginn wuchert; und den unglaublichen Verlusten, die im evolutionären Prozess entstehen. Das habe ich jedenfalls im Biologie-Unterricht in der Schule gelernt.
Auch die physiologische Konstruktion des Menschen ist darauf angelegt, die vielfältigsten Bewegungen auszuführen. Der Mensch ist das Lebewesen mit den vielfältigsten Bewegungsmöglichkeiten (Potenzial). Wir können die kleinsten Dinge mit unseren hochsensiblen Fingerspitzen erfassen, begreifen und mit fokussierbaren Augen scharf erkennen und auch zentnerschwere Lasten schleppen; in Kombination mit unserem Hirn durch Konstruktion von Geräten auch Tausende Tonnen bewegen. Muss deshalb jeder Mensch, weil wir alle bewegungs-hoch-begabt sind, sein komplettes Bewegungspotenzial entfalten und Uhrmacher und Gewichtheber gleichzeitig werden?
Geht ja sowieso nicht! Ein Klavierspieler schränkt seine Klavierspiel-Kompetenz ein, wenn er auch Tennis spielt, weil unterschiedliche Bewegungs-Potenziale trainiert werden, die sich gegenseitig im Wege stehen.
Der Mensch hat ein so großes Potenzial von der Natur mitbekommen, damit er sich spezialisieren kann, denn nur dann kann er in einem Fachgebiet höchste Leistungen vollbringen.
Was es aber sein wird, worin jemand ein Experte werden wird, das entsteht vermutlich aus einer Interdependenz aus dem sich von der ersten Zellteilung ständig veränderten Zell- und Genmaterial und allen Umwelteinflüssen, von der Zusammensatzung der Atemluft bis hin zu einer erzieherischen Begleitung (vgl. Epi-Genese).
Das dürfte wissenschaftlich-experimentell nur schwer zu beweisen sein, bleibt also auf der Erfahrungsebene der allgemeinen Plausibilität, heißt in der Überzeugungskraft nachvollziehbarer Argumente.
In Anbetracht einer ständigen Schädigung des Zellmaterials und der natürlichen Reparatur werden die aktuellen Definitionen von Gesundheit (normal) und Krankheit (unnormal) noch fragwürdiger. Ist das ein Fehler der Natur? Macht Natur, macht Evolution überhaupt Fehler? Ja, ständig. Oder, eigentlich nicht, es liegt ja in der Natur der Sache. Fehler macht man nur ohne Absicht, sonst wären es kein Fehler. Schwarze Kassen anlegen und Steuern hinterziehen kann man nicht als Fehler bezeichnen. Das machen Menschen vorsätzlich, also absichtlich. Und sie bezeichnen es dann im Nachhinein als einen Fehler, wenn man sie erwischt hat, wie es beispielsweise ein Ministerpräsidenten und eine Fußballführungskraft getan haben. Natur hat kein Ziel. Sie guckt, was jeweils geht. Deswegen stattet sie Leben verschwenderisch aus, weil es große Verluste gibt. Das ist einkalkuliert.
Auch die Vergabe des Nobelpreises 2015 an Wissenschaftler, die nachgewiesen haben, dass es Zellreparaturmechanismen gibt, die Schäden an der DNA reparieren, zeigen zum Einen, dass es diese Schädigungen und Mutationen ständig gibt und zum Anderen, dass auch dieser körpereigene Reparaturmechanismus des Menschen nicht alles reparieren kann.
Die wichtigste Frage bleibt offen: Wie ist die Aussage belegt und bewiesen, dass trotz dieser Vorgänge im Menschen, alle Kinder „hoch begabt“ seien? Oder wie ist die folgende Aussage Hüthers auf diesem Hintergrund zu verstehen: „Vorgeburtlich sind das jene Vernetzungen, die für die Regulation des eigenen Körpers gebraucht werden. Das heißt, das Hirn lernt schon vor der Geburt, wie es sich anhand der aus dem eigenen Körper kommenden Signalmuster strukturieren muss. Deshalb sind die Menschen schon zum Zeitpunkt der Geburt alle verschieden und damit einzigartig. Es gibt ängstliche und weniger ängstliche Menschen, faule und fleißige. Die wiederum machen ganz unterschiedliche Erfahrungen.“ (Hüther im Gespräch „Erst die Arbeit macht uns zu Menschen“. Frankfurter Allgemeine Wirtschaft vom 08.01.2016 > http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/interview-mit-hirnforscher-gerald-huether-erst-die-arbeit-macht-uns-zu-menschen-13963189.html).
Und was ist mit den liefbegabten Kindern? Müssen sie sich jetzt herabgesetzt fühlen, weil ein Professor behauptet, alle Kinder seinen hochbegabt? Wir sehen, zunehmend mehr Eltern überfordern ihre Kinder, weil sie meinen, sie seien begabt und klagen bei den Lehren ein, dass sie auf höhere Schulen kommen. Manchmal oder oft mit fatalen Folgen. Nachhilfedruck und Versagenserfahrungen. Sie scheitern, weil die Eltern meinen, sie hätten kluge Kinder oder „hochbegabte“. Sind die Lehrer alle zu dumm, um die vermeintliche Hochbegabung zu erkennen?
Hier ist Klärungsbedarf!
Weltweit zeigt sich in vielfältigster Weise, was Kinder brauchen, um groß, selbstbewusst und gemeinschaftsfähig zu werden: liebevolle, selbstlose Zuwendung (schon als Ungeborene und Babys). Wertschätzung, Anerkennung, Lob, Respekt, Verantwortungsübernahme und Konsequenz sollten sie in altersgemäßer Weise erfahren, sobald sie beginnen auf eigenen Beinen die Welt zu erkunden. Und zeitig lernen, dass nicht jeder Mensch hoch begabt ist, dass Menschen unterschiedlich sind (Toleranz), dass die Natur keine „Fehler“ macht, dass nur wir Menschen Fehler machen, also für unser Handeln die Verantwortung tragen.
Erkenntnisse für den Theater-Unterricht
Wie helfen uns Theater-Lehrkräften und -Pädagogen Hüthers Ausführungen dabei – bei aller Schulschelte – guten und besseren Theater-Unterricht zu machen und wirkungsvolle theatrale Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche anzubieten?
Eine Antwort könnte lauten: Ja, eine moderne Didaktik des Theater-Unterrichts bemüht sich, ein vielfältig-differenziertes Lern-Arrangement zu kreieren und eine vertrauensvolle Lern-Atmosphäre zu schaffen, in der möglichst alle Schüler ihre vorhandenen(!) Potenziale entfalten können und es darum keines besonderen sog. inklusiven Angebotes bedarf.
Zu einem wirkungsvollen (Theater-)Unterricht gehört wesentlich auch für Schüler das Erlernen des Regie-Handwerks und der Projektsteuerung (Produktionsleitung). Diese Herausforderung an die Schüler macht den (Theater-)Unterricht erst komplett im Sinne einer umfassenden Anregung des Hirns durch Fragen und Antworten im Lern-RAUM Dramaturgie, der Prozesssteuerung und des Regieführens und damit der umfassenden Stimulation des Potenzials der Plastizität des Hirns. Dass der Lehrer seine Impulse dafür leidenschaftlich, fachkompetent, glaubwürdig, anregend, vorbildhaft(!) usw. geben sollte, ist schon tausendmal gesagt und immer noch richtig.
Etwas mehr Hirn wäre in diesem Bereich also durchaus hilfreich.
Weiterführendes
- Axel Seegers: Gerald Hüther und die Sinn-Stiftung. Beratungsstelle der Erzdiözese München für Sekten- und Weltanschauungsfragen, 2013
- Benker, Dirk (2015): Schultheater als Zaunreiter. In: Fokus Schultheater. Heft 14. Grenzgänge. Hrsg. vom Bundesverband Theater in Schulen (BV.TS). Seelze: Friedrich Verlag: 24-28
- Frankfurter ADHS Studie. Sigmund-Freud-Institut
- https://angewandte-theaterforschung.de/neurobiologie-roth-2015-bildung-braucht-persoenlichkeit/
- http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/news/adhs_aid_53389.html
- http://www.gerald-huether.de/populaer/ueber-gerald-huether/wofuer-ich-arbeite/index.php
- http://www.gerald-huether.de/wissenschaftlich/lebenslauf-von-prof-dr-gerald-huether/tabellarischer-lebenslauf-von-prof-dr-gerald-huether/index.php
- http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/Uebersicht/Sexueller-Missbrauch-im-ADHS-Almprojekt
- http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Wissen/Wissen-vor-Ort/Kinder-brauchen-Aufgaben-auch-als-Therapie
- http://www.kup.at/kup/pdf/7543.pdf
- http://www.medizinfo.de/kinder/probleme/ads/ursachen.shtml
- http://www.mittelhessen.de/lokales/region-wetzlar_artikel,-ADHS-Das-Krankheitskonzept-stimmt-nicht-_arid,570748.html
- http://www.mittelhessen.de/lokales/region-wetzlar_artikel,-Wenn-es-an-Konzentration-mangelt-_arid,570749.html
- http://www.spiegel.de/panorama/justiz/sexueller-missbrauch-auf-adhs-alm-der-sinn-stiftung-a-890741.html
- http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/kritik-am-schulsystem-huether-will-gymnasium-und-lehrplaene-abschaffen-a-850405.html
- http://www.uni-heidelberg.de/izn/researchgroups/monyer/
- http://www.web4health.info/de/answers/adhd-patinfo-cause.htm
- http://www.welt.de/wissenschaft/article1177711/Die_Ursache_fuer_ADHS_liegt_im_Gehirn.html
- http://www.wissenschaft-online.de/artikel/1007330
- https://www.psiram.com/ge/index.php/Gerald_Hüther#cite_n
- Martin Spiewak: Die Stunde der Propheten. DIE ZEIT, 29. August 2013
- Marx, Karl/ Engels, Friedrich (1972): Die deutsche Ideologie. MEW, Bd. 3. Berlin: Dietz Verlag
- Korte, Martin 2019 (erste Auflage: 2017): Wir sind Gedächtnis. Wie unsere Erinnerungen bestimmen, wer wir sind. München: Deutsche Verlagsanstalt
- Mead, Margret (1970, Erstausgabe 1930): Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften. Band 3: Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften. München: dtv
- Steinhöfel, Andreas (2011): Rico und Oskar, Band 1: Rico, Oskar und die Tieferschatten. Hamburg: Carlsen Verlag
- Zierer, Klaus (2014): Hattie für gestresste Lehrer. Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen aus John Hatties „Visible Learning“ und Hatties „Visible Learning for Teachers“ Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren > Rezension