Hilliger, Dorothea 2018: K_Eine Didaktik der performativen Künste. Theaterpädagogisch handeln im Framing von Risk, Rules, Reality und Rhythm. Berlin/ Milow/ Strasburg: Schibri. 198 Seiten – Rezension
Hilliger nimmt Sean Pattens Konstrukt der vier Eckpunkte „Risk, Rules, Reality und Rhythm“ für das „Framing“, in dem sich die Performance-Gruppe Gob Squad künstlerisch bewegt, als Leitfaden ihres Buches „und als Orientierungsgrößen für die künstlerisch-pädagogische Arbeit“, die sie als Hilfestellung allen künstlerisch-pädagogischen Akteuren anbietet, die in „Gruppen von Amateuren“, die „unter teilweise äußerst schwierigen Rahmenbedingungen, was Finanzierung, räumliche Situation, Anerkennung der Arbeit u.a.m. angeht“, arbeiten müssen. (169-170)
Theater beziehe sich, so Hilliger, in seiner Dramaturgie von Handlungsbögen, Sprache, Figur, Körpern, Stimmungen, Atmosphären, Raum und Klang „’auf alle Elemente des Sozialen’ (Baecker 2013: 18)“. Die theatrale Kommunikation erfordere „Formfindung in Bezug auf ein jeweiliges eigenes Ausdrucksspektrum.“ Der „Grenzgang in künstlerisch-pädagogischen Projekten“ bestehe darin, „jungen Menschen zu diesem Spektrum, zu diesen Formen zu verhelfen, ohne ein festgelegtes Reglement vorzugeben.“ (170-171) Die Antwort auf die zentrale Frage einer Didaktik für Theater, wie das geschehen soll, bleibt Hilliger allerdings schuldig. Die Qualität des Buches liegt auf einem anderen Gebiet.
Hilliger ist Professorin an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig im Studiengang Darstellendes Spiel/Kunst in Aktion und dort verantwortlich für die Ausbildung von Lehramtsstudenten für das Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel im bislang einzigen grundständigen Universitätsstudiengang für Theater-Lehrkräfte in Deutschland.
Am Anfang stand, so Hilliger, eine Arbeitsgruppe zur Ausformulierung einer Didaktik der performativen Künste bestehend aus Christina Hoffmann-Möller, Gerd Koch, Marianne Streisand, Ulrike Hentschel und Volker Jurké. (14; Fußnote 3)
Die im Buchtitel angedeutete Untentschlossenheit bezüglich der Frage, ob es eine Didaktik der performativen Künste geben könne oder nicht, löst Hilliger gleich zu Beginn auf: „[…] Eine Didaktik schrieben wir aber nicht. In der Analyse dieses Scheiterns erschien uns als zentraler Aspekt, dass es eine Didaktik, die eine gewisse Allgemeingültigkeit behaupten muss, in diesem Fach nur schwerlich geben könne. Zu individuell seien pädagogische Herangehensweisen wie auch künstlerischer Ansätze – und mussten es auch sein, da das Handeln sich auf unterschiedliche Gruppen in verschiedenen Kontexten zu beziehen habe.“ (14) In der zugehörigen Fußnote formuliert Hilliger aber: „Auch Ulrike Hentschel hat jüngst einen Weg gefunden, eine Didaktik zu veröffentlichen. Sie versammelt dafür Beiträge der Lehrenden im Masterstudiengang Theaterpädagogik an der Universität der Künste Berlin. (vgl. Henschel 2016).“ (14) Liest man sich allerdings Hentschels unstrukturierte Aufsatzsammlung durch, dann wird man schnell feststellen, dass diese subjektiven, eigenwilligen und unverbundenen Darstellungen von Seminarabläufen und gedachten Seminar-Konzeptionen nicht im Ansatz als Didaktik bezeichnet werden kann (vgl. die Rezension dazu!).
Hilliger will mit ihrem Buch „Übergänge zwischen Kunst und Pädagogik“ aufspüren, um „Orientierungspunkte für eine zukünftige Praxis zu gewinnen.“ (9) Damit richte sich das Buch an alle, die künstlerisch mit Amateuren arbeiteten. Dabei nennt sie auch häufig explizit Theater-Lehrkräfte. Sie stellt die performativen Künste in den Fokus, „die nicht nur von einer Austauschbeziehung zwischen verschiedenen Kunstformen geprägt sind, sondern auch Übergänge zu anderen sozialen Handlungsfelder gestalten.“ (9) „Performative Formate“, so Hilliger, nähmen eigensinnig Bezug auf Phänomene in der sozialen Umwelt, die sie zum Ausgangspunkt künstlerischen Gestaltens machen. Dies werde deutlich im ortsspezifischen, biografischen oder dokumentarischen Theater. Dabei gehe es explizit darum, „neue Perspektiven auf das Selbst, eigene wie fremde Lebensformen und Haltungen zu gewinnen.“ (10) Die Voraussetzungen und Bedingungen der Perspektivengewinnung in der Gestaltung würden dabei offengelegt, „um beides mit einem Publikum zu verhandeln.“ (10) In diesem Prozess würden nicht nur die Grenzen zwischen den Kunstformen Theater, Performance, Bildender Kunst und Tanz überschritten, sondern auch die Grenzen zwischen sozialer Umwelt und Kunst und der Blick auf das Alltagsleben gerichtet. Zu fragen wäre, warum Hilliger hier keinen Verweis auf eine ähnliche – und allgemeinverbindliche – Forderung der EPA vornimmt, auf die sich alle Curricula für Theater-Unterricht letztlich beziehen müssen, nämlich:
- „Lebensweltliche Bezüge in die Gestaltung einbeziehen.
- Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Theater herstellen.
- Für die eigene Gestaltung Möglichkeiten soziokultureller Partizipation entwerfen.“ (EPA: 13)
Hilliger stellt einen Fragenkatalog zusammen, mit dessen Hilfe sie „Praxiswissen sichtbar und fruchtbar“ machen möchte, welches in einem Dialog mit historischen Entwicklungen und relevanten wissenschaftlichen Positionen Schlussfolgerungen für die Praxis erbringen soll:
- „Welche künstlerische Form für welche Themen wählen?
- Welches Format für welche Spieler?
- Homogene oder von Diversität gekennzeichnet Gruppen suchen?
- Recherchebasiert, mit einem dramatischen Text, biografisch oder ortsspezifisch arbeiten?
- Inhaltliche und künstlerische Entscheidungen vorab oder im Prozess treffen?
- Alleine oder in demokratischer Abstimmung?
- Als Kollektiv oder alleine in die Zusammenarbeit mit einer Gruppe gehen?
- Eher pädagogisch oder eher künstlerisch entscheiden?
- Eine Kooperation eingehen – und wenn ja, welche?
- Für die Theatