Dan Droste, Gabi (Hg): 2010; 20091: Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit. Bielefeldt: transcript Verlag. 256 Seiten – Rezension
Der Sammelband mit Beiträgen bzw. Vorträgen von 25 Autoren fasst die Forschungsergebnisse des zweijährigen Projektes „Theater von Anfang an! Vernetzung, Modelle, Methoden: Impulse für das Feld frühkindlicher ästhetischer Bildung“ des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland zusammen. In dem Projekt mit Künstlern, Erziehern und Wissenschaftlern, wurden Theaterformen mit Kindern von zwei bis vier Jahren und für dieses jüngste Publikum erforscht und entwickelt.
Mit den Ergebnissen soll ein wesentlicher Diskussionsbeitrag zur ästhetischen Bildung in der frühen Kindheit geleistet werden. Ausgangspunkt sei die Idee gewesen: „Die Vision, dass sehr junge Kinder in der Lage sind, Kunst und Theater erleben zu können, und dass es möglich ist, für sie und mit ihnen Theater zu machen. Diese Idee ist zusammengefasst in: Theater von Anfang an.“ (11) Das Projekte zeigte „auf eindrucksvolle Weise, dass es möglich ist, Theater für die Allerkleinsten und mit ihnen zu verwirklichen, […] die in ihrer Einfachheit von hoher künstlerischer Qualität ist.“ (12)
Inhalt
Vorwort – Theater von Anfang an! 11
Kontexte – Hintergründe
Kontext: Bildung
Theater im Kontext der Bildungsdiskussion
Kindheiten und frühe Bildung in der Gesellschaft 21
Peter Cloos
Kunst und Kreativität von Anfang an –
Erfahrungen und Bedingungen 35
Gerd Taube
Kulturelle Bildung als ästhetische Bildung 45
Eckart Liebau
Theater für Zweijährige?
Warum nicht! Über das Erleben von Kunst 59
Stephan Hoffmann
Kooperationen im Kontext ästhetischer Bildung.
Zum Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik
im Theater für die Allerkleinsten 69
Kirsten Winderlich
Das forschende Künstlerspiel – Freiheit und eigene Sichtweisen.
Otmar Wagner, Rike Reiniger im Gespräch mit Gabi dan Droste 79
Kontext: Kunst
Künstlerische Entwicklung und Diskurse in Europa
First Steps – Erste Erträge.
Zu ästhetischen Eigenarten des Theaters für die Jüngsten 87
Gerd Taube
internacional, internazionale, international,
Интернационал, mednaroden –
Internationaler Austausch im Theater für die Allerkleinsten 103
Gabi dan Droste
Theater von Anfang an
Wahrnehmung
»Theater von Anfang an!« – alles auf Anfang?
Von der Einübung sinnlicher Wahrnehmungsweisen 121
Ute Pinkert
Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erlebnisräume.
Der Raum als grundlegender Parameter
des Theaters für die Allerkleinsten 131
Caroline Heinemann
Alltagstheater 145
Gerd E. Schäfer
Die Wiederentdeckung des Theaters aus dem Geiste
des Kinderspiels. Kirstin Hess im Gespräch mit Gabi dan Droste 159
Wechselspiel zwischen Darstellern und Zuschauern
Kommunikation ist die Kunst!
Marja Hofmann, Klaus Frenzel, Manuel Krstanovic
im Gespräch mit Gabi dan Droste 165
Wechselspiele. Die Inszenierung des Theaterrahmens
und die Fragilität der Spielvereinbarungen im Theater
für die Allerkleinsten. Beobachtungen zur Produktion
»Holzklopfen« des Helios Theaters 173
Geesche Wartemann
Partizipation im ›Erlebnisgarten‹
des Theaters für die Allerkleinsten 187
Sinje Kuhn
Fragmentarisches Nachdenken
über das Theater für Ganzkleine 193
Silvia Brendenal
Eltern, Gemeinschaft und Fest
Der Erwachsene im Produktionsprozess »Holzklopfen«:
Rollen und Funktionen des Begleiters
innerhalb der theatralen Kommunikation 203
Elisa Priester
»Ich bin sehr gerne hier, weil ich hier Zeit zum Entspannen habe.«
Baby Tanz Fest – Musikalische Begegnung
von Babys, Eltern und Künstlern 215
Wilma Hass, Marcela Herrera, Nicole Libnau
Das große Lalula.
Theater von Anfang an als schönes Erlebnis auf der Basis
von spielerischer, symbolischer und festlicher Interaktion 225
Petra Paula Marquardt
Da-lacht-das-kleine-Kind (:)
Melanie Florschütz und Michael Döhnert
im Gespräch mit Gabi dan Droste 241
Autorinnen und Autoren 247
Materialanhang 251
Die Beteiligten des Projektes hätten mit ihren Ideen, so dan Droste, zu der „notwendigen Neubewertung“ geführt, dass „das Kleinkind ein mit vielen Kompetenzen ausgestatteter Mensch“ sei. (13) Ansatz des Projektes sei gewesen, „an vier Orten in der Bundesrepublik […] in einer selbst zu bestimmenden Versuchsanordnung das Theater für kleine Kinder und mit kleinen Kindern gemeinsam zu erforschen.“ Dabei entschieden die Beteiligten an jedem Ort „selbst über die Art und Weise der Durchführung.“ (11) Es gab also demnach zuvor keine Abstimmung über gemeinsame wissenschaftliche Standards, kein zuvor erarbeitetes gemeinsames Konzept, um evtl. haltbare Schlüsse aus Vergleichen zu ziehen. Auch sind die im Reader versammelten Beiträge „unabhängig voneinander entstanden“ und wurden lediglich „in übergreifenden Themenblöcken lose gruppiert.“ (13) Insofern überschneiden sich die Aufsätze „zwar thematisch, haben aber keinen gemeinsamen Ausgangspunkt für ihre Betrachtungen.“ (15) Das heißt, es gab demnach keine gemeinsame Auswertung dieser „Forschung“ und auch keine redaktionelle Bearbeitung der Beiträge.
Es stellt sich hier die Frage, inwiefern bei dieser Vorgehensweise mit so viel Offenheit, eines fehlenden gemeinsamen Vorgehens und einer fehlenden Absicht an einer gemeinsamen Auswertung des „Erforschten“ grundsätzlich von einem Prozess mit haltbarem wissenschaftlichem Anspruch gesprochen werden kann.
Der Leser wird neugierig, ob überhaupt und wenn ja, welche wirklich neuen und wissenschaftlich belastbaren Erkenntnisse in dem Projekt generiert wurden und ob die Texte ihrem Anspruch gerecht werden können: „Diese Publikation liefert einen Beitrag für die Zukunft des Theaters für die Allerkleinsten und gibt den Leserinnen und Lesern Anregungen aus Praxis, Theorie und Wissenschaft.“ (17)
Kontext Bildung
Peter Cloos
Kindheiten und frühe Bildung in der Gesellschaft
Prof. Dr. Peter Cloos, Juniorprofessor für Pädagogik der frühen Kindheit, stellt fest, dass bezogen auf das „Generationenverhältnis in den Interaktionen von Kindern und Erwachsenen“ für die frühe und frühste Kindheit „kaum empirisches Wissen“ vorliege. (29) Kindheitsforschung, die Kinder (auch) als Akteure begreife, sei noch weitgehend eine Forschung zu Kindern ab dem Schulalter. Kindheit könne romantisiert, aber auch funktionalisiert werden.
Kulturpädagogische und künstlerische Praxis mit Kindern im frühen Kindesalter sei angesiedelt „zwischen einer Vermittlung von ‚Kulturtechniken’ und einer Orientierung an den elementaren synästhetischen Erfahrungen (vgl. Schäfer 2005) zwischen einer Kultur für Kinder und Kultur der Kinder.“ (30)
Sie agiere in einem durch Erwachsene und ihren künstlerisch-kulturellen Vorstellungen geprägten Raum und könne doch nur den Kindern ein Angebot machen, wenn sie ihre kulturpädagogische und künstlerische Praxis in besonderer Weise am Maß der Kinder orientiere. Theater für die Allerkleinsten könne nur gelingen, wenn Kinder und Erwachsene gemeinsam und performativ eine Bühne hervorbrächten „unter Anerkennung der Differenz und der Achtung der Kinder als Akteure.“ (31)
Gerd Taube
Kunst und Kreativität von Anfang an – Erfahrungen und Bedingungen
Auch Dr. Gerd Taube, Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums der Bundesrepublik Deutschland, konstatiert fehlendes empirisches Wissen, und die wissenschaftliche Forschung zur gelingenden ästhetischen Bildung in Kindertageseinrichtungen müsse erst noch entwickelt werden.
Taube greift die Diskussion um die sog. Pädagogisierung bzw. zu verurteilende Indienstnahme der Kunst für Lernzwecke auf, um nochmals klarzustellen, dass künstlerischer Arbeit eine Bildungswirkung inhärent sei, auch wenn dies nicht primär von Künstlern intendiert sei bzw. dies nicht von ihnen gesehen werde.
Entscheidend in Bezug auf sinnliches Lernen, wie es beim Theaterspielen geschehe, sei es, so Taube mit einem Verweis auf Fuchs, „’systematisch Situationen herzustellen, in denen der Einzelne oder die Gruppe ihre Stärken entfalten können’“. (42)
Mit dieser Forderung regt Taube ein Lernkonzept an, wie es in der Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel mit den dort beschriebenen Lernsettings ausformuliert ist.
Eckart Liebau
Kulturelle Bildung als ästhetische Bildung
Prof. Dr. Eckart Liebau, Inhaber eines Lehrstuhls für Pädagogik, skizziert den Beginn kultureller Bildung als ästhetische Bildung. Es zeichne sich in den letzten Jahren ein neuer Aufschwung in der Kulturpädagogik ab. Wesentliche Kennzeichen seien „die Orientierung am individuellen und kollektiven kulturellen Lernen, an Kreativität und sinnlicher Wahrnehmung, an Subjektivität und expressiver Aktivität in den verschiedensten kulturellen Feldern und Medien: Literatur und bildende Künste, Musik und Tanz, Spiel und Medien, Zirkus und Kochen, Geschichte und Clownerie, Mode und Video, Theater und Film, Töpfern und Computer etc.“ Die traditionelle Differenz von Hochkultur und Trivial- bzw. Volkskultur und damit von legitimen und illegitimen Künsten werde dabei bewusst zugunsten eines offenen und erweiterten Kulturbegriffs aufgegeben. Kennzeichnend sei zudem die „starke Betonung der Gleichzeitigkeit und Gleichbedeutsamkeit von Prozess- und Produktorientierung.“ (46) Im Zentrum stehe die Entwicklung und Förderung der subjektiven Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen nach Maßgabe der subjektiven Interessen und Ausgangslagen – also nicht nach Maßgabe „objektiver“ künstlerischer oder kultureller Qualität.
Daraus ergebe sich die Aufgabe, „neue Ansätze für Erziehung, Bildung und Spiel unter den Gesichtspunkten von Selbstbestimmung und Verantwortung zu entwickeln.“ (52) Es müsse nach den tatsächlichen und den möglichen Teilhabeformen von Kindern und Jugendlichen gefragt werden. Bildung könne man übersetzen als „aktive Teilhabefähigkeit in den verschiedenen Lebensbereichen des Alltags, der Kultur und Kunst, der Öffentlichkeit und Politik, der Wissenschaft, der Arbeit und der Religion.
Pädagogisch stelle sich die Aufgabe, für Kinder und Jugendliche nicht nur spätere Teilhabemöglichkeiten antizipatorisch vorzubereiten, sondern ihnen zugleich aktuelle Teilhabemöglichkeiten zu erschließen und zu eröffnen.“ (52)
Dieser Forderung wird beispielsweise im überarbeiteten „Kursbuch Darstellendes Spiel“ für die Oberstufe Rechnung getragen, indem der Vorgabe der EPA deutliche mehr Raum im Unterricht gegeben wird: „In der Oberstufe erwerbt und trainiert ihr Kompetenzen in den vier Bereichen der theaterästhetischen Bildung. Im letzten Schuljahr kommt dem vierten Kompetenzbereich, der soziokulturellen Partizipation, eine noch stärkere Bedeutung zu. Ihr könnt nun in noch größerem Umfang ‚Lebensweltliche Bezüge in die Gestaltung einbeziehen, Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Theater herstellen, für die eigene Gestaltung Möglichkeiten soziokultureller Partizipation entwerfen‘ (EPA, Seite 13). Damit ist die Absicht verbunden, euch dazu anzuregen, euch gesellschaftlichen Fragen zuzuwenden, diese in eure ästhetische Gestaltungsarbeit einzubeziehen und so mit euren erworbenen Kompetenzen an Gesellschaft teilzunehmen.“ (List/ Pfeiffer 2018: 183)
Die Bildungsreinrichtungen müssten, so Liebau, jungen Menschen ein sinnvolles Fundament für ihre gegenwärtige und künftige Lebensführung bieten, indem sie ihnen Erfahrungen mit den Möglichkeiten der menschlichen Kultur und des menschlichen Zusammenlebens erschlössen – von Anfang an!
Stephan Hoffmann
Theater für Zweijährige? Warum nicht! Über das Erleben von Kunst
Der Theaterpädagoge Hoffmann möchte seine Erfahrungen, die er am „Theater Junge Generation“ innerhalb des Projekt-Zeitraumes gemacht hat, noch einmal reflektieren, um so einige Gedanken zur Beantwortung der Frage zu entwickeln: Warum Theater für die Allerkleinsten? Ihm widerstrebe es „Theater als Bildung zu ‚verkaufen’“. (60)
Es sei überdies nicht geklärt, „welche Prozesse der Begriff der ästhetischen Bildung eigentlich beschreibt. Im Gegenteil. In vielen Gesprächen innerhalb des Projektes entstand der Eindruck, dass ein Begriff, unter dem alle Beteiligten dasselbe verstehen, erst gesucht werden muss.“ (60)
Hoffmann beschreibt in seinem Bericht die zahlreichen von Erwachsenen angeregten und angeleiteten Spiel- bzw. Mitspiel-Aktionen immer wieder undifferenziert mit den unterschiedlichsten Begriffen als „Theaterspiel“, „Theaterspielformen“, „theaterpädagogisches Spiel“, „Theateraktion“, „Spielaktion“, „Spiel“, „strukturiertes und regelgeleitetes Phantasiespiel“ und als eigenständige „Kunstform“. (60-65) Er grenzt die von den „Theaterleuten in die Kindertageseinrichtungen eingebrachten Theaterspielformen“ von traditionellen Formen des kostümierten Rollenspiels mit gelernten Texten ab, das von Erzieherinnen favorisiert werde. Es gehe darum, „das Erleben der Kinder in den Mittelpunkt“ zu rücken, „wenn sie im Spiel sich, die sie umgebenden Gegenstände und ihre Räume verwandeln und neu erfahren. Ihre Wirkung als Akteure in einer theatralen Inszenierung ist dabei zunächst unwichtig.“ (61)
An dieser Stelle wäre Hoffmann zu befragen, welche Definition und Begrifflichkeit seinem Verständnis von Theater zugrunde liegt, denn es gibt eine Begriffsdefinition von Theater, die sich über Jahrhunderte herausgebildet hat, und essentiell festlegt, dass man nur dann von einer theatralen Rahmung sprechen kann, wenn jemand, ein Darsteller oder Akteur, bewusst für andere bzw. einem Publikum etwas vorspielt oder dieses an seiner Aktion performativ teilhaben lässt. Schauen Menschen anderen Menschen beim nicht publikumsbezogenen, sondern selbstbezogenen bzw. selbstvergessenen Spielen zu, wie es den kleinen Kindern eigen ist, fehlt ein Wesensmerkmal von Theater. Es ist dann (noch) kein Theater, wenn mitspielende Erwachsene oder Kinder anderen Kindern bei ihrem selbstbezogenen Spielen – nicht Darstellen – zuschauen.
Hoffmann schlägt „zur genaueren Begriffsbestimmung“ dieser „Kunstform“ des Theaters für die Allerkleinsten vor, diese als „ästhetische Bildung“ zu bezeichnen, da diese ein Bildungsprozess(!) sei, der „auf ästhetischen Erfahrungen beruht“. Dazu beruft er sich auf den Kant’schen Begriff der »Schönheit«, der seiner Meinung nach für alle Altersstufen gelte. (65)
Konsequent wäre es gewesen, wenn Hoffmann sich demzufolge dann auch daran gehalten, und selbst das eher verwirrende Begriffssammelsurium (s.o.) vermieden hätte.
Schade, dass man diesem Projekt bei der Grundlegung keine wissenschaftliche Führung angedeihen ließ (jede der vier Projektgruppen durfte machen, was sie wollte!), denn all das hätte vorab dem Diskurs zugänglich gemacht werden müssen, um eine klare Forschungsfrage auf der Basis eines zielorientierten Erkenntnisinteresses zu generieren, das wiederum einen entsprechend transparenten Wissenschaftsprozess hätte anstoßen können. Und hinterher fehlte die gemeinsame Auswertung.
Kirsten Winderlich
Kooperationen im Kontext ästhetischer Bildung. Zum Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik im Theater für die Allerkleinsten
Winderlichs Forschungsgegenstand bestand darin, die Kooperation zwischen den Künstlerinnen und Erzieherinnen an den verschiedenen Projektstandorten Hamm, Berlin, Dresden und Mannheim, „standortübergreifend mit Hilfe empirischer Verfahren, standardisierter Befragung, narrativer Interviews und der Grounded Theory“ in Bezug darauf zu untersuchen, „inwieweit sich die Kooperation zwischen den Erzieherinnen und Künstlerinnen positiv auf den Alltag in den Kindertagesstätten auswirkt und die Bildungspraxis bereichert.“ (69)
Ihre Hypothese lautet, „dass ein Blick auf ein Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik die Förderung frühkindlicher ästhetischer Bildung in Gang setzen“ könne. (71)
Winderlich skizziert knapp unterschiedliche Vorgehensweisen der verschiedenen Projektgruppen und hebt entsprechende förderliche Impulse an den verschiedenen Standorten hervor, verweist aber auch auf die Schwierigkeiten und Missverständnisse der beteiligten Professionen.
So wurde in ihren Befragungen und Interviews offensichtlich, dass „die Mehrheit der Erzieherinnen das Kooperationsverhältnis zwischen Theater und Kindertagesstätte als vertikal erlebten. Sie waren der Meinung, zu wenige Möglichkeiten für einen gegenseitigen Austausch erhalten zu haben, in dem sie auch ihre Sichtweisen auf das kleine Kind und seine frühe Bildung hätten einbringen können.“ (71) Lediglich am Projektstandort Hamm „schätzten die Erzieherinnen die Form der ‚Experimentierfelder’ – die für Kinder und Erzieherinnen offenen Proben – diesbezüglich als gelungen ein.“ (71) Durch sog. Experimentierfelder seien dort u.a. kindliche Umgangsweisen mit dem Material Holz inszeniert worden. Dadurch erhielten Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Erzieherinnen die Möglichkeit, „Kinder in der Interaktion mit Kindern und den Künstlerinnen aus den unterschiedlichen Perspektiven zu beobachten und damit auch mögliche Rezeptionsweisen zu antizipieren.“ (71)
Winderlich räumt mit dem verbreiteten Vorurteil auf, dass Bildung immer Selbstbildung sei, die von den Kindern „auf schöpferische Weise selbst organisiert und gesteuert“ werde. (72) Bildungsprozesse der Kinder fänden jedoch nicht von selbst und außerhalb von sozialen Gemeinschaften statt. Vielmehr seien eine „Vielfalt von Anregungen und Impulsen“ notwendig, damit sich Kinder selbst bilden könnten. Dafür müssten die betreuenden und impulsgebenden Erwachsenen eine Kultur der Verständigung generieren und einen geschützten Rahmen schaffen, in dem auch Fehler erlaubt seien. Es gelte, an dem Spiel der Kinder anzuknüpfen und in einem künstlerischen Schaffensprozessen frühkindliche Spielformen wie das Erkunden, das Ordnen und das Bauen zu transformieren und es auf neue, ungewohnte und überraschende Weise vorzuführen. Dabei werde in den Stücken für die Allerkleinsten das frühkindliche Spiel, das gemeinsame Spielen inszeniert. Das Theater verändere auf diese Weise die gewohnte und alltägliche Wahrnehmungsweise der Kinder und fordere ein nicht-routiniertes Wahrnehmungshandeln heraus. Es lenke die Wahrnehmung der Kinder auch auf sich selbst, nach innen, und rege so, ihre eigene Vorstellungs- und Imaginationsfähigkeit einbindend, an, ihrer anderen und neuen Wahrnehmung Ausdruck zu verleihen, sie aufzuführen, um sich dadurch mit den anderen überhaupt erst austauschen zu können. „Die Anregung anderer und neuer Wahrnehmungsweisen von sich selbst, der anderen und der Welt, die Initiierung ästhetischer Erfahrungen, stellt die wesentliche Schnittstelle zwischen Theater und Frühpädagogik dar.“ (73)
Problematisch bleibt nach wie vor die Abgrenzung bzw. die exakte Beschreibung des Übergangs des kindlichen selbstbezogenen Spiels und des Rollenspielens gegenüber einem Darstellen vor Publikum: „So wurden in Hamm beispielsweise über die ‚Experimentierfelder’ ästhetische Erfahrungsräume kleiner Kinder inszeniert. Durch die Inszenierung, in diesem Zusammenhang verstanden als absichtsvoll eingeleiteter sinnlicher Prozess vor zumindest einem potenziellen Publikum.“ Zu fragen wäre, inwiefern eine theoretische Konstruktion von potenziellen Publikum im Kontext der Arbeit mit Zwei- bis Vierjährigen gerechtfertigt ist, von „Theater“ zu sprechen, zumal, wenn eine Aufführung nicht intendiert ist. Es sind dann zwar Proben, die aber nicht zur Aufführung vor Publikum führen sollen. Ein Bild drängt sich auf: Schwimmen lernen auf einem Stuhl liegend im Zimmer, dann aber nicht wirklich ins Wasser gehen.
Dass eine „forschende Haltung“ aller Beteiligten eine Grundvoraussetzung ist, nicht nur kleinen Kindern sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen, sollte in dieser Hinsicht weiter untersucht werden. Der Auftritt vor Publikum ist eine eminent bedeutsame sinnliche Erfahrung, die unverzichtbarer Bestandteil von Theaterarbeit ist. Konstruktive Beispiele und Anregungen hierzu liefert beispielsweise Weidemann 2010.
Otmar Wagner, Rike Reiniger im Gespräch mit Gabi dan Droste
Das forschende Künstlerspiel – Freiheit und eigene Sichtweisen.
Im Interview wird exemplarisch, insbesondere an den Äußerungen des Performancekünstlers Otmar Wagner, deutlich, warum es immer wieder zu Missverständnissen zwischen Künstlern und Pädagogen kommt.
Wagner leitet seine „künstlerische Vision“ ab aus seinen subjektiven Befindlichkeiten, die er teilweise recht dogmatisch zelebriert. Die Frage, ob man überhaupt für Kinder ab zwei Theater machen kann, findet er „nicht besonders relevant“. Viel wichtiger seien ihm seine „Ästhetiken“, von denen er vermutet, dass sie Kinder interessieren könnten, weil diese, wie er selbst, „keine psychologisch motivierten Geschichten, keinen dramatischen Konflikt, keinen pädagogischen Utilitarismus im Theater brauchen, sondern, wie ich auch, zuallererst einfach gerne gucken, hören und sich überraschen lassen. Kleinkinder haben noch kein Dogma, wie Theater zu sein hat, ausgebildet. Sie können mit performativen Ästhetiken und radikaler Freiheit in der Kreation von Situationen und Bildern umgehen.“ (79) Er experimentiere sowieso die ganze Zeit. Das sei für ihn das Interessanteste. Daraus schlussfolgert er, dass es auch für Kinder so sein werde. Wagner interessieren nur performative Vorgänge auf der Bühne. „Als Performer zelebriere und exorziere ich die Verhältnisse nicht im Rollenspiel, sondern in der Tätigkeit. Wenn ich als Performer ein Hochzeitskleid anziehe, dann nicht wegen einer Rolle, sondern auf der Zeichenebene des Objekts – Hochzeit halten kann ich auch mit einer Utopie oder dem Genderdiskurs. Wenn ich dann noch einen Text singe, zum Beispiel eine Bundestagsrede von Angela Merkel zur Türkeifrage oder das Cyborg-Manifest von Donna Haraway, und das nicht als Mann, der eine Frau spielt, die heiratet, sondern als Performer, der im Hochzeitskleid singt, schichten sich Zeichen, die als Ganzes komplett neue Assoziationen und Bilder im Kopf des Zuschauers entstehen lassen. Es geht überhaupt nicht um Rollenfigur, um Identifikation usw. Solche Strategien brauchen eine gewisse formalästhetische Strenge.“ (81)
Es zeigen sich in Wagners Ausführungen erschreckende Kenntnislücken im Bereich kindlicher Weltwahrnehmung und kindlichen Rollenspiels als Aufbau von Weltverständnis. Erst wenn grundlegendes Wissen erworben und im (Rollen-)Spiel erprobt wurde, kann dieses in zunehmendem Alter ab frühestens vier oder fünf Jahren in seiner Zeichenhaftigkeit abstrahiert werden. Und erst danach können Zeichen gegeneinander gestellt und verglichen werden und ihre Bedeutung bewertet werden.
Wagner scheint panische Angst vor Interpretation und Bewertung zu haben – vielleicht aus eigener schulischer Erfahrung, die er hier zu seinem Maßstab von Kunsterleben für Kinder macht – wenn er davor warnt, das von Kinder Gesehene mit „pädagogischem Druck […] gleich in eine Verarbeitungs- und Interpretationsmaschine ein[zu]speisen.“ (83)
Nachdem Wagner sein Dogma, wie Kindertheater auszusehen habe, vorgetragen hat, kommt er – überraschender Weise – zu folgendem Statement: „Ich könnte nicht sagen, was die beste Form von Theater für Kinder ab zwei Jahren ist. Ich wünsche mir eine riesige Vielfalt im Kindertheater, unterschiedlichste Versuche und Spaß am Risiko. Die Kunst kann eines: Sie kann Angebote machen, verbunden mit einem Maximum an Denkfreiheit, verbunden mit einem Anti-Utilitarismus, um das Leben reichhaltiger erfahrbar zu machen.“ (83) Woher kommt die geradezu panische Angst gegenüber Nützlichkeitserwägungen? Wäre das gerade nicht ein hervorragender Nutzen der ästhetischen Erfahrung, der kulturellen Bildung und der Kunst überhaupt, dass sie „das Leben reichhaltiger erfahrbar macht“?
Wagners unprofessionelles Verhalten ist ein Symptom bei so machen „Künstlern“, die sich auf pädagogisches Terrain wagen, und wird durch eine neue Studie betätigt: „Diese Mahnung lautet: Es kommt nicht nur darauf an, wie viele Lehrer und Erzieher es gibt, sondern vor allem darauf, wie gut sie sind. Denn von der Qualität des Personals hängt ab, wie viel die Kinder lernen. Kindergärten und Schulen boomen derzeit allerdings so stark, dass sie diesen Anspruch bisweilen hintanstellen: So unterrichten in immer mehr Schulen Quereinsteiger fachfremd – manche von ihnen mit unzureichender pädagogischer Qualifikation und wenigen Fachkenntnissen.“ (Kerstan 2017)
Kontext: Kunst
Künstlerische Entwicklung und Diskurse in Europa
Gerd Taube
First Steps – Erste Erträge. Zu ästhetischen Eigenarten des Theaters für die Jüngsten
Dr. Gerd Taube beschreibt anhand zahlreicher Beispiele, wie man in den vielfältigen Formen des Theaters der Allerkleinsten – „Das Theater für die Jüngsten gibt es nicht.“ – die Grundlagen des Theaters überhaupt wiederfinden kann, „weil die dort anzutreffende Rezeptionssituation nicht durch die Konventionen des bürgerlichen Theaters geprägt ist.“ (87)
Taube wendet sich gegen das von Künstlern immer wieder vorgetragene Dogma, dass Kunst einen Eigenwert habe, der als solches anerkannt werden müsse und nicht für Bildungszwecke missbraucht werden dürfe, sondern weist auf „das dialektische Verhältnis der beiden Pole Bildung und Kunst“ hin. (90) Aus diesem Dogma heraus werde demzufolge behauptet, dass „das Theater für Kinder unter drei nicht funktioniere.“ Die Einschätzungen dieser Theatermacher basierten auf ihren Auffassungen von Theater, die sich in den Grundlagen auf das Modell des bürgerlichen Repräsentationstheaters bezögen. Und die Vertreter dieser Meinung sähen sich sogar zu Recht bestätigt, denn diese Art von Theater funktioniere für Kinder unter drei Jahren tatsächlich nicht. Aus diesem Grund hält Taube die Analyse der Spezifik des Theaters für die Jüngsten für dringend notwendig.
Aufgrund der Fragilität der Kommunikationssituation im Theater mit den Allerkleinsten eigne sich diese in besonderer Weise zur Analyse grundlegender Fragen der theatralen Kommunikation: „Im ständigen Ausbalancieren der Kommunikation im Theater für die Jüngsten zeigt sich sehr viel eher, wann sie funktioniert und wann nicht. Wenn beispielsweise in einer Stadttheateraufführung von Schillers ‚Räubern’ die Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum nicht funktioniert, dann äußert sich das in der Regel nicht direkt in der Vorstellung. Denn die Rezeptionshaltung des Publikums im gewöhnlichen Theater ist derart konditioniert, dass sich die fehlende Balance der Kommunikation nicht entäußert und man sie damit auch kaum äußerlich wahrnehmen kann.“ (91)
Taube verweist auf die herausgehobene Bedeutung des Taktilen im Theater mit den Jüngsten, das es im konventionellen Theater kaum gebe: „Ursprünglich gehört die räumliche Trennung und die körperliche Distanz von Schauspielern und Publikum zu den Konventionen des bürgerlichen Theaters. Die Wahrnehmung im Theater für die Jüngsten ist jedoch körperliche Wahrnehmung.“ (91) Damit käme es zu Berührungspunkten mit Elementen der Performance, denn es käme der „Materialität und der Körperlichkeit der künstlerischen Mittel eine entscheidende Bedeutung zu.“ (92)
Demzufolge könne als ästhetischer Imperativ für das Theater für die Jüngsten gelten, dass es „immer eine gemeinsame künstlerische Erfahrung von Spielern und Kindern sein“ müsse. (92)
Aus dieser Setzung leitet Taube die Forderung ab, dass Theatermacher mit den Jüngsten die Fähigkeit besitzen müssten, „auf kleinste Stimmungsschwankungen im Publikum einzugehen und die Balance der Kommunikation wieder herzustellen. Der Spieler muss also auch über eine besondere Sensibilität für sein Publikum verfügen.“ (93)
Das Theater kehre somit „zu seinen Ursprüngen zurück, beispielsweise zum Ritual, aus dem bereits in der Antike Theaterformen entstanden sind, auf die sich das abendländische Theater immer wieder bezogen hat.“ (93) Zu beobachten sei das in der tendenziellen Aufhebung der Trennung zwischen Spieler und Zuschauer im Theater für die Jüngsten, die auch als eine Parallele zu vorzivilisatorischen Theaterformen beschrieben werden könnte, bei denen es eine strikte Trennung zwischen Akteuren und Zuschauern nicht gegeben hätte bzw. ein ständiger Wechsel der Rollen zwischen Akteuren und Zuschauern erfolgt sei. All dies impliziere, dass man im Theater für die Jüngsten nicht von Darstellern sprechen könne, sondern von Spielern, womit auf das Spiel und das Spielen verwiesen werde. Es ließen sich zwei Möglichkeiten für den Spieler beschreiben. „Zum einen: Der Spieler verkörpert keine Figur, stellt keine Figur dar, spielt keine Rolle. Er ist er selbst. Und zum anderen: Der Spieler schafft eine Figur. Diese Figur ist jedoch keine dramatische Figur. Sie hat oftmals clowneske Züge, ohne dem gängigen Klischee des Clowns zu entsprechen.“ (93) Eine Identifikation der Kinder mit den Auftretenden fände nicht statt.
Im Theater mit den Jüngsten ist die Verbalsprache nicht das in der Hierarchie der künstlerischen Mittel dominierende Moment. Darin unterscheide sich das Theater für die Jüngsten ein weiteres Mal vom text- und literaturzentrierten bürgerlichen Theater. Es ähnele der Alltagskommunikation, in die nur ca. 15 % der Informationen verbal übermittelt würden, während der größere Teil der Informationen durch unterschiedlichste Ausdrucksmittel der Körpersprache kommuniziert werde. Statt der Dominanz des Textes im Kindertheater könnten im Theater für die Jüngsten andere Ausdrucksmittel wie beispielsweise körperliche Bewegungen, Tanz oder musikalische Formen dominieren. Die Hierarchie der künstlerischen Ausdrucksmittel sei damit auch im Theater für die Jüngsten nicht aufgehoben. Und der Träger der künstlerischen Ausdrucksformen sei der Spieler. Dabei sei das Theater für die Jüngsten eine minimalistische Kunst, eine Kunst der Konzentration der Mittel, jedoch nicht eine Kunst der Vereinfachung.
Im Umgang mit den zu verhandelnden Stoffen verweist Taube auf die unterschiedlichen Funktionen von Geschichte, Fabel und Handlung, die im Theater mit den Jüngsten in vielfältiger Weise zum Zuge kämen.
Gabi dan Droste
internacional, internazionale, international,
Интернационал, mednaroden – Internationaler Austausch im Theater für die Allerkleinsten
Gabi dan Droste legt einige maßgebliche Impulse aus Europa für die künstlerische Entwicklung des Theaters für die Allerkleinsten in Deutschland zu Beginn des Projektes dar und entwirft über die Darstellung des europaweiten Netzwerkes des Theaters für die Allerkleinsten »small size« ein Bild der aktuellen Theaterlandschaft in Europa.
Theater von Anfang an
Wahrnehmung
Ute Pinkert
»Theater von Anfang an!« – alles auf Anfang? Von der Einübung sinnlicher Wahrnehmungsweisen
Die Berliner Professorin für Theaterpädagogik, Ute Pinkert, stellt sich die Fragen: „Welche allgemeinen Anforderungen stellen kleine Kinder an die Organisation der Wahrnehmung im Theater? In welcher Weise werden die damit angesprochenen Problematiken innerhalb der Theaterwissenschaft diskutiert?“
Ihr Fazit: „Die Allerkleinsten – das ist ein Allgemeinplatz – treten mit der Wirklichkeit weniger diskursiv-sprachlich als körperlich-sinnlich in Kontakt. Diese Art der Weltbegegnung ist an ein subjektives Prozesserleben und damit an das unmittelbare Zusammenspiel von Körperbewegung und Sinneserfahrung geknüpft.“ (122)
Daraus leitet sie weitere Fragen ab: „In welches Verhältnis können theatrale Situationen auf der einen und alltägliche Situationen auf der anderen Seite treten? Wie lässt sich die eine aus der anderen entwickeln oder wie kann eine in die andere umschlagen? Welche Formen von Aufmerksamkeit gibt es und wie können diese im Theater inszeniert, organisiert und ermöglicht werden?“ (123) Es verstehe sich von selbst, dass Theater für die Allerkleinsten unter diesen Fragestellungen nicht heißen könne, die historisch herausgebildete Form des bürgerlichen Literaturtheaters auf kindliche Bedürfnisse zu reduzieren.
Im Grunde gehe es darum, das (Kinder-)Theater neu zu erfinden. Gleichwohl konstatiert sie, „dass gerade auf dem Gebiet des Theaters für die Allerkleinsten Fragen gestellt und Problemstellungen bearbeitet werden, die auch im zeitgenössischen Theater derzeit eine große Rolle spielen.“ (124)
Caroline Heinemann
Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erlebnisräume. Der Raum als grundlegender Parameter des Theaters für die Allerkleinsten
Die Kulturwissenschaftlerin Caroline Heinemann verweist ebenfalls in Bezug auf die Raumgestaltung und die Beziehung von Akteuren und Zuschauern auf die Parallelen des Theaters der Kleinsten mit postdramatisch-performativen Arbeitsweisen.
Erstaunlich – wie hier auch bei Heinemann – ist immer wieder der Bezug auf erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse bzw. banales Alltagswissen, wie Kinder die Welt erkunden und lernen, z.B. durch neugieriges Entdecken und Nachahmen und man erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass Theater scheinbar wesentlich mit Mimesis zu tun hat.
Gerd E. Schäfer
Alltagstheater
Der Beitrag des Universitätsprofessors für Pädagogik der frühen Kindheit, Dr. Gerd E. Schäfer, beschreibt in prägnanter Weise die kindliche Weltwahrnehmung und Aneignung der Kleinsten und welche Rolle dabei das vor-theatrale Verhalten spielt und in welcher Weise sich darin noch kein Theater, aber die „Wurzeln“ von Theater abzeichnen und herausbilden.
Schäfers Beitrag eignete sich hervorragend einen Sammelband mit diesem Thema zu eröffnen und würde eine ganze Reihe der hier vorgelegten Aufsätze schlichtweg aufgrund von Redundanzen und mangelnder Durchdingung des Themas bzw. fehlender Erkenntniswerte überflüssig machen.
Schäfer zeigt, wie sich das Lernen der Kinder als kulturelle Arbeit beschreiben lässt, die ihre Wirkung dann am besten entfaltet, wenn sie entsprechende Räume auch der Zeit erhalten und durch angemessene Anregungen und Impulse herausgefordert und nicht überfordert werden (vgl. List 2016 und List 2017), sodass sie relativ selbstständig mit dem Vorgefundenen experimentieren und Erfahrungen machen können, um bereits Gewusstes und Neues in Form von Geschichten in ihre Weltkenntnis integrieren können.
„Auch wenn dem Theater ein Denken in Szenen und Episoden, konkret oder imaginär, zugrunde liegt, ist dieses Denken noch kein Theater. Theater meint, dieses Denken gleichsam auf eine Bühne zu bringen. Es wird aus dem Alltagsgeschehen herausgehoben. An einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Rahmen erhält es eine spezifische Aufmerksamkeit, wird ein reflexives Ereignis im ursprünglichen Sinn: Theater reflektiert szenisch handelnd eine erfahrene Wirklichkeit. Indem es diese reflektiert, macht es dieses Geschehen fiktiv. In dieser fiktiven Form kann erfahrene Wirklichkeit nicht nur unabhängig vom Tagesgeschehen wiederholt, sondern auch verändert werden. Auf diese Weise wird die Bühne zu einem Ort des fiktiven Durchspielens und Durchdenkens von Erfahrungszusammenhängen, die für bedeutsam gehalten werden. Reflexion bekommt eine kulturelle Form.“ (150)
„Das Theater der Kinder braucht zunächst keine Bühne. Es inszeniert sich am Ort ihres Interesses. Das ist es, wie sie ihre Erfahrungen denken, insbesondere, wenn sie zu mehreren sind. Bevor wir die Kinder auf jedwede Bühne heben, müssen wir ihnen Gelegenheit geben, ihr Denktheater in der Wirklichkeit zu inszenieren.“ (154)
Besser kann man den Übergang vom selbstbezogenen Spielen und Rollenspielen der jungen Kinder zum Darstellen für ein Publikum kaum beschreiben: „Bevor das Theater erfahrene Wirklichkeiten auf die Bühne bringt, brauchen Kinder vielfältige Gelegenheiten, ihre Erfahrungen als zusammenhängende Ereignisse zu erleben, in ihr Gedächtnis aufzunehmen, mit Hilfe vorhergehender Erfahrungen zu denken und in Handlungen mit den Geschichten anderer zu verbinden und schließlich in Bildern und Worten szenisch zu reflektieren.“ (156)
Kirstin Hess im Gespräch mit Gabi dan Droste
Die Wiederentdeckung des Theaters aus dem Geiste des Kinderspiels.
Die Regisseurin und Dramaturgin Kirstin Hess gibt im Interview unumwunden offenherzig und ehrlich zu, dass sich die Künstler im Projekt „auf nichts, was wir über Theater wissen, verlassen können.“ (159) und sich mit „Forschungen zu entwicklungspsychologischen Grundlagen der Null- bis Dreijährigen beschäftigt“ mussten.
Sie mussten z.B. lernen, „dass das Bühnengeschehnis für die Kinder das ist, was es tatsächlich ist, […] dass wir nicht, wie sonst, durch Symbole verkürzt erzählen können, sondern dass man den ganzen Moment zeigen muss“ (160) und entdeckten die Nähe zu performativen zeitgenössischen Theaterformen.
Sie mussten lernen, dass es für die Allerkleinsten kein Spielen gibt, kein So-tun-als-ob.
„Sie verfolgen ihre eigene Tätigkeit absolut ernsthaft – ich nenne das immer ‚arbeiten’. Wenn man auf der Bühne gut arbeitet, dann ist es interessant. Wenn man wirklich arbeitet und nicht so tut, als ob man etwas täte. Das erfordert vom Spieler hervorragendes Schauspielhandwerk, aber genauso ein hohes Maß an Konzentration, große Durchlässigkeit und hohe Sensibilität dem Publikum gegenüber.“ (161)
Deshalb müssten Schauspieler im Kinder- und Jugendtheater ihre Wahrnehmung besonders schulen, denn das Zeigen müsse gezeigt werden, damit die Kinder nicht irritiert würden.
Als Fazit formuliert Hess: „Man muss sich selbst noch einmal bewusst machen, welche Mittel man einsetzt und woraus sie entstehen. Man gewinnt viel, wenn man für so junge Menschen arbeitet. Man wird sich noch mal bewusst was Theater im Ursprung ist und was es kann.“ (162)
Man wünscht sich mehr solch ehrlichen Umgang in der Kunst und insbesondere mit den Menschen, egal wie alt sie sind, weniger weltfremde Selbsterhöhung mit realitätsfernen und sachunangemessenen Forderungen z.B. dass Kunst nur dann eine Verstehensleistung erbringe, wenn sie den Zuschauer „überfordere“; leider ein immer noch aktuelles Dogma (vgl. z.B. Primavesi 2014).
Wechselspiel zwischen Darstellern und Zuschauern
Kommunikation ist die Kunst!
Marja Hofmann, Klaus Frenzel, Manuel Krstanovic
im Gespräch mit Gabi dan Droste
Im Gespräch arbeiten die Beteiligten die exponierte Bedeutung des Wechselspiels zwischen den Darstellern und den Allerkleinsten heraus. Ein Spannungsbogen in den Aktionen sei nur zu halten, wenn die Darsteller „unbedingt glaubhaft“ aufträten. (165) Es habe Frenzel beeindruckt und „sehr berührt, dass Zweijährige die Ehrlichkeit schon spüren, die Wahrhaftigkeit auf der Bühne.“ (165) Dazu bedürfe es einer „wahnsinnige[n] Anstrengung“ und man müsse „absolut bei sich bleiben […]. Man darf nichts markieren. Die Kleinen sind das Publikum, das einen am stärksten fordert, eigentlich das schönste, aber auch das härteste, weil sie ehrlich sind. [Zustimmung von den anderen Schauspielern] Da lernen wir von ihnen.“ (166)
Dass diese Behauptung im Gegensatz zur vorher aufgestellten Forderung von Kirstin Hess steht – „Wenn man wirklich arbeitet und nicht so tut als ob man etwas täte. Das erfordert vom Spieler hervorragendes Schauspielhandwerk[!], aber genauso ein hohes Maß an Konzentration, große Durchlässigkeit und hohe Sensibilität dem Publikum gegenüber.“ (161) Schauspiel oder Ehrlichlichkeit, dieser Widerspruch wird leider wegen der fehlenden redaktionellen Kooperation einem Diskurs nicht zugänglich gemacht.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs wird mehrmals eindringlich darauf hingewiesen, unbedingt das Bewerten zu unterlassen – auch eine stoisch vorgetragene Forderungen von Künstlern – obgleich sie sich selbst nie daran halten. Hinter diesem paranoid schillernden Dogma wird zuweilen vermutet, dass es auf der eigenen Vita fußt, auf schlechten Bewertungen in der eigenen Schulzeit, die nicht aufgearbeitet wurden.
Zahlreiche Gespräche, die ich mit Künstlern führte, untermauern diese Annahme.
Geesche Wartemann
Wechselspiele. Die Inszenierung des Theaterrahmens und die Fragilität der Spielvereinbarungen im Theater für die Allerkleinsten. Beobachtungen zur Produktion »Holzklopfen« des Helios Theaters
Der Vortrag der Juniorprofessorin für Kinder- und Jugendtheater Dr. Geesche Wartemann beschäftigt sich mit der These, dass das „Wechselspiel zwischen Darstellern und Zuschauern […] Zentrum einer Erfahrung kollektiver Kreativität [ist], das im aktuellen Diskurs von Theaterwissenschaftlern und Theaterpraktikern immer wieder als besondere Qualität des Theaters hervorgehoben wird.“ (174)
Auf der Grundlage dieser These formuliert sie die folgenden Fragen: „Um zu beschreiben, wie die potentielle Qualität des Theaters als Erfahrungsraum von Gemeinschaft zur Entfaltung kommen kann, bedarf es also einer genaueren Reflexion der jeweiligen Bedingungen und Inszenierungsstrategien. Mit welchen Verfahren wird eine Teilhabe und produktive Rezeption der Zuschauer in besonderer Weise ermöglicht bzw. verhindert? Welche spezifischen Strategien und Spielvereinbarungen befördern das Wechselspiel zwischen Künstlern und Kindern bis zu drei Jahren?“ (175)
Sie stellt fest, dass „in einem Theater für Kinder bis zu drei Jahren […] die Künstlerinnen hier oftmals ohne genaue Kenntnisse über Bedürfnisse und Fähigkeiten ihres Publikums an[treten]. Was kennen, was können und was interessiert diese allerkleinsten Zuschauer?“ (175-176)
Mit dieser Frage fällt sie allerdings hinter die bereits beschriebenen Erkenntnisse einiger vorab gedruckter Beiträge zurück, und der Leser ist verärgert über die wenig leserfreundliche Chronologie der Sammlung.
Wartemanns Vortrag mit grundlegenden erkenntnisleitenden Fragen sollte am Anfang einer solchen Textsammlung stehen, die beansprucht, eine „Vielzahl von Perspektiven auf das Theater für die Allerkleinsten zusammen [zu führen]“ (13) und die Frage zu beantworten, „wie eine Aufführung für sehr junge Kinder aussehen kann.“ (13)
Wartemanns Fazit lautet: „Es gibt hierauf keine allgemeingültige Antwort. Es liegt im Ermessen der Theatermacher, wie stark sie die Aufmerksamkeit ihres Publikums fokussieren wollen oder welche Formen sie finden, auch individuellen Reaktionen Raum zu geben. Wenn sie sich einerseits dazu entscheiden, das Bühnengeschehen nicht hermetisch von den Vorgängen im Auditorium abzuschließen und andererseits auch die Auflösung der Rollenverteilung von Darstellern und Zuschauern ablehnen, dann gilt es mit jeder Inszenierung und mit jeder Aufführung das Spannungsverhältnis von Spielvorgabe und Spieloffenheit immer wieder neu auszuloten.“ (184)
Sinje Kuhn
Partizipation im ›Erlebnisgarten‹ des Theaters für die Allerkleinsten
Kuhn beschreibt anhand der „theatralen Installation ‚Garten der Möglichkeiten’“ (187) des französischen Künstlers Benoît Sicat „partizipative Strategien im Theater“ mit den Allerkleinsten. (188)
Dabei werden die Kinder mit ihren Eltern von einem „Performer“ angeleitet mit dem ausgelegten Material und miteinander zu spielen.
Die penetrante Wiederholung des Wortes „Aufführung“ und weiterer Theatervokabeln von Kuhn macht das beschriebene angeleitete Spielen von Kleinkindern und Erwachsenen aber noch nicht zu Theater.
Was hier beschrieben wird, ereignet sich in vielfältigsten Formen seit Jahrzehnten in Kitas und Waldkindergärten unter fachgerechter Anleitung von ausgebildeten Pädagogen. Sie kämen aber nicht auf die Idee ihre professionelle pädagogische Kinderbetreuung als Theater zu bezeichnen (vgl. auch Meyer-Keller, Eva/ Müller, Sybille 2014).
Ein unkorrektes Labeling solcher Art schadet einem ernsthaften Bemühen um das Vorbereiten(!) und Heranführen(!) von Kindern – und um nichts Anderes handelt es sich bei Kleinkindern – an ästhetische Formungen und theatrale Gestaltung; ebenso das Bemühen um eine wissenschaftlich haltbare Definition kultureller Bildung mit den Mitteln des Theaters.
Silvia Brendenal
Fragmentarisches Nachdenken über das Theater für Ganzkleine
Silvia Brendenal, künstlerische Leiterin der Schaubude Berlin, beschreibt am Beispiel der Inszenierung „CouCou“ der Compagnie Jardins Insolites, dass für die Allerkleinsten zunächst ein Theater eben FÜR die Allerkleinsten ist, und das Moment der Partizipation nur ein nachgelagertes sein kann. Insofern spielen Schauspieler einem Publikum etwas vor, geben Impulse und Anregungen durch ihre besondere Art der Darstellung und benutzen theatrale Mittel: „In einem eine Clownsfigur assoziierenden Kostüm betritt die Spielerin den intimen Bühnenraum, stellt den ersten vorsichtigen Kontakt mit ihren kleinen Zuschauern her und beginnt dann ein verwirrend schönes Spiel der Verwandlungen. Der rote Stoff wird zu einem Regen aus roten Papierschnipseln, eine Kugel wandelt sich in eine Träne, hinter einem dunklen ›Nacht-Tuch‹ versteckt sich eine Fliege, der Atem des Windes greift in eine Rolle aus seidenem Stoff, formt Wellen, Möwenschreie begleiten uns hinaus aufs offene Meer.“ (193)
Kern der Darstellung ist demzufolge eine Mimesis in einem metaphorisch und symbolisch agierenden Referenzsystemen, in dem sich vielleicht die erwachsenen Begleitpersonen auskennen, nicht aber die Allerkleinsten. Für die ist es ein Spielen mit Materialien, kein Theater.
Die Aktionen der Künstler mit den theatralen Mitteln von Raum und Zeit zielten „genau auf das Phänomen Wahrnehmung – mit allen Sinnen.“ (194)
Sie kreierten einen Freiraum „für direkte oder indirekte Interaktion. […] Distanz verwandelt sich in ein kommunikatives Verhältnis aus Nähe und Distanz. Die vierte Wand wird zwar nicht überwunden, wohl aber durchlöchert, denn Spieler und Zuschauer haben unmittelbaren Kontakt.“ (195)
Dieser Freiraum definiere sich als „ein gemeinsames Spiel mit nur wenigen bekannten Größen: dem Mut zum Wagnis (auf beiden Seiten), der Neugier auf gemeinsame Entdeckungen, dem Vertrauen in die Kreativität des jeweils anderen.“ (195)
Den Zugang zu den theatralischen Vorgängen schafften sich die Künstler über die sie interessierenden Themen, Materialien, Objekte oder auch über ihre didaktischen Ambitionen.
Brendenal beschreibt am Beispiel der Inszenierung »Holzklopfen« im Helios Theater, wie Naturmaterialien als Anregungen für spielerisches Erkunden genutzt wurden. Die gesamte Bühnenfläche wurde mit Erde bedeckt, das naheliegende Thema des Wachsens und Gedeihens gewählt. „In seiner Inszenierung machte es Holz zum szenischen Grundmaterial. Aus ihm entstehen Figuren, Menschen und Tiere. Holz gibt hier den gesamten theatralischen Kosmos vor, denn es fungiert nicht nur als Baustoff oder Klangkörper, sondern seine Späne bilden auch jenen Ur-Teppich, in dem der Mensch durch sein Tun Spuren hinterlässt, in dem er langsam und stetig seine Bahnen zieht.“
Der kundige Leser erkennt weitgehende Parallelen zur der Arbeit von modernen Waldkindergärten mit professioneller Expertenbetreuung und fragt sich: Warum die kleinen Kinder Erde in einem Theatergebäude erkunden sollen und nicht sinnvollerweise erstmal draußen in der Natur, um dort Primärerfahrungen machen zu können? Worin liegt der Sinn eines „Kunst“-„Events“, kleinen Kindern die Natur zuerst in einer künstlichen Welt zu zeigen? Warum soll eine artifizielle metaphorisch-symbolische Gestaltung (Theaterkunst) vor die logisch-evolutionäre, spielerisch-experimentelle Welterkundung geschaltet werden? Sollte nicht genau dieser Übergang zum Thema von Kultur und Kunst gemacht werden? Wie wird aus spielerischem selbstbezüglichen Welterkunden der Kinder kulturelle Arbeit als bewusstes künstlerisches Gestalten mit Anderen und letztlich für Andere?
Wie wäre nach solcherlei Fragen das Fazit von Brendenal zu rechtfertigen, „dass sich auch das Theater für Ganzkleine nur über seinen Kunstanspruch definieren kann und muss.“? (199)
Eine Feststellung: „’Aber es ist doch schön, wenn nach dem Vorstellungsbesuch Großvater und Enkel eine Geschichte haben, die sie nachspielen oder nachzeichnen können.’“ (196) mag ein schönes Ergebnis einer Aufführung bzw. von gemeinsamem Spielen sein.
Die Dichotomie zwischen didaktischem Anspruch und Kunst wird hier aber nicht verhandelt und sichtbar gemacht bzw. das Synergetische nicht ermittelt.
Das ist sehr schade, denn Brendenals Beschreibung enthält – eher implizit – konstruktive Ansätze dazu, in welcher Weise die didaktische Konzeption des künstlerischen Lernsettings deutlich wird. Das Welterkunden, insbesondere der Kleinen, ist ein komplexer chaotisch-experimenteller Lernprozess, in dem die Erwachsenen, die bereits klug gewordenen, Vorbildfunktion und wegweisende Autorität besitzen. Dies wird auch in den noch folgenden Beiträgen von Priester und Haass/ Herrera/ Libnau deutlich herausgearbeitet. Insofern haben sie eine Orientierungsfunktion und können Erkundungs-Räume für die Kleinen bereitstellen oder sie dorthin locken (z.B. in den Wald) und gezielt Anregungen, Aufgaben geben und sie instruieren, wie sie womit zunehmend selbstständig handelnd Umgebung und Material in einem ersten Schritt erkunden und in einem zweiten Schritt (künstlerisch) gestalten können. Arbeitsergebnisse werden anschließend präsentiert und vorgespielt; möglichst interaktiv und gemeinschaftsstiftend. Dann erst kann es zu Theater werden und zu einem Theater-Fest.
Eltern, Gemeinschaft und Fest
Elisa Priester
Der Erwachsene im Produktionsprozess »Holzklopfen«: Rollen und Funktionen des Begleiters innerhalb der theatralen Kommunikation
Priester setzt sich mit der Rolle der erwachsenen Begleiter auseinander. Sie beschreibt die Probleme, die in Aufführungen auftreten, wenn die Kleinen diese durch ihr natürliches Verhalten „stören“. Es ginge um einen Balanceakt zwischen der klassischen Aufführung eines Stückes vor Publikum und einem Mitspiel-Angebot. Dabei wäre es wichtig: „Den Erwachsenen aus einer rein erzieherischen Haltung zu lösen und das Miteinander von Kindern und Erwachsenen als Publikumsgemeinschaft zu stärken.“ (211)
Auch hier wird offensichtlich, wie in zahlreichen anderen Beiträgen auch, dass ein ungeklärtes Verständnis von Erziehung und Pädagogik in nicht nachvollziehbarer Weise in Opposition gesetzt wird zu einem „Miteinander von Kindern und Erwachsenen“.
Wilma Haass, Marcela Herrera, Nicole Libnau
»Ich bin sehr gerne hier, weil ich hier Zeit zum Entspannen habe.«
Baby Tanz Fest – Musikalische Begegnung von Babys, Eltern und Künstlern
Das hier vorgestellte Baby-Tanz-Fest-Konzept soll „die körperliche und mimische Ausdrucksfähigkeit der Kinder fördern.“ (219)
„Das Baby Tanz Fest ist in seiner ästhetischen Ausgestaltung nach bisherigen Erfahrungen des ganzen Projektteams hervorragend geeignet, Wahrnehmung, Körperbewusstsein und die körperliche Ausdrucksfähigkeit von kleinen Kindern zu unterstützen. Die Entwicklung des Körpers und der Sinne sind Voraussetzung für geistige Prozesse. Über Körper- und Augenkontakt entsteht eine intensive Kommunikation zwischen Eltern und Kind. Die Bindung zwischen Kind und Eltern wird gestärkt wie auch die Bindungsfähigkeit des Babys generell. […] Das Kinderhaus Neckarstadt-West möchte das Baby Tanz Fest als kontinuierliches Angebot in den Krippenalltag integrieren.“ (222)
Ein konstruktiver Impuls dieser Art sollte in Form von dauerhaften qualifizierten Fortbildungsangeboten für Kita-Personal weitergeführt werden, damit solche didaktisch hervorragend strukturierten Lernangebote im Bereich der kulturellen Bildung und in Zusammenarbeit mit möglichst professionellen Künstlern aller Art und pädagogischen Fachexperten keine einmaligen Event-Erlebnisse bleiben, sondern grundlegende Bausteine kultureller Bildung für alle Kinder werden.
Petra Paula Marquardt
Das große Lalula. Theater von Anfang an als schönes Erlebnis auf der Basis
von spielerischer, symbolischer und festlicher Interaktion
Marquardt, Diplom-Pädagogin und Diplom-Sozialpädagogin, sucht nach einer auf anthropologischer Basis gegründete Antwort auf die Frage nach dem Theater für die Allerkleinsten: „Was gibt es für uns heute, hier und jetzt gemeinsam zu feiern?!“ (238) Sie bezieht sich dabei auf Gadamer, der „die ‚menschliche Grunderfahrung von Kunst, als eine alle Grenzen von unterschiedlicher Herkunft und Bildungsvoraussetzungen überscheitende Möglichkeit der Aussage und der Kommunikationsstiftung’ erachtet (vgl. Gadamer 1977: 66).“ (237)
Es gehe darum, Theater wieder in seinen basalen Formen zu entdecken: Ziel sei es, so Marquardt, zuerst ihre „theoriegeleitete Herangehensweise auf anthropologischer Basis zu erläutern, um im Weiteren, mit Blick auf die Ursprünge und die wesentlichen Elemente der Theaterkunst, mögliche Bildungsimplikationen zu betrachten.“ (226)
Dies ginge „gerade nicht über eine vorrangig pädagogische Betrachtung“. Theater müsse in seinen Anfängen bzw. seinen rituellen und kultischen Ursprüngen im Rahmen kultureller Praktiken zur Bildung menschlicher Gemeinschaften betrachtet werden.
In Bezug auf „Kunst“ und „Schönheit“ seien für Gadamer “Spiel“, „Symbol“ und „Fest“ zentrale Begrifflichkeiten. Über deren heuristische Qualität ließen sich Kategorien bilden, „mittels derer sich Theater für die Allerkleinsten als Kunstform und zugleich als soziales Ereignis mit seinen kulturellen und pädagogischen Implikationen beschreiben“ ließe. (227)
Marquard fokussiert in einer Weise, wie es in den anderen Beiträgen des Sammelbandes kaum oder gar nicht geleistet wird und was Grundvoraussetzung für das Verständnis für Kleinkinder und ihre Weltwahrnehmung ist, welche menschlichen Qualitäten und Kompetenzen überhaupt bei ihnen vorhanden sind. Ohne diese Erkenntnis mündet das Spielen mit ihnen und das Theaterspielen für sie – wie es in zahlreichen Beiträgen beschrieben ist – in jahrelanges Herumsuchen, Herumwerkeln und Herumexperimentieren. Ein wenig Literaturrecherche, ein gutes Sachbuch über die psychodynamische Entwicklung von Kleinkindern hätte so manchem „Künstler“ langjähriges dilettantisches Herumsuchen und das Benutzen der Kindern als Versuchskaninchen möglicherweise ersparen können. „Wer an der Altersgruppe nicht interessiert ist, darf auch kein Kinder und Jugendtheater machen.“, heißt es im Jahrbuch 2018 für Kinder- und Jugendtheater der ASSITEJ Deutschland auf Seite 15 zurecht.
Marquard zeigt, wie es geht. Übrigens wieder ein Beitrag, der an der falschen Stelle, am Ende des Buches, platziert ist. Dieser Beitrag, an den Anfang gesetzt, hätte zahlreiche folgende Redundanz-Beiträge und solche mit geringem bzw. keinem Erkenntniswert überflüssig gemacht und die Aufmerksamkeit des Lesers besser gebunden und den Nutzwert des Buches deutlich erhöht.
Nach Marquards Erkenntnis, „zeichnet das junge Publikum im Theater für die Allerkleinsten eine spezifische Qualität und Authentizität in seinem Rezeptionsverhalten aus, die zum einen natürlich daher rührt, dass es noch wenig Konventionen in Form von ‚Benimmregeln’ für die soziale Situation ‚Theater’ verinnerlicht hat, zum anderen aber wesentlich alters- und entwicklungsbedingt zu erklären ist.“ (229) Sie konstatiert bei den Allerkleinsten im Theater eine „Art ‚Fließgleichgewicht’ zwischen ‚Spannung und Entspannung’, zwischen ‚neugierigem Erkunden und Sicherheitsbedürfnis’, zwischen ‚selbstentrücktem Staunen und motorischen, taktilen und verbalen Impulsen zur erneuten Selbstvergewisserung’ für das Rezeptionsverhalten.“ (229)
Vergleichbar mit einem natürlichen Rhythmus von Ein- und Ausatmung beobachte Marquard häufig, „wie Kinder gebannt, mit großen Augen und mit hoher Körperspannung aufrecht sitzend das Geschehen auf der Bühne verfolgen, bis plötzlich, ohne dass hierfür äußere Faktoren auszumachen wären, diese Spannung in sich zusammenbricht, der Blick, die Aufmerksamkeit abgezogen wird, der Körper sich mit großen Bewegungen lockert und zugleich stimuliert, die Beine strampeln, die Füßen laut auf den Boden klopfen, das Kind sich dreht, auf dem Rücken oder Bauch landet. Das Kind steigt aus und steigt aber wenig später genauso fließend wieder in seine auf das Bühnengeschehen gerichtete Aufmerksamkeit ein. Ähnliches gilt auch für die häufig zu beobachtende Pendelbewegung der Kinder zwischen dem Bühnenraum und den Bezugspersonen.“ (229)
Einerseits sei die Tendenz zu beobachten, dass die Kinder nach vorne strebten, in den Kontakt mit den Spielern/innen gingen und die Bühne, die Objekte und Materialien mit allen Sinnen erkunden wollten. Anderseits aber zeigten sich immer wieder ihre suchenden Blicke nach hinten, eine tastende Hand zur Mutter, ein sich Ankuscheln an die Bezugspersonen, nicht selten auch ein laut weinender Aufbruch rückwärts, wenn die erwachsenen Begleiter den Kindern zu weit entfernt erschienen.
