Hegemann, Carl 2005: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Herausgegeben von Sandra Umathum. Recherchen 28. Berlin: Theater der Zeit. 300 Seiten – Rezension
Sandra Umathum bekundet im Vorwort, dass dieses Buch lange überfällig und Hegemanns großer Verdienst sei, dass „mit Hilfe der Theorie die Praxis einigermaßen nachvollziehbar“ geworden sei und sich gleichzeitig „durch die Praxis der Blick auf die Theorie“ geklärt habe und man somit vermutlich einen besseren Zugriff auf die Paradoxie des Theaters habe.
Carl Hegemann habe lange Zeit als Dramaturg u.a. mit den wichtigsten deutschsprachigen Regisseuren zusammengearbeitet. Das Theater sei für ihn immer auch Ort und Gegenstand der Reflexion und Auseinandersetzung gewesen. Als Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis habe er sich konsequent bemüht, „beide Bereiche miteinander zu verbinden, indem er seine theoretischen Überlegungen in die Praxis und seine praktischen Erfahrungen in die Theorie übersetzte.“
Parallel zu vielen Inszenierungen seien dabei auch Hunderte von Texten entstanden. In ihnen nehme er das Theater sowohl im Kontext ästhetischer, gesellschaftspolitischer und ökonomischer Prozesse als auch vor dem Horizont medientechnologischer Umbrüche in den Blick und frage nach deren wechselseitigen Wirkungen. Das Buch versammele eine Auswahl der Texte, die Carl Hegemann im Laufe von 25 Jahren verfasst habe und stelle damit „ein Dokument deutscher Theatergeschichte von den 80er Jahren bis heute dar.“
Sandra Umathum ist Theaterwissenschaftlerin und Mitglied des Sonderforschungsbereichs Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin. Sie arbeitete 2013 bis 2018 als Professorin für Dramaturgie und Theaterwissenschaft an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin.
PUBLIKATIONEN VON CARL HEGEMANN
Damit ließe sich deutlich die aktuelle Theaterentwicklung markieren, die in zwei Stränge auseinanderfalle: „Dem Verhältnis zwischen Schauspielern und Zuschauern jedenfalls, ganz gleich, wie es sich gestaltet, sind diese scheinbar nicht auszutreiben. Entweder wird (noch immer), wie in den Hochzeiten der Illusionsbühne im bürgerlichen Zeitalter, so gespielt, »als ob sich der Vorhang nie gehoben hätte« (Denis Diderot), und bei vollem Bewusstsein seiner Anwesenheit so getan, als ob das Publikum gar nicht da wäre. Oder es wird so gespielt, als werde überhaupt nicht mehr gespielt und als sei nun ausgerechnet das Theater der Ort, an dem widerlegt werden müsse, dass ohnehin alle ständig Theater spielen. Wie man es dreht und wendet: Paradoxien sind, wie überall, auch im Theater allgegenwärtig. Das muss man aushalten. Oder so tun, als gebe es sie nicht. Allerdings wäre man dann schon wieder beim nächsten Paradox angelangt.“ (8) Dieser Topos durchzieht teilweise subtil, häufig aber recht deutlich und explizit Hegemanns 67 Kurztexte von 1980-2005.
Da für Hegemann das Theater „immer zugleich Ort und Gegenstand der Reflexion und Auseinandersetzung“ war, gewinnt das Theater für ihn erst seine Bedeutung „im Kontext sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse und Praktiken sowie vor dem Horizont zeitgenössischer medientechnologischer Umbrüche.“ Für ihn bestand die „selbstverständlichen Notwendigkeit“, die wechselseitigen Bedingungen und Wirkungen von Theater und Gesellschaft auszuloten und seine theoretischen Überlegungen in die Praxis sowie umgekehrt seine praktischen Erfahrungen in die Theorie zu übersetzen. Insofern hat Hegemann also „nie einfach nur am Theater gearbeitet, sondern er hat dort immer auch Feldforschung betrieben.“ In seinen oft unter Zeitdruck entstandenen Texten diskutierte er schon Mitte der achtziger Jahre Fragestellungen, „die im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs über das Theater zum festen Repertoire gehören.“ (9)
Einige längere Passagen aus Hegemanns Textsammlung seien hier zitiert, damit sich der Leser ein wenig mehr von der Qualität seiner gedanklichen Präzision und philosophischen Fundierung der Paradoxie des Theaters überzeugen kann: „Realitäten sind durchlässig (permeabel). Es besteht die Möglichkeit, in andere Realitäten einzutreten, wenn man bereit ist, die gewohnten Glaubenskerne (zeitweilig oder auf Dauer) zu suspendieren und sich die Sprachspiele anderer Lebensformen zu eigen machen. Die minimale Gewißheit, daß andere Realitäten möglich sind, ist dafür die Voraussetzung. Die Ethnomethodologie will diese Gewißheit herstellen und damit die Erfahrung anderer Realitäten ermöglichen.“ (19) [Bitte nicht verwechseln mit den sogenannten „Alternativen Fakten“ von Demagogen.]
„Der ethnomethodologische Forscher muß lernen, die Grundlagen fremder Sprachspiele zu glauben, im Bewußtsein ihrer Relativität und Kontingenz. D.h.: Er hat die paradoxe Aufgabe, etwas glauben zu müssen, ohne es zu glauben [vgl. auch Borries von 2016]. Dies ist das Geheimnis der ethnomethodologischen Forschungspraxis, und dieses Geheimnis deckt sich mit dem offenen Geheimnis der Theaterpraxis. Schauspieler und Zuschauer tun so, als ob sie einem fiktiven Vorgang Glauben schenkten, sie tun so, als sei er real, ohne aber auf den Schein hereinzufallen. Ohne diese Verabredung kann Theater nicht funktionieren. ‚Do not act‘ – ist die zentrale, ebenfalls paradoxe Aufforderung Lee Strasbergs an seine Schauspieler. Aber ein Schauspieler, der sie total und buchstäblich befolgt, wäre für das Theater verloren (und auch für den Film), genauso wie der, der sie gar nicht befolgt, den Reiz des Theaters zerstörte. ‚Identifiziere dich mit dem Objekt deiner Untersuchung – halte dich nicht zurück!‘ lautee die analoge Devise ethnomethodologischer Forschung.
Die notwendige Fähigkeit, glauben zu müssen, ohne zu glauben, könnte aber auch paradigmatisch für ‚postmoderne‘ Lebensverhältnisse überhaupt werden.“ (20) „Das Theater simuliert Simulationen und hat damit die Möglichkeit, ein letzter Ort ‚realer Vorgänge‘ und ‚wahrer Empfindungen‘ zu sein – genauso wie ‚ein wertvolles Aquarell, das – aus Sicherheitsgründen – in einer Mappe mit Reproduktionen aufbewahrt wird, eine Fälschung einer Reproduktion ist.‘ (Erving Goffmann) Nur die Folgen des Bühnenereignisses sind nicht real. Sie bleiben Darstellern und Zuschauern erspart. Bühnentote stehen spätestens nach Schluß der Vorstellung wieder auf. Ist es eine Frage, was unter solchen Bedingungen vorzuziehen ist? ‚Do not act!‘“ (25-26)
Durch die chronologische Abfolge der Texte kommt es zwangsläufig zu Redundanzen, weil die Texte nicht geplant in Summe als Buch erscheinen sollten. Umso überraschender sei die Kohärenz, die bei der Anordnung all dieser Gelegenheitsarbeiten zutage getreten sei. Die Denkmodelle, die das Material strukturierten und in Beziehung setzten, blieben immer sichtbar. Die Texte und eine sich ergebende Paradoxie seien alles andere als beliebig. Sie bildeten Varianten eines Musters, das sich gegenüber den äußerst heterogenen Fragestellungen produktiv verhalte und sich am Ende sogar als so etwas wie die Antizipation einer Theorie des Theaters als Theorie der (Theater-)Gesellschaft auswiesen.
Die vielen meist kurzen Texte aus unterschiedlichen Kontexten kreisen zumeist um einen Kerngedanken: Was ist Theater? Hegemann geht der Frage in vielfältiger Weise nach, mal philosophisch, mal konkret bezogen auf Theateraufführungen in den jeweiligen Zeiten, mal bezogen auf Theaterkonzeptionen von Theatermachern unterschiedlicher Epochen, mal theoretisierend-spekulativ usw., immer aber sehr scharfsinnig und einen Sachverhalt aus allen Perspektiven ausleuchtend und eine entsprechende Paradoxie chirurgisch präzise sezierend. Ein wahrer ruheloser Forschergeist. Er zwingt den Leser regelrecht zum genauen Lesen durch genaues Schreiben und stößt dessen Denkapparat an, weil der Rezipient permanent das Gefühl hat, dass das, was er schreibt, irgendwie Erkenntnisqualität haben muss und auch hat. In beispielhafter und besonderer Weise wird dies deutlich in seinem Beitrag „Muss Theater Theater sein? Die Bühne als Anachronismus und Paradigma der Mediengesellschaft“ (203-208), in dem er schon sehr früh, noch vor Lehmann, präzise aufzeigt, welch postdramatisch-performative Hohlheit sich da gerade anschickt, die Theater-Welt zu erobern, die das Theater seines Wesens beraubt, dieses selbst aushöhlt und letztlich durch ihr Dogma der Auflösung aller Grenzen zwischen den Künsten und der Realität und der inhaltich-programmatisch-dramaturgischen Formen-Beliebigkeit liquidiert. Dabei wird das meist medial vermittelte Herumwerkeln vieler avantgardistischer Theatermacher (zumeist sind es Theaterwissenschaftler ohne Schauspielausbildung, ohne Regieausbildung, ohne Dramaturgieausbildung aus dem Fachbereich Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen) mit einer „Forschungsfrage“ kaschiert, der man mit ästhetischen Mitteln „nachgehen“ wolle, betreibt aber eigentlich oft nur dilettantisch soziologische Betrachtungen, die andere, kompetente Leute längst hinreichend angestellt und dokumentiert haben (vgl. z.B. Gamification, politische Bildung usw. Neuerdings auch als Koch-Shows auf der Bühne.).
„In der Theaterwissenschaft ist mittlerweile jeder gesellschaftliche Bereich potenzielles Forschungsthema. Unter den Stichworten ‚Theatralität’ und ‚Performativität‘ werden noch die früher theaterfernsten Vorgänge wie Essen oder Karussellfahren zu Forschungsgegenständen. Der ständige Verweis auf den inszenierten und präsentierten Charakter gesellschaftlichen Lebens in allen seinen Teilbereichen ist unübersehbar und treibt seine Blüten. […] Die neuen Medien haben das Theater als Ort der gesellschaftlich relevanten Reflexion verdrängt.“ (203-204) Dies mag ein weiterer Grund sein, warum die Studenten und Absolventen aus Gießen dermaßen junkiehaft diesen neuen Medien hinterherhecheln und sich am liebsten damit beschäftigen, pardon, diese mit ästhetischen Mitteln erforschen und untersuchen wollen, nicht aber ein Ergebnis präsentieren mögen, sondern lieber mit dem Zeigen ihres „Forschungsprozesses“ ihr Publikum partizipativ aktivieren wollen, damit es sich selbst „neue Denkräume“ erschließen können.
Das alte Theater, so Hegemann wirke gegen neu aufkeimende anachronistisch, „weil es essenziell nur mit lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut funktioniert. Das zumindest hat dieses alte Medium den neuen, bloß virtuelle Medien voraus, dass sich in ihm Menschen unmittelbar mit Menschen beschäftigen und nicht irgendwelche digitale Datenträger mit digitalen Datenträgern.“ (204; vgl. auch „Theater 4.1“)
Das alte Theater hat, laut Hegemann, nur geringe Chancen gegen die neue Medienkultur: „Die Kamera, die immer und überall zur Stelle ist eignet sich viel besser, unseren Voyeurismus zu befriedigen als das alte intime Theater mit seinem ‚Als-ob‘-Charakter, seiner technischen Beschränktheit und seinen ästhetisch moralischen Darstellungsgrenzen.“ (205) Dabei habe die amerikanische Computerspielprogrammierer Brenda Laurel in ihrem Buch COMPUTERS AS THEATRE ihre Kollegen aufgefordert, sich mit der Dramentheorie des Aristoteles zu beschäftigen. Sie erhoffe sich davon „eine Qualitätssteigerung und folgt der Einsicht, dass viele Probleme und Fragestellungen der neuen Medien uralt und im Theaterkontext seit Jahrhunderten bekannt sind und bearbeitet werden. Das sind z.B. Fragen nach dem Verhältnis von Machen und Gemachtem, dem Widerstand des Materials, Rezeptionsvoraussetzungen und Wahrnehmungsmustern, unvermeidlichen Gesetzen des Daseins und des Dramas und nicht zuletzt auch Fragen nach der Notwendigkeit von Katharsis und Tragödienbewusstsein.“ Gleichwohl oder trotzdem wünscht sich Hegemann, solle die „Trennung von Theaterkunst und Medien nicht zementiert, sondern gelockert werden, zumindest für die Theaterleute, die sich nicht von den Entwicklungen in der Medientechnologie abkoppeln wollen.“ (206) Theater müsse immer einen Gesellschaftsbezug haben, wozu auch die Beschäftigung und die Nutzung moderner Technik gehöre. Eine mediale Profilierung des Theaters führe aber zu einer weiteren Paradoxie, nämlich leicht zu einer Überforderung und kollidiere zumindest teilweise mit der Aufgabe, die Theatertradition am Leben zu halten. Theater kann vieles sein, aber es ist kein „Propagandaunternehmen mit der Aufgabe, das Richtige richtig zu zeigen. […] Die Bühne ist vielleicht der einzige soziale Ort, wo es richtig ist, das Falsche zu tun, wo regelmäßig Dinge geschehen, die ‚im Leben‘ Gefängnis“, Irrenanstalt oder Tod nach sich ziehen würden.“ (56-57)
Für Hegemann ist es vor allen Dingen die anachronistische Produktionsweise des Theaters, die es immer noch reizvoll und wichtig mache. So formuliert er es jedenfalls in den 1980er Jahren.
Mit Samuel Beckett, Eugène Ionesco und Karl Valentin sei aber „das Ende des literarischen Theaters eingeleitet.“ Die entscheidenden Veränderer des Theaters seien Castorf und Marthaler, eigentlich Theaterverweigerer oder genauer: „Castorf und Marthaler machen gar kein Theater.“ (68) In deren Theater werde der Zuschauer einbezogen, und es sei „alles nicht gespielt“. Es fände „wirklich statt in Echtzeit, nicht in Echtzeitsimulation.“ (68) Man wüsste „nie im voraus, was passieren“ würde. (69) Das Geheimnis von Castorf und Marthaler liege darin, „daß sie die Theater definierende akzeptable Lüge“, die Illusion, vermieden. „Das Theater aber, das sich vom Theater verabschiedet, sucht nicht nach der verlorenen Realität, sondern schafft selber neue Wirklichkeiten: reflektierte, gestaltete Spezialwelten, die sind, was sie sind, die alles mögliche sind, nur kein Theater.“ (69) Das herkömmliche Theater sei dagegen nur „eine Wiederaufbereitungsanlage für Literatur. Um das Theater ins nächste Jahrtausend zu retten, muß man es nicht neu erfinden, sondern abschaffen. Die Steigerung von Realismus ist Realität. Das Theater ist Produktion von Wirklichkeit nach Regeln der Kunst. Was in der Politik zu Faschismus und Totalitarismus führt, ist auf der Bühne genau richtig. Das Theater der Zukunft ist kein Theater, sondern gestaltetes Leben. […] Schleef war sich dieser Paradoxie bewußt, als er sagte: ‚Ich würde soweit gehen, daß es kein Leben gibt außerhalb meiner Produktionen.‘“ (71) Castorf und Marthaler hätten zur Verkündigung des Todes Gottes (Friedrich Nietzsche) die passende „Sühnefeier“ und die passenden „heiligen Spiele“ erfunden. Nun könnten wir erfahren, so Hegemann 1994, „wie diese ‚heiligen Spiele‘ aussehen. Castorf und Marthaler gehören zu den Autoren, die sie erfinden.“ (71) Hegemann sei wie selbstverständlich „von der Faustregel ausgegangen: je destruktiver und verletzender das Theater, desto intakter die Gesellschaft.“ (74)
Auf die Frage nach der Zukunft des Theaters antwortet Hegemann 1995: „Das Theater muß sich auf das besinnen, was in den anderen Medien nicht möglich ist, auf den Begegnungscharakter, die Unsicherheit, daß man die weiß, was an dem Abend passiert. Es muss sich als ein Ort für anspruchsvolle, säkularisierte Rituale begreifen: das Ritual retten, ohne hinter die Aufklärung zurückzufallen, ohne Gott und ohne Dogmatismus. Man müßte sehen, wie man seine eigene Orientierungslosigkeit an Ereignisse bindet, die dies auf irgendeine Weise feiern. Die Fähigkeit, Ungewißheit zu ertragen, wird entscheidend, nicht der Glaube an irgendwelche Wahrheiten.“ (76) Dies funktioniere allerdings nur durch „künstlerisch kompromißlose, dem Zuschauer etwas abfordernde Inszenierungen.“ (77) Es solle „Streit geben.“ Das sei ein Kriterium für eine gelungene Veranstaltung, „wenn 50 Prozent es absolut schlecht finden und 50 Prozent total begeistert sind.“ (78)
Schon 1999 formulierte Carl Hegemann unmissverständlich im Kontext der Reaktionen von Theatermachern auf den Kosovo-Krieg: „Mit CHANCE 2000 [einem überkonfessionellen künstlerisch politischen Bündnis] haben wir die Grenzen der theaterimmanenten Ästhetik weit überschritten. So weit, daß es meiner Ansicht nach keine andere Alternative gab, als uns vorläufig wieder auf die Bühne zurückzuziehen, wenn wir weiterhin Theater machen wollten, oder das Theater wirklich zu verlassen. Wenn man die so genannte vierte Wand, die den Theaterraum von der Realität trennt, vollständig abgerissen hat, wie es in CHANCE 2000 geschah, und also nicht mehr weiter ausbrechen kann, muss man die Wand wieder aufbauen. Das ist einfach so. Das Theater hat seine eigenen Strukturen, und man kann eine Zeitlang mit Ihnen spielen, dann schnellen Sie zurück und verlangen ihr Recht. Will man draußen bleiben, ist das kein Theater mehr, sondern Politik oder Wahnsinn oder was auch immer.“ (124-125) Man komme auf die Dauer nicht darum herum, die zentralen Strukturen des Theaters zu akzeptieren, oder wir müssen das Theater quittieren. Seine Strukturen zeigen sich in der Trennung zwischen Zuschauer und Akteuren, der notwendigen Vorgabe eines Skripts, die Schauspieler sich wieder mit ihren Figuren identifizieren, statt sie nur auszustellen und das durch den Theaterrahmen begrenzte Spiel. (127, 135)
Wie schwierig diese Gratwanderung als Kunst ist, mehr politischen Einfluss auf Gesellschaft zu nehmen, zeigt Hegemann in seiner Replik auf kritische Äußerungen des Bundeskurators für bildende Kunst Österreichs Wolfgang Zinggl zu Aktionen von Schliengensief, der z.B. in seinem Projekt BAHNHOFSMISSION in Hamburg, in der „‘Kunst und Suppe‘“ zu einer selbstbestimmten Einheit zusammenfinden sollen. In einem Projekt mit Obdachlosen bestehe der Anspruch grundsätzlich darin, „ein Fest[,] ein improvisiertes Theaterstück ohne vierte Wand [und] experimentelle Politik“ zusammenzubringen. Kunst solle politisch Stellung beziehen und das Unsichtbare sichtbar machen. Schlingesiefs Kunst liefere dabei „Anstöße und Hilfe zur Selbsthilfe“. (150) Nun wissen wir, welche Triebkräfte hinter Aussagen wie der folgenden stehen: „‘Ich bin doch hier der Wilde, ich bin doch der, der alles kaputtschlägt. Ich habe doch schon auf der Straße gestanden und die Leute agitiert, und jetzt bin ich auf einmal ein ganz gewöhnlicher Boulevardregisseur, da stimmt doch irgendwas nicht.‘“, so Christoph Schliengsief. (134)
Vielleicht hängt ja alles mit der Konstitution des Theaters zusammen, das sich schon in den Anfängen als Paradoxie erwies: „Damals hatte das Theater eine klare, wenn auch paradoxe Funktion. Als ritueller Treffpunkt der Angehörigen der Polis konfrontierte es diese mit den Gefährdungen ihrer im Werden begriffenen Zivilisation, mit dem immer drohenden Rückfall in die Barbarei und versuchte, die regressive Sehnsucht nach vorzivilisatorischer Wildheit im bloßgestellten Exzeß und Opfer zu kompensieren und zu neutralisieren. Ein solches Theaterverständnis schaffte es offenbar, indem es auf der Bühne eine völlige Ausweglosigkeit konstruierte, in der Polis die Bedingungen einer vernünftigen Lebensform zu stabilisieren und bin Drang und die Lust am tödlichen Exzeß in den Rahmen des Theaters, in einer Welt des ernsten, aber für die Beteiligten folgenlosen Spiels zu bannen. Dieses klassische Modell war noch in jüngster Vergangenheit faszinierend und ausreichend für die Legitimation das anspruchsvollen Gegenwartstheaters. […] Mit der Durchsetzung der technischen Bild- und Darstellungsmedien, die Kommunikation und Information zur Schlüsselindustrie gemacht haben, scheint das Theater, auch wenn diese neuen Medientechnologien teilweise ohne es nicht denkbar waren, selbst marginal und museal geworden zu sein.“ (250-251)
Hegemann fasst 2004 in drei triftigen Gründen zusammen, warum das Theater „zunehmend irrelevant zu werden scheint“:
- Das Theater wird zum Museum, wenn es die neuen Medientechnologien nicht nutzt.
- Das Theater ist selbstreferentiell, es spiegelt nur noch sich selbst.
- Die Gesellschaft selbst ist zum Theater geworden, zum Schauspiel. „Alles wird zu Schauspielerei, deshalb schwindet jeder Essentialismus, und deshalb ist das Theater als Modell der Gegenwart so erfolgreich geworden. Alles ist Theater, und ohne Theatermetaphern kann man die Gesellschaft nicht mehr beschreiben. Die Theaterwissenschaft beschäftigt sich seit ein paar Jahren mit nahezu allen gesellschaftlichen und privaten Vorgängen unter den Gesichtspunkten der Theatralität und Performativität, vom Essen bis zum Scheißen.“ (254-255)
An diesen Schnittstellen zwischen Kunst und Politik auf der einen und der Auflösung der Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstformen auf der anderen Seite entzündet sich zumeist die Diskussion zwischen Menschen, die sich einem eher traditionellen Kunstverständnis verpflichtet fühlen, das von zur Forderung der Autonomie der Kunst (l’art pour l’art) bis hin zu Grenzüberschreitern und Zerstörern (Destruktion) des Framings von Theater und allen seinen Elementen, die es bislang wesentlich zu dem machten, was man gemeinhin unter Theater verstand, reicht.
Umathums Textsammlung Hegemanns ist für Menschen, die den Dingen auf den Grund gehen und nicht nur wissen wollen, wie das Konstrukt Theater auseinanderfällt, sondern auch wie es theoretisch betrachtet und praktisch zusammengebaut werden kann.
67 Texte aus einem Vierteljahrhundert zeichnen die Denkbewegungen des leidenschaftlichen und komplex denkenden Theatermachers und -analytikers Hegemann nach. So offenbart sich nicht nur manche Paradoxie des Theaters, sondern auch die Suchbewegung nach dem, was Theater ausmacht und wohin es sich entwickeln könnte, sollte, müsste, zuweilen als unfertig, manchmal inkohärent und auch immer mal wieder als Paradoxie.
An Castdorf und Marthaler zeigt Hegemann schlüssig, wie deren Bestrebungen, das Theater abzuschaffen gerade die Grenzen und Strukturen von Theater markieren und in einer KREISBEWEGUNG nach der beabsichtigten Zerstörung des Theater durch Gleichsetzung mit Realität wieder beim Geschichtenerzählen hinter der vierten Wand landen, wo sich auf der Bühne die Akteure mit ihren Rollen identifizieren und miteinander sprechen, während das Publikum zuschaut. (135)
Sehr lesenswert!
Als Anschlusslektüre empfehle ich Stegemanns „Lob des Realismus“.
Weiterführendes
- Borries von, Friedrich 2016: Weltentwerfen. Berlin: Suhrkamp
- Brook 1983: Der leere Raum. Berlin: Alexander
- Lehmann, Hans-Thies 2011, 19991: Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren
- List, Volker 2019: Theaterkritiker werden arbeitslos – Gob Squad präsentiert Koch- statt Theaterkunst > https://angewandte-theaterforschung.de/theaterkritiker-werden-arbeitslos-gob-squad-praesentiert-koch-statt-theaterkunst/
- Pfaller, Robert 2012: Zweite Welten. Und andere Lebenselexiere. Frankfurt/ M: S. Fischer
- Stegemann, Bernd 2015: Lob des Realismus. Berlin: Verlag Theater der Zeit > Rezension
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