ASSITEJ e.V. (Hg) 2018: Zur Lage des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland. Strukturdebatten in der Theaterkunst. IXYPSILONZETT. Jahrbuch 2018 für Kinder- und Jugendtheater der ASSITEJ Deutschland. Berlin: Theater der Zeit. 68 Seiten – Rezension
Im Editorial verweist Wolfgang Schneider auf eine Erfolgsbilanz des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland nach 50 Jahren ASSITEJ e.V.: „Neben der Pflege eines dramatischen Repertoires und interdisziplinärer Produktionen seien es vor allem die partizipativen Projekte, die das Kinder- und Jugendtheater zur Avantgarde innerhalb der Darstellenden Künste machen.“ (1)
Als alles entscheidende Frage formuliert Schneider: „Wird das Recht des Kindes auf freie Teilnahme und volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben verwirklicht, wie eine Konvention der Vereinten Nationen die Vertragsstaaten in Art. 31 verpflichtet und den durch die Bereitstellung geeignet und gleicher Möglichkeiten zu gewährleisten ist?“ (1) Trotz eines Anstiegs der Besucherzahlen im Kinder- und Jugendtheater 2015/2016 um 5 % ergäbe das rein rechnerisch „nicht einmal einen Theaterbesuch pro Kind pro Jahr.“ (2)
Ein Jahrbuch solle darüber hinaus Einblicke gewähren und Ausblicke wagen auch über den Dauerbrenner Theater und Schule, über die Arbeitsbedingungen der Theatermachenden und über die Gegenstände, die auf der Bühne verhandelt werden. Das Jahrbuch enthält neben neun Autoren-Beiträgen einen 26-seitigen Service-Teil mit Informationen über Auszeichnungen von Kinder- und Jugendtheatern in 2017, Festivaltermine 2018 und Premierentermine in der Spielzeit 2017/18.
Thomas Renz
Kinder- und Jugendtheater in Deutschland. Ergebnisse einer empirischen Studie
Ziel dieser erstmaligen empirischen Studie im Jahr 2017 mit 238 verwertbaren Angaben einer Online-Befragung von 1.000 Kinder- und Jugendtheatern in Deutschland war es zu erfahren, „was sie produzieren, wen sie erreichen und welche Herausforderungen sie beschäftigen.“ (5) und daraus „Konsequenzen für die Kulturpolitik“ (9) zu ziehen sind.
Jürgen Kirschner
Eins, zwei, drei – überall dabei! Kinder- und Jugendtheater im Spiegel der deutschen Verbände
Kirschner gibt einen „Überblick über vorhandene Statistiken, der die Darstellenden Künste für junges Publikum im Kontext der Theaterlandschaft beschreibt.“ (10)
Bemerkenswert an Kirschner Aufarbeitung ist die Feststellung, dass Kinder- und Jugendtheater „überdurchschnittlich viele literarische Vorlagen auf die Bühne transportieren“ und damit die schon auf dem Markt befindlichen Themen und Stoffe verstärken. (11)
Als Manko stellt Kirschner fest, dass der Bundesverband Theater in Schulen (BVTS) über keine Statistik zum Schulfach Darstellendes Spiel verfügt.
Ohne Schulen geht im Theater gar nichts
Eva Maria Magel im Gespräch mit Franziska-Theresa Schütz und Christoph Macha
Im Gespräch gesteht Schütz offen ein, dass sie „großen Nachholbedarf in der Theaterpädagogik hatte, ich musste lernen, was da alles möglich ist.“ Sie findet es „gut, wenn man das alles in die Ausbildung von Künstler_Innen integrieren würde.“ (Jahrbuch 2018: 16) Denn: „Wer an der Altersgruppe nicht interessiert ist, darf auch kein Kinder- und Jugendtheater machen.“ (15)
Bernd Mand
„Machst du den Mund auf, bist du schnell im Abseits“. Arbeitsbedingungen im Theater für junges Publikum
Mand verwundert der folgende Sachverhalt: „Während auf der Bühne den jungen Zuschauer_Innen die Folgen und Geschichten soziale Ungerechtigkeiten, politischer Blindheit und menschlicher Fehlbarkeit gezeigt werden, scheinen an vielen Häusern und in vielen Gruppen die historisch gewachsenen Strukturen und gewohnten Wege nur wenig hinterfragt zu werden.“ (18-19)
Anne Schneider und Eckhard Mittelstädt
Die Komplexität der Welt. Herausforderungen in den freien darstellenden Künsten für Kinder und Jugendliche
Die Autoren haben mit verschiedenen Akteuren gesprochen, um herauszufinden, „ob und inwiefern sich die Formen der künstlerischen Annäherung je nach ‚Zielgruppe‘ verändern, welche gegenwärtigen Ansätze innovative und vielversprechende Aspekte der Darstellenden Künste für Kinder und Jugendliche sichtbar machen und ob sich in diesem Bereich konkrete Leerstellen benennen lassen, wenn man im Vergleich Inszenierung für Erwachsene betrachtet. Eine entscheidende Fragestellung war die Qualität und Form des Arbeitsprozesses, der von den Erwachsenen für Kinder und mit den Kindern gestaltet wird.“ (21)
Am Beispiel beschreiben Sie die mangelnden Kenntnisse von Theater-Künstlern, welche Vorstellungen sie sich über die Ansichten von Kindern von der Welt machen auf der einen Seite (vgl. auch Dan Droste). Auf der anderen Seite kritisieren sie die begrenzende Sicht der „(lehrenden, ausbildenden) Erwachsenen auf ihre Zöglinge [als] weit von der Realität entfernt.“ und dass Lehrkräfte „aus Sorge vor Überforderung, anschließenden ausufernden Diskussionen mit Schüler_innen und Eltern und mit Blick auf den Lehrplan […] immer noch klassische Stoffe, im klassischen Sinne inszeniert, bevorzugen.“ (22)
Künstler beharrten auf der „Zweckfreiheit“ der Kunst und trotzten sogenannten „Verwertbarkeitsansprüchen“ (23), und gleichzeitig forderten sie, dass „im Bereich der Darstellenden Kunst für Kinder und Jugendliche […] ein unbedingter Spaß im Fokus“ stehen sollte. (23) Die Autoren zitieren die Regisseurin Sara Ostertag abschließend mit ihrer Forderung: „‘Wenn wir proben, üben wir Gesellschaft.‘“ (23) Dieses Ausprobieren, den nötigen Raum, die Möglichkeit des Scheiterns und den Ansatz des Forschens und Experimentierens – alles Dinge, die es aufgrund der bestehenden Fördersituation viel zu selten gebe. An dieser Stelle sei verwiesen auf die Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel („Die Kunst Theater zu lehren“), die genaue diese Forderung in den Fokus holt.
Pop und Pathos
Die Kuratorin Anke Meyer im Gespräch mit dem Theatermacher Jasper Tibbe
Am Bespiel der Inszenierung „Nightcalls“ der Gruppe James&Priscilla untersuchen die Kuratorin Meyer und der Hildesheimer Absolvent und Regisseur dieses Stückes Tibbe avantgardistische Spielweisen im Jugendtheater. Auf die Frage, wie Tibbe zu dieser „rigoros anmutenden Spielweise“ [mit] Popsongs und betont lapidaren, gnadenlos unterspielten Wortwechseln“ gekommen sei, antwortet Tibbe, dass er „Pathos“ damit erzeugen wolle. Dabei verweist er auf seinen Hildesheimer Studiengang, in dem er „nie Schauspieltechniken gelernt“ habe. „Es gehe jetzt nicht mehr darum, nicht spielen zu dürfen, sondern eher darum, eine Darstellungsweise zu finden, die transparent bleibt zwischen Spieler_in und Figur, ohne ins Private zu wechseln.“
Es gehe nicht darum, so Tibbe, sich mit „pädagogischen Hintergedanken“ in Jugendliche hineinzuversetzen. Damit lande man „nur bei der verklärten Vorstellung von sich selbst als Jugendlicher.“ (24)
Auf die Frage, was für Tibbe der Begriff „emanzipatorisch“ bedeute, erläutert Tibbe: „Den Begriff verbinde ich mit Pop-Musik und das hat für mich sehr viele Aspekte. Sich auf Bühnen anders zu verhalten als sonst, sich zu verkleiden, oder sich selbst beim Zuschauen und Zuhören von Pop-Musik in die Person auf der Bühne oder die Stimme aus den Lautsprechern hineinzuversetzen bzw. ihr gegenüberzustehen.“ (25)
Tibbe findet es schwierig, wenn „die Kunstfertigkeit der Musiker_innen oder die Empfindung der Sänger_innen im Vordergrund steht, weil das eine Distanz schafft. Wenn aber die Songs im Vordergrund stehen, denken wir: Das können wir auch. Mit diesem Selbstverständnis gehen wir auf die Bühne.“ (25)
Zu fragen bleibt, ob Tibbe tatsächlich hier einen Lobgesang auf das Dilettantische, das sog. Nicht-Perfekte auf der Bühne singt und „Kunstfertigkeit“ oder Theaterkompetenz im weiteren Sinne ablehnt, um seine Hoffnung zu nähren, dass dieser Impuls beim Publikum ankommen möge und es beflügele, auch dilettantisch zu agieren: „Das kann ich auch. Das will ich auch.“ (25)
Ilona Sauer
Quer gelesen. Ein Streifzug durch die Veröffentlichungen zum Kinder- und Jugendtheater in der Spielzeit 2016/2017
Ein zentrales Thema, so Sauer, scheint die Diskussion um die Öffnung der Spartengrenzen gewesen zu sein. Es gehe grundsätzlich um die Freiheit, Kunst zu machen. Dabei sollten „Kinder als Experten“ (29) in die Produktionen eingebunden sein. Ihnen sollten – nach Ansicht des Künstlers Mirko Winkel – Möglichkeiten gegeben werden, „‘Verantwortung zu übernehmen und unabhängig von Erwachsenen ein Stück Welt im Theaterraum zu gestalten‘“ (31) und damit „spielrelevante Entscheidungen zu ermöglichen.“ Erwachsene sollten „bewusst nicht führen und […] die gleichen Rechte haben wie die Kinder.“ (31) Die Machtverhältnisse müssten sich strukturell zugunsten der Kinder verschieben.
Die Frage, wie verhindert werde könne, dass die Kinder dann nur die bereits angehäuften zahlreichen Theater- und Film-Klischees reproduzierten und wie ein künstlerischer Kompetenzzuwachs angeregt werden könne, rückt leider nicht den Fokus und stellt wieder einmal eine offensichtliche Unkenntnis auf Künstlerseite über Lernprozesse aus. Leider wird dabei immer und immer wieder mehr oder weniger offen künstlerisches Lernen als zu verteufelnde Pädagogisierung und Verzweckung der Kunst denunziert. Auch hier wird es höchste Zeit „Spartengrenzen“ zu überwinden, statt immer wieder Schein-Widersprüche zu wiederholen und neue aufzubauen, so den zwischen Kunst und Pädagogik.
Wolfgang Schneider
Ein Jahr des Kinder- und Jugendtheaters. Mein Rückblick auf die Spielzeit 2016/2017
Schneider beschreibt an ausgewählten Beispielen einige Großereignisse des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland.
Sieben auf einen Streich. Theaterverlage kommen zu Wort
Diese Übersicht über die „aktuellen Entwicklungen und ihre Agenda“, wie sie einige ausgewählte Verlage sehen, „und wie sie die Perspektiven ihres Geschäfts einschätzen“ (37) zeigt auch bei den Verlagen ein Vielfalt an Möglichkeiten und Perspektiven für das Kinder- und Jugendtheater aus der Sicht von Verlegern.
Im Service-Teil des Heftes kann sich der Leser informieren über die verliehenen Preise, die Festivals und Premieren.
Weiterführendes
- Dan Droste, Gabi (Hg): 2010: Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit. Bielefeldt: transcript Verlag > Rezension
- List, Volker 2018: Die Kunst Theater zu lehren – Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel. Hüttenberg: Angewandte Theaterforschung
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