Marquard folgert auf der Basis dieser Wahrnehmungen, dass dieses Verhalten der Kleinkinder bislang häufig als Störung bzw. als Unaufmerksamkeit gedeutet wurde. Es sollte aber offener und wertungsfreier aufgenommen und als funktionaler Vorgang im selbst gesteuerten Rezeptionsverhalten der Kinder betrachtet und bereits im Produktionsprozess berücksichtigt(!) werden.
Dies ist eine äußert wertvoller Hinweis für die Kindertheatermacher. Ihn zu berücksichtigen und zu beherzigen würde ihre Arbeit sehr viel zielorientierter und effizienter machen bezogen auf das, was sie für und mit den Kindern machen wollen.
Melanie Florschütz und Michael Döhnert im Gespräch mit Gabi dan Droste
Da-lacht-das-kleine-Kind (:)
Im letzten Beitrag wird die arrogante Haltung von einigen Künstler beispielhaft deutlich, wenn klar und apodiktisch und abfällig zum Ausdruck gebracht wird, das man sich nicht umfassend informieren will über den Kontext, in dem man professionell unterwegs ist: „Vielleicht gibt es das: eine Technik für ‚Da-lacht-das-kleine-Kind’. Das interessiert mich nicht.“ (241) Diese öfter anzutreffende Ignoranz für das, was man selbst teilweise relativ engstirnig als Kunst bezeichnet bzw. für sich selbst definiert, führt dann zwangsläufig dazu, dass „alles Mögliche ausprobiert“ (241) werden muss und sich die Arbeit, offensichtlich auch aufgrund mangelnder Sachkenntnis an einer Inszenierung „über mehrere Stückfassungen und einen Reflektionsprozess von fast zwei Jahren erstreckt.“ (241) Das ist nicht damit zu erklären und schon gar nicht zu rechtfertigen, dass man natürlich auch Einfälle ausprobieren und kreativ experimentieren sollte. Aber bitte auf der Basis von umfassender Sachkenntnis, womit man es zu tun hat. Hier hat die Freiheit von Kunst nichts mehr mit freier kreativer Entfaltung zu tun, sondern muss als unprofessionelle und engstirnige Arbeitsweise beschrieben werden. Das indirekte Eingeständnis der beiden zu Wort kommenden Künstler erfährt der Leser am Ende des Interviews, wenn sie die Kinder während ihrer Aufführungen als „Prüfungskommission“ für ihre Arbeit beschreiben. Das mögen manche Künstler nicht, dass man sehr genau auf ihre Arbeit schaut, wie es Kinder tun, und das ehrlichste Feedback der Welt geben.
Wenn man das von Anfang weiß – ein gutes Sachbuch darüber würde schon reichen und ein paarmal Kindern beim Spielen hochaufmerksam zuschauen – dann weiß man auch, wie man (s)einem Publikum zu begegnen hat. Über die Kompetenzen von Kleinkindern haben bereits 2007 interessante Studien Auskunft gegeben: „Kleinkinder sind außergewöhnlich gut in so ziemlich allem, wofür man mehr als eine Person braucht, also zum Beispiel in Zusammenarbeit, Verständnis oder Informationsaustausch. Schon Babys haben soziale Fähigkeiten, die fast jeder andere Spezies in den Schatten stellen. Und das, obwohl sie sonst so gut wie nichts können. Sozial gesehen haben sie alle möglichen Talente: auf Emotionen reagieren, Menschen imitieren, Menschen auseinanderhalten und vor allem: Menschen dazu bringen, Dinge zu tun. […] Die Theorie dazu heißt Soziale-Intelligenz-Hypothese.“ Parianen (2017: 196-197) bezieht sich dabei auf die Studie von Herrmann u.a. 2007.
Die Regisseurin Franziska-Theresa Schütz gesteht offen ein, dass sie „großen Nachholbedarf in der Theaterpädagogik hatte, ich musste lernen, was da alles möglich ist.“ Sie findet es „gut, wenn man das alles in die Ausbildung von Künstler_Innen integrieren würde.“ (Jahrbuch 2018: 16)
Den Unterschied zwischen den Allerkleinsten und beliebigen Erwachsenen als Publikum erkennt man dann nur noch als graduell.
Dass Kinder gerne spielen ist eine Binsenweisheit. Und dass sie sich beim Spielen natürlich und zwangsläufig auch gegenseitig anschauen auch. Das allerdings macht ihr Spielen noch nicht zu Theater, auch wenn deren Tun gehäuft wortreich das Etikett „ästhetisch“ aufgeklebt wird. Hier wünscht sich der Leser mehr Trennschärfe in Beschreibung und Begriffsbildung.
Ärgerlich in den redaktionell nicht bearbeiten Beiträgen der 25 Autoren sind die häufigen Wiederholungen von längst Bekanntem und erstaunlich der häufige Rekurs auf Erkenntnisse der Pädagogik und Erziehungswissenschaften, die im ästhetischen Diskurs häufig als die Freiheit einengend, anti-emanzipativ und der Arbeitsform der Kunst zuwiderlaufend abgelehnt werden. Umso so überraschender die Feststellung der Parallelen zwischen dem Theater der Allerkleinsten mit bestimmten Formen postdramatisch-performativer Arbeitsweisen.
Vielleicht entwickelt sich daraus nun endlich ein ehrlicherer Diskurs, der die Forschungslücke des Zusammenhangs zwischen Kunst und Pädagogik konstruktiv weiterentwickelt und nicht das Eine gegen das Andere auszuspielen versucht.
Hilfreich – wie bereits angemahnt – wäre eine sorgfältige redaktionelle Arbeit, die die Beiträge von Sammelbänden (übrigens ein häufig anzutreffender Mangel) diskursartig vernetzt und die Autoren klarer auf bestimmte Aspekte verpflichtet, sodass der Leser nicht gelangweilt und genervt ist, weil er z.B. zum x-ten Male bestimmte historische Entwicklungslinien des Theaters serviert bekommt, weil Autoren ähnliche Positionen akkumulativ und unvermittelt (sprich: redaktionell nicht bearbeitet) vortragen usw.
Es schmälert leider den Erkenntniswert-Nutzen solcher Sammlungen, weil sich der Leser durch viele Seiten durchquälen muss, bis er – vielleicht – auf einen wirklich neuen Gedanken, eine Inspiration oder gar eine Erkenntnis stößt.
Hier rächt sich vielleicht auch in Bezug auf eine fehlende stringente Erkenntnisgewinnung die Entscheidung der Festlegung, dass an jedem Projekt-Ort „selbst über die Art und Weise der Durchführung“ entschieden werden durfte, und es offensichtlich demzufolge keine Festlegung gemeinsamer wissenschaftlicher Standards gab. (11)
Weiterführendes
- ASSITEJ (Hg) 2018: Jahrbuch 2018 für Kinder- und Jugendtheater. Berlin: Theater der Zeit > Rezension
- Herrmann, E. u.a. 2007: Humans have evolved specialized skills of social cognition: the cultural intelligence hypothesis. Science 317, 1360-6
- Kerstan, Thomas 2017: Schlechte Lehrer, schlechtere Schüler. Zeitonline vom 27.12.2017 > http://www.zeit.de/2018/01/bildung-lehrer-qualitaet-leibnitz-institut-studie
- List, Volker/ Pfeiffer, Malte 2018: Kursbuch Darstellendes Spiel. Neubearbeitung. Stuttgart Klett
- List, Volker 2016: Herausforderung, Überforderung, Hyperforderung – Wie lernt man Kunst?
- List, Volker 2017: Potenzialentfaltung im Theater-Unterricht
- Meyer-Keller, Eva/ Müller, Sybille 2014: Zerstörungsphantasien mit Sahne. Gedanken über die Zukunft. In: Primavesi, Patrick/ Deck, Jan (Hg) 2014: Stop teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript: 185-193. > Rezension
- Parianen, Franca 2017: Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage? Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
- Weidemann, Gisela (Hg) 2010: Jetzt machen wir Theater! Troisdorf: Bildungsverlag EINS. > Rezension
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