Heinrich Böll Stiftung (Hg) 2019: Moralische Anstalt 2.0. Über Theater und politische Bildung. Berlin: Heinrich Böll Stiftung. 48 Seiten – Rezension
Die Aufsatzsammlung der Heinrich Böll Stiftung „versteht sich als Plädoyer für politische Bildung im Theater.“, so der Referent für Kulturpolitik und Neue Medien Christian Römer im Vorwort. (7) Das Theater könne „eine entscheidende Rolle in unseren hochpolitisierten Zeiten spielen. Um Debatten und Gesellschaft mitzugestalten, muss es wieder politisch wirksam werden.“ Diese Forderung sei sowieso durch „unsere Vorstellung von darstellender Kunst eng mit dem Wunsch nach kultureller Wirksamkeit verbunden.“ (7) Die Broschüre verspricht Antworten auf die Fragen: „Wie können ästhetisch interessante Aufführungen gelingen und zugleich als politische Bildung wirksam werden? Und was geschieht, wenn als Theater als Instrument politischer Bildung missbraucht wird?“
Iris Laufenberg: Das Theater der Zukunft oder der erloschene Zwergplanet
Laufenberg konterkariert sogleich die Hoffnung des Stiftungsreferenten Römer, dass das Theater „eine entscheidende Rolle in unseren hochpolitisierten Zeiten spielen“ könne, da sie nicht glaubt, dass das Theater die Welt verändern kann.“ (10) Es sei aber immer noch „einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft, an dem Menschen gemeinsam und analog lachen, leiden und weinen – und Denkräume betreten“ könnten. Dass diese Freiräume Menschen mit eindimensionalem und rechtsnationalem Denken ein Dorn im Auge seien, sei klar. Insofern sei Theater schon immer politisch, da es die Gegenwart reflektiere und menschliches Miteinander verhandele. Dem Theater mangele es lediglich an positiven Utopien, an „Weltentwürfen, die uns auf eine bessere Zukunft hoffen lassen“. (10)
Christian Rakow: Auf zweiter Stufe: Theater und politische Bildung – geht das überhaupt zusammen?
Rakow beschreibt das politische Potenzial des Theaters auf zwei Stufen. Auf der ersten sieht er den Begriff des politischen Theaters als Tautologie, denn Theater sei per se politisch. Selbst das formalste Tanztheater demonstriere „über die Anordnung der Körper im Raum eine Grammatik des personalen Austauschs, der Geschlechterverhältnisse, der Empfindung von Nähe und Distanz, von Macht und Ohnmacht, also eine Grammatik gesellschaftlicher Beziehungen.“ (12) Als öffentliche Veranstaltung sei Theater sowieso immer schon politisch. Rakow ist sich bewusst, dass ein solch weiter Begriff von Theater keine Differenzierungskraft besitzt. Deshalb fasse man unter dem Label „politisches Theater“ nicht ein Theater, das nur implizit gesellschaftliche Verhältnisse abbilde, sondern diese explizit reflektiere, also zum eigenen Inhalt mache, ohne diese allerdings unkünstlerisch zu verdoppeln. Der dabei vorgenommenen „Prosaisierung der Inhalte“ entspreche allzu oft eine „Diaktisierung der Darbietungsweise“. (13) Ungezählt seien „die Theaterarbeiten, die mit Deutsche-Bank-Logos, Mercedes-Sternen oder Videos von abschmelzenden Polkappen den globalisierten Kapitalismus anprangern. Des Kapitalismus mit bestimmtem Artikel, also im Kollektivsingular. Denn in der Abstraktion muss nicht in Rede stehen, was genau da eigentlich angeprangert wird: die Marktwirtschaft als solche? Oder ihr neoliberales Stadium? Die Finanzwirtschaft? Oder doch nur bestimmte ihrer okkulten Praktiken wie Leerverkäufe oder Kreditverbriefungskaskaden?“ Meist werde die Angriffsfläche nicht recht klar, weil die Geste der Empörung alles deckele. Diese Geste werde aber in dem Moment hohl, wenn sie sich aus dem ursprünglichen von Piscator geforderten Dreischritt „Kenntnis – Erkenntnis – Bekenntnis“ vom letzten Schritt löse, der ja die Solidarisierung mit der proletarischen fordere.
Die zweite Stufe der Politisierung erreiche das Theater, wenn Betroffene auf der Bühne als „Experten des Alltags“ (Rimini Protokoll) Auskunft über sich selbst erteilten. In solchen Theaterformen werde „nicht Kritik ex cathedra gepredigt, sondern auf die Kritikfähigkeit des Zuschauers vertraut, und „die Hohe Schule des Aushaltens von Differenz.“ (14) Mit diesen Partizipations- und Inklusionsverfahren steuere die neuere Politische Theaterkunst den Abbau der Asymmetrie zwischen Bühne und Zuschauerraum an. Die sog. Experten des Alltags sprächen nicht stellvertretend für andere, sondern nur für sich. Damit werde offensichtlich, dass die Frage des Politischen auch immer eine Frage der Teilhabe sei.
Die Frage, wo in diesen Formen der durchdidaktisierten, inszenierten, auf die Bühne gestellten sozialen Wirklichkeit durch betroffene Individuen das Wesen des Theaters, seine Metaphorik und seine Symbolisierungen, schlechthin der Mythos Theater, bleiben, beantwortet Rakow nicht (siehe auch: List 2019: Genug gespielt. Jetzt wird’s ernst – Theater und Politik).
Anne Peter und Elena Philip: Perfektes Timing: Wie Frauen am Theater sich gegen Benachteiligung organisieren
In diesem Beitrag geht es nicht um das Thema politisches Theater, wie in den beiden Beiträgen zuvor, sondern um Theaterpolitik in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter. Warum dieses durchaus wichtige Thema in einer Broschüre zur Frage nach dem Politischen in Bezug auf die Mittel des Theaters?
Dass auch hinter der Bühne der männerdominierte Politikbetrieb keine Anstalten machte seit der Entstehung des Grundgesetzes diesem auch Geltung zu verschaffen, ist hinlänglich bekannt. Eine glückliche Fügung bzw. ein Zusammenwirken vielen Faktoren hat nun dieses Versäumnis bekannter gemacht und die Forderung nach Gleichberechtigung wieder in den Fokus geholt, „welche den Theaterfrauen 2017 einen Schub verliehen“ hat. Es sei #MeeToo, eine Studie des Deutschen Kulturrates, die Gründung eines Projektbüros für Frauen in Kultur und Medien und Bewegungen und Initiativen wie ensemble-netzwerk, Pro Quote Bühne und nicht zu vergessen, die Möglichkeiten sich über soziale Netzwerke schnell austauschen, die Diskussion befördern zu können und nun verbindlicher eine feste Quote einzufordern. Denn nur diese sichere letztlich tatsächliche Gleichberechtigung.
Anna Bergmann spricht in dem folgenden Interview darüber, dass sie als Schauspieldirektorin am Staatstheater Karlsruhe eine 100%-Frauenquote bei den engagierten Regisseurinnen eingeführt und damit gute Erfahrungen gemacht habe. Kritik, sie würde damit Männer diskriminieren und gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen, schmettert sie mit dem Argument ab, dass kein Hahn danach krähe, wenn an anderen Bühnen 90% Männer inszenierten. Ihre Setzung sei richtig gewesen, da gutes Zureden nicht geholfen habe. Ihr Beispiel ermutige auch andere Frauen, nicht mehr nur zu reden, sondern zu handeln.
Recht hat sie. Männer zu fragen, ob sie bitte das Patriarchat abschaffen möchten, ist müßig.
Alexander Kerlin: Beim Blick in den Abgrund
Kerlin nimmt scharfsinnig den Dualismus in der Kunst auseinander, und es ist zu vermuten, dass er bei Goethe nochmal nachgelesen hat, inwiefern im Besonderen z.B. auch in einer Theateraufführung das Allgemeine sichtbar wird. Goethe schrieb dazu: „Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt. Die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie. Sie spricht ein Besonderes aus, ohne an Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit.“ (Goethe. Maximen und Reflexionen. Aus Kunst und Altertum 1825). Es ist zu vermuten, dass wohl oft in der Poesie die tiefere Wahrheit stecke, eben genau weil sie nicht mit der Empirie und dem Offensichtlichen und Faktischen arbeiten muss, das schnell zum Plakativen und Eindimensionalen verkommt, sondern sich der weitaus tiefgründigeren und abgründigeren Allegorie und des Narrativen bedienen kann.
Bei Kerlin liest sich das in Frageform so: „Wie gelingt es Rechercheergebnisse und Fakten eine dramatische Form abzuringen, die auch den Anforderungen an die Unterhaltung eines Publikums standhält (denn ohne Unterhaltung keine Vermittlung)?“ Und als spezifisches Theaterproblem: „Wie steht es dann um das so sensible Verhältnis von Spiel und Authentizität?“
Kerlin bezweifelt, dass die klassische und am Schreibtisch entstandene Literatur, die längst fragwürdig geworden sei und überholte Rollen- und Geschlechterbilder in ihren Theaterstücken transportiere entscheidende Konflikte der Digitalen Moderne verhandeln könne. Es brauche „andere, neue Störenfriede“, und da seien künstlerische Aktivisten und hartnäckige investigative Journalistinnen nicht die schlechteste Wahl. (29) Als Fazit formuliert Kerlin „die alles entscheidende Frage“: Nach welcher Methode kommt eine Aussage über die Welt zustande. Was werde sichtbar und wie werde die Sichtbarkeit produziert? Damit bestünde die Herausforderung für da politische Denken in „einer Verantwortung für die Art der Darstellung.“ – und diese Pflicht gehe jedem konkreten aktivistischen oder politischen Inhalt voraus. […] Wird Komplexität reduziert oder auserzählt? Wie viel inneren Widerspruch hält eine Darstellung aus? Und vor allem: Weiß die Aussage über den eigenen, dunklen Abgrund Bescheid, auf dem sie errichtet ist?“ (31) Und er fragt weiter: „Könnte es sein, dass politische Bildung jenseits der Vermittlung konkreter aktivistischer Inhalte bedeuten könnte, immer mal wieder gemeinsam in diesen Abgrund zu blicken? Um dort zu erkennen, dass die Welt immer schon gemacht ist?“ Und wo werde diese Gemachtheit am deutlichsten gezeigt? Im Theater natürlich, mit Bildern und Narrativen.
Sophie Diesselhorst: Im Vakuum der Verantwortung: Wie das österreichische Innenministerium die politische Bildung zum Thema Migration an sich reißt
Ein weiteres Mal verliert die Redaktion der Broschüre das eigentliche Thema aus den Augen, wenn sich Diesselhorst mit Politik auseinandersetzt, die sich auch mit dem Theaterbetrieb beschäftigt, bzw. die Kunst als Propagandamittel missbraucht. Konkret geht es um die Migrationspolitik der rechten österreichischen Regierung, die unter dem Deckmantel der politischen Bildung, allerdings durch das Innenministerium(!) gesteuert, ein Theaterstück in Auftrag gegeben hat. Das Stück „Welt in Bewegung“ wurde bereits vielfach in Schulen aufgeführt. Es verletze ganz klar das Neutralitätsgebot, „weil es eine Realpolitik als absolut darstellt und rassistische Denkmuster einübt.“ (36) Der vom Innenministerium beauftragte Autor und Regisseur äußert freimütig: „‘Die haben das natürlich immer kontrolliert, während der Entstehung schon, und haben dafür gesorgt, dass rechtlich und fachlich alles in Ordnung ist. Sie haben meine künstlerische Freiheit in keiner Weise beschnitten, aber mir natürlich gesagt, welche Szenen vielleicht nicht ganz so korrekt sind, und das wurde dann korrigiert.‘“ (34) Unwillkürlich fühlt man sich an staatliche Zensur erinnert, wie sie in China üblich ist, und sieht einen Auftragskünstler, der sich nicht für die Inhalte seiner Arbeit verantwortlich fühlt, sondern nur für die künstlerischen Formen, die er benutzt (vgl. Schneider (Hg) 2018: Kindertheater in China). Dass sich außerdem die Pädagogische Hochschule Niederösterreich (PHNÖ) für diesen Missbrauch der Kunst einspannen ließe, Begleitmaterial erstelle und Fortbildungen für Lehrkräfte anbiete, in denen u.a. der Film „als gutes Beispiel“ gezeigt werde, spreche für sich. Ja, hier geht es eben leider nicht um das spezifisch Politische im Theater, sondern darum welche politischen Propagandainstrumente, in welchen Formen auch immer, so zurechtmanipuliert werden können, dass sie direkt die Bevölkerung in der gewünschten Richtung beeinflussen. Das aber hat mit dem Wesen von Theater auf der einen und mit politischer Bildung auf der anderen Seite nichts zu tun (vgl. den Beutelsbacher Konsens von 1976).
„Wir glauben an die Wirkung des Theaters“ – Patrick Wildermann befragt Michael Ruf
Ruf ist Autor, Regisseur und Gründer des Projektes „Bühne für Menschenrechte“ in Berlin, das er als eine Schnittstelle zwischen Kunst, politischer Bildung und Aktivismus begreift. Die durch Interviews ermittelten Texte von durch Rassismus Betroffene würden verdichtet und „‘n eine gewisse dramaturgische Form [gebracht und von Schauspielern vorgetragen]. Wir erfinden aber nichts hinzu und behalten auch spezifische Ausdrucksweisen der Menschen bei. Deswegen nennen wir unsere Form auch ‚Wortwörtliches Theater‘“. […] Wir glauben an die Wirkung von Theater, die Kraft einer Inszenierung, an Schauspieler/innen als großartige Kommunikator/innen. Weil sie eben bestimmte Techniken und Ausdrucksformen beherrschen, können sie die Geschichten durch bewusste Gestaltung des Materials, durch dramaturgische Formen wirkungsvoll verbreiten.“ (38-39) Es geht also um ein politisches Projekt, das das Medium Theater zweckgebunden als Mittel nutzt, eine bestimmte politische Botschaft zu verbreiten. Interessant wäre es, die beiden Inhalte und Formen einer solchen politischen Arbeit mit den Mitteln des Theaters wie sie in Österreich und in diesem Projekt einmal sehr genau unter die Lupe zu nehmen und noch einmal sehr genau nach der Funktion von Kunst zu befragen. Kann Piscators theatraler Dreischritt „Kenntnis – Erkenntnis – Bekenntnis“ ein angemessenes Theaterverständnis umreißen? Ist es noch Kunst, wenn es klare politische Auftragsarbeit mit vorgegebenem Inhalt (Kenntnis), vorgegebener Botschaft (Erkenntnis) und Überleitung in Handlung und Aktivismus (Bekenntnis) ist?
Michael Wolf: Theater für den Heimbedarf: Wie Theater politisch wirksam werden kann
Wolf fordert als „Maximalziel des politischen Theaters“, dass es „im Zentrum einer Debatte Position beziehen“ muss. (45) Konkret heißt das für Wolf, dass sich die Stadttheater konkret mit den Themen der Stadt befassen sollen, mit Themen die alle dieser Stadt betreffen. Damit werde eine allgemeine Kritik am Kapitalismus, der Zunahme der Armut, dem klimaschädlichen Verhalten von Menschen usw. für die Menschen an Beispielen in der eigenen Stadt konkret erfahrbar, wenn internationale Konzerne die Stadtwerke aufkaufen, eine Suppenküche aufmacht, die SUVs zu Stoßzeiten die Straßen vor Kitas und Schulen verstopfen usw. Theater richte sich allzu bequem ein, wenn Politik nur immer woanders gemacht und erlitten werde. „Wenn die Bretter auf der Bühne aber nicht die Welt bedeuten, sondern die konkrete Umwelt des Zuschauers, dann ermächtigt Theater ihn zu ihrer Gestaltung, zur Korrektur des Bestehenden.“ (46) Politisches Theater müsse aber keineswegs im Provinziellen verharren. Es zeige im Gegenteil erst all die Verbindungen unserer Existenz auf – und damit auch deren Veränderbarkeit. Die Strategie solle heißen: Think global, act local. Ein solches Theater steche in die einzigen Wunden, die das Publikum wirklich schmerzten. „Weil man nach einer Aufführung an deren Themen vorbeikommt: sei es die Bauruine, das Rathaus, die still gelegte Bahntrasse.“ (46) Das Risiko, die Mächtigen zu verärgern, sei ein ganz reales Risiko. Es bedeute aber, „eine schon längst vergessene Idee des Theaters neu zu beleben: die eines Ortes, an dem auch im Jahr 2019 noch etwas auf dem Spiel steht, wo ein Unterschied gemacht werden kann.“ (46) Nach diesem Plädoyer für durch Theater motivierten Aktivismus schließt der Autor mit der Aufforderung: „Liebe Theaterschaffende, gehen Sie dahin, wo es wehtut: Bleiben Sie zu Hause.“ (46) – Wie bitte?
Die Broschüre ist als PDF kostenlos herunterzuladen oder als Papier-Broschüre gegen 2,00 € Versandkosten von hier zu beziehen > https://www.boell.de/de/2019/01/30/moralische-anstalt-20-ueber-theater-und-politische-bildung
Weiterführendes
- Hegemann, Carl 2005: Muss Theater Theater sein? Die Bühne als Anachronismus und Paradigma der Mediengesellschaft. In: Hegemann, Carl 2005: Plädoyer für die unglückliche Liebe. Texte über Paradoxien des Theaters 1980-2005. Herausgegeben von Sandra Umathum.Recherchen 28. Berlin: Theater der Zeit: 203-208
Schreiben Sie einen Kommentar