Frenzel, Günter/ Wenzel, Karl-Heinz 2019 (Hg): Spiel & Theater Nr. 204 Oktober 2019. Weinheim, Deutscher Theaterverlag. 50 Seiten – Rezension
Es ist nicht einfach, das Herstellen bzw. Konstruieren – oder sollte man besser sagen: das Komponieren – der hochkomplexen Kunstform Theater plausibel und stringent auf wenigen Seiten zu beschreiben. Und um noch etwas schwieriger dürfte das Beschreiben der Fähigkeit sein, die Kunstform Theater im Rahmen kultureller Bildung als Theater zu unterrichten.
Im neuen Heft Spiel & Theater gelingt das in vier Beiträgen in einer Weise, wie man es bisher nur selten lesen konnte. Aus diesem Grund werden diese herausragenden Beispiele hier vorgestellt.
Wie in allen Kunstformen, ja eigentlich in nahezu allen Bereichen menschlicher Tätigkeiten, ist die Voraussetzung für das Gelingen einer zielorientierten Tätigkeit die Beherrschung des dafür notwendigen Handwerkszeugs. Lästermäuler sagen, es bräuchte auch noch ein wenig Inspiration: ca.10%. 90% seien Transpiration, also Anstrengung, Fleiß, Beharrlichkeit und natürlich die Beherrschung der jeweils grundlegenden Fertigkeiten. Und Schule, daran sei immer wieder erinnert, hat die grundlegende Aufgabe der Allgemeinbildung und damit den Auftrag, dafür zu sorgen, dass Schüler Grundlagen-Kompetenzen erwerben, kein überspezialisiertes Fachwissen oder bezogen auf das Fach Theater/ Darstellendes Spiel, keine Schmalspur-Schauspielausbildung zu absolvieren haben. Dass das nicht eintritt, dafür sorgen bereits eingeführte Curricula.
Inhalt des Heftes
02 Sabrina Bohl – Von Außen das Innen gestalten
06 Thomas Sander/ Margit Lang – Wir schaffen das!
11 Stephan Engelhardt – „Die Hamletmaschine“ – 1. Teil
15 Christian Reick/ Cornelia Kupferschmid –
Die Arbeit an einem Kleingruppenprojekt
20 Sandra Hartung – „Die Dörfler“ aus Düsseldorf erheben ihre Stimme
24 Ingund Schwarz – Junior-Assistenz Theater
26 Erika Spalke/ Ulrike Knospe – „Jetzt stehe ich vorne!“
29 Günter Frenzel – Interview: Auf’s Neue – Die Ausbildung zum Theaterlehrer
32 Kurzinformation
33 Friedhelm Roth-Lange – Jugendclubtreffen 2018: MAKE LOVE NOT FAKE!
35 Ina Driemel/ Kristina Stang – Fake, Fakten und Fiktionen
38 Thododas Daihastos – Tradition auf Höhe der Zeit
41 Kurzinformation
42 Aus den Landesverbänden
46 Schul- und Jugendtheaterfestivals
48 Autoren/ Impressum
02 Sabrina Bohl – Von Außen das Innen gestalten
Sabrina Bohl gibt in ihrem Beitrag nachvollziehbar und konkret einen Einblick in die Tätigkeiten einer Dramaturgin im professionellen Theaterbusiness. Sie schafft es, obgleich sie aufgrund ihrer Stellenbeschreibung in nahezu alle Bereiche z.B. eines Stadttheaters einbezogen ist, und Zersplitterung droht, den Fokus ihres Blicks auf ihre Arbeit im Kerngeschäft zu richten: Die Begleitung der Herstellung von Theaterkunst als „erste“ Zuschauerin, Beraterin und Kontrolleurin der Regieführenden. Insofern geben ihr für ihre Arbeit einige zentrale Fragen Richtschnur und Leitplanken: „Am Anfang einer jeden Theaterarbeit, egal ob anhand eines schon bestehenden Textes oder eines selbst ersonnenen Projektes stehen zwei grundsätzliche Fragen: Was/ wovon möchte die Regie erzählen und auf welche Art und Weise soll dieser Inhalt verhandelt werden. Es mag banal klingen, aber die gelungene Setzung von Form und Inhalt und ihrem Verhältnis zueinander ist meistens der ausschlaggebende Punkt, bzw. das, was am meisten Arbeit bereitet und in den Proben auf den Prüfstand zu bringen gilt.“ (3) Da sind in der Tat die zentralen Fragen einer jeden Didaktik (vgl. List 2018: Die Kunst Theater zu lehren).
Als Dramaturgin bedeutet das, jede Probe kritisch zu begutachten und sich in der Kunst zu üben, „sich selbst zu beobachten: an welchen Stellen war ich amüsiert?“ Wann steigt man aus, und woran könnte das gelegen haben? Reichen geringe Änderungen bei einer theatralen Technik des Sprechens (lauter oder leiser) oder erzeugen kleine methodische bzw. dramaturgische Veränderungen stärker eine beabsichtigte Wirkung beim Publikum, z.B. zeitliche Kürzungen oder Veränderung einer Abfolge.
Und immer wieder Fragen an die Regie: „Bleibt man beim Thema? Gibt es eine unerwartete Wendung im Verlauf des Stückes oder ist vieles absehbar? Was hatte/hätte ich mir beim Thema als Zuschauerin erhofft oder erwartet bevor ich das Stück gesehene habe? Was überrascht mich im Moment des Sehens, wenn ich ausblenden kann, dass ich natürlich kognitiv schon wusste welche Szene kommen würde? Gibt es Brüche oder fließende Übergänge von einer Szene zur nächsten? Werden Erwartungen unterlaufen? Bleibe ich als Zuschauer/in mit einer Sehnsucht nach Mehr zurück oder beim Überdruss des Zuviel? Wird musikalisch, visuell, inhaltlich auf allen Ebenen gerade dasselbe erzählt oder wird auch Spannung hervorgerufen indem eine der Komponenten gegenläufig gestaltet wurde? Wo entstand Reibung, Unerwartetes? Gab es einen Konflikt der mich interessiert hat?“ (4, 5)
Bohl offenbart aus ihren Erfahrungen die Erkenntnis: „als Dramaturg/in lernt man vor allem aus Erfahrung.“ (5) Mit einer unbedingten Forderung schließt sie ihren Beitrag, und zwar sich „auszutauschen mit anderen Seherfahrungen, um das eigene Beschreibungsvokabular zu erweitern.“ (5) Das alles gilt ungekürzt für Theater-Lehrkräfte und dem ist nichts hinzuzufügen. Ein Artikel, den man mit großem Gewinn liest. Kompetent und ehrlich und ohne vermeintlich theoretisches Wortkunstgewölle, wie man es zu häufig aus bestimmten universitären bzw. Künstler-Kreisen zu lesen bekommt.
06 Thomas Sander/ Margit Lang – Wir schaffen das!
Das Autorenteam Sander/ Lang zeigt, wie Bohl in ihrem Artikel über professionelles Theater, nun für das Amateurtheater bzw. Schultheater ebenfalls in plausibler und konkreter Form am Beispiel einer Stückentwicklung, wie bedeutsam die dramaturgische Kompetenz der Theater-Lehrkräfte ist und worin diese besteht.
Erfrischend zu lesen bei Sander/ Lang der fachlich kompetente Umgang mit postdramatisch-performativen Spielweisen. Keine Verabsolutierung der sog. Dekonstruktion, sie sprechen von „Neukonstruktion des Materials“ (6), keine Unterwerfung unter „performatives Bekenntnistheater“ (6) und konsequente Vermeidung von „Beliebigkeit im Stückeaufbau“ (6) gegen die Enthierarchisierung der theateralen Mittel und der Verzettelung in Beliebigkeit. Stattdessen konsequente Anwendung der theatral-ästhetischen Techniken und der Kompositionsmethoden. Und konsequente Suche nach einem stimmigen Zusammenwirken von Thema, Wirkungsabsicht und Formensprache. Das bedeutet, in den Versuchen von darstellerisch-szenischen Entwürfen zu kontrastieren, zu konfrontieren, zu demontieren, zu parodieren, satirische zu überspitzen, zu stilisieren und zu verfremden, so wie es Wagener bereits in den 1990er Jahren für das Amateur- und Schultheater prägnant auf den Punkt gebracht hat (vgl. Waegner, Heinrich 1994: Theaterwerkstatt. Von innen nach außen – über den Körper zum Spiel. Stuttgart: Klett). Es bedeutet zu abstrahieren und im leeren Raum Atmosphäre durch das Spiel zu erzeugen. Auch alle technischen Mittel müssen kritisch auf ihre Funktionalitäten untersucht werden und dürfen nicht unreflektiert, quasi beliebig, eingesetzt werden. Kompositionsmethoden (Kontrast, Steigerung, Bruch, Wiederholung, Variation usw.) sollen immer zielgerichtet ausgewählte werden. „Das körperliches Spiel […] sollte primärer Emotionsträger bleiben.“ (8)
Sander/ Lang listen 16 Einzelpunkte auf, die ihnen helfen, ihr „oberstes Ziel“ zu erreichen: „Beliebigkeit im Stückeaufbau zu vermeiden“ (8) Sie zeigen, die Herstellung von Theaterkunst mit Amateuren ist kein Hexenwerk, sondern (überwiegend) fundiertes Handwerk.
11 Stephan Engelhardt – „Die Hamletmaschine“ – 1. Teil
Stephan Engelhardt liefert ein weiteres herausragendes Beispiel für eine besonders einfühlsame Gestaltungskompetenz in Bezug auf die Kreation von ästhetischen Lernsettings für Schüler, und das auch noch an schwerem Material. Es geht darum, so Heiner Müller, „in seiner Hamletmaschine, wie die unbewussten Wünsche der Individuen die Realität einer Gesellschaft erschaffen und im Gegenzug dazu die Verhältnisse der Gesellschaft fortwährend unstillbare Wünsche erzeugen.“ (11) Ein Menschheitsthema.
Engelhardt zerlegt die Textvorlage in immer kleinere Einheiten. „Zu diesen Passagen wurden verschiedene Gefühle, zu den Gefühlen Körperhaltungen gefunden. Aus den Positionen wurden Bewegungen – aus dem Sitzen ins Stehen, durch den Raum in eine neue Position. Es ergaben sich Pausen, in denen sie sich setzten und eine neue Position einnahmen. Sie sprachen gemeinsam, nacheinander oder jede für sich, so entstand aus der Bewegung im Raum eine Choreographie. Aus den geschriebenen Worten war eine gesprochene Sprache, ein körperlicher Vorgang, ein physisches Ereignis im Raum geworden.
Ganz konkrete Vorgänge wie Gehen, Zeigen, Reden mussten dafür von ihrer Nützlichkeit befreit werden, als performative Ausdruckmittel wurden sie zu Zeichen, die eine neue Bedeutung erhielten. […] Aus dieser Haltung der Ahnungsvollen Erwartung [5, p. 187] entstanden kleine imaginierte Szenen mit einem Anfang und einem Ende, die den Text als symbolisches Drittes mit dem persönlichen Unbewussten zu einer theatralen Erzählung verbanden.“ (12) Erforschung theatraler Mittel at it‘s best. Trial & error im Dienste der Suche nach einem stimmigen ästhetischen Ausdruck. Und wieder sind die entscheidenden Fragen im Produktionsprozess: Was? Wo? Wie? Weniger Warum. Es geht um die theatral-ästhetische und die szenische „Komposition“. Ohne die „Einübung von Rhythmus, Tempo, Timing und Koordination“ geht da gar nichts.
Wir sind gespannt auf den 2.Teil dieser Arbeitsbeschreibung im nächsten Heft.
15 Christian Reick/ Cornelia Kupferschmid – Die Arbeit an einem Kleingruppenprojekt
Das Autorenteam Reick/ Kupferschmid liefert in seinem Beitrag einen weiteren anschaulichen und überzeugenden Beleg, in welcher Weise die Dramaturgie eines Theaterstückes mit der Dramaturgie des theatral-ästhetischen Lernprozesses verwoben ist (vgl. dazu auch die Beschreibung des „Ästhetischen Doppelprozesses“ in: List 2019: Theater und Darstellendes Spiel in der Praxis Band 2. Start ins Theater-Machen).
Schon die präzise Gliederung des Beitrages zeigt die dramaturgische Kompetenz des Autorenteams. Sie folgt der Komposition eines theatralen Lernprozesses mit der geschickten Implementierung von entsprechenden Lernsettings. Diese geben den Spielerinnen unter Vorgaben und mit der fachkompetenten Betreuung eines externen Theaterprofis Freiraum, die Geschichten ihrer Figuren auf ihre Weise UND unter Einübung theatraler Techniken und ästhetischer Gestaltungsmethoden, zu „erzählen“:
„‘Was wollen wir erzählen?‘ – Von der Motivation zur Idee
‚Wo und wann sind wir? Wer sind wir? Wie viele?‘ – Von der Idee zum Inhalt
‚So kann man doch nicht Theater spielen‘ – Vom Inhalt zur forschenden Gestaltung
Regie-Entscheidungen
Spielebenen
Bühne
Dramaturgie
Worauf zu achten ist
Epilog: Was bleibt?“
Leider erfährt der Leser nicht viel von der externen Betreuung der Schüler. Nur so viel: „Eine externe Expertin berät die Schülerinnen zusätzlich und erarbeitet in Workshops exemplarische Szenen für ihr Projekt, deren formale Merkmale die Schülerinnen im Nachgang leicht auf die weiteren Szenen anwenden können.“ (15) Sie erhalten also das für ihre Gestaltung notwendige theatrale Handwerkszeug und Musterlösungen. Die Hauptaufgabe bestand demnach darin zu formen: „Die Schülerinnen machten sich an die Arbeit herauszufinden, wie man diese emotionalen Verbindungen zwischen verschiedenen Fluchtgeschichten auf der Bühne zeigen konnte.“ (16) Die Schülerinnen spielten keine Rollen, sondern stellten ihre selbstkreierten Figuren aus ihrer Position und Haltung als Schülerinnen dar, ohne sich in sie zu verwandeln. „Dabei ist es wichtig, dass es nicht um ‚biografisches Theater‘ geht.“ Es werden „keine klassischen Rollen gespielt.“ (16) Mit Hilfe der Übung „Heißer Stuhl“ führte die „externe Expertin“ Interviews „mit unerwarteten und überraschenden, scheinbar unwichtigen und doch sehr persönlichen Fragen“ durch. Auf diese Art und Weise entstanden Figuren „nah an der eigenen Persönlichkeit der Spielenden und doch getragen und beeinflusst durch das Wissen über die jeweilige Zeit.“ (17) In abstrahierender Weise konnten die Spielenden die drei Schicksale von Geflohenen miteinander verbinden und gestaltend monologisch und dialogisch untereinander und mit dem Publikum in direkter Ansprache verhandeln. Auf diese Art und Weise war die Distanz der ‚Rollenträger‘, ganz im Brechtschen Sinne, zu ihren Figuren immer sichtbar.
Präzise Angaben zu Kostümen (alle in Schwarz, jede Figur nur ein signifikantes Kleidungsstück, um schnell sichtbaren Rollenwechsel zeigen zu können), zu Requisiten (jede Figur hat nur einen für sie typischen Gegenstand) und Kulisse (multifunktional einsetzbare Holzquader) zeugen von der hohen Fachkompetenz der Theater-Lehrkräfte und der externen Beraterin in Bezug auf die Komposition theatraler Settings, sowohl künstlerisch als auch pädagogisch. Während der Arbeit stehen Immer die Fragen im Raum und drängen auf Beantwortung: Was ist das WAS im Stück? WIE soll es gestaltet werden? Und als besonders hilfreicher Impuls insbesondere bei Amateuren: „Welche Aktion kann Text ersetzen?“ (18)
Und als Letztes, aber nicht Unbedeutendes, der Versuch, Humor einzubauen, um die Zuschauer nicht ausschließlich mit einer Dystopie zu beladen und zu belasten und sie damit nach Hause zu schicken.
Die Beschreibung Ihrer postdramatisch orientierten Vorgehensweise hebt sich wohltuend ab von anderen Beschreibungen von Theater-Unterricht, die missverstandene Normierungen professioneller postdramatischer Spielweisen (vgl. Lehmann) in plattester und unverantwortlicher Weise 1:1 in Unterricht übertragen (vgl. Friedrich Verlag (Hg) 2018: Postdramatisches Theater – Rezension).
(Auf die Korrektur von Rechtschreibungs- und Zeichensetzungsfehlern in den Zitaten wurde verzichtet.)
Weiterführendes
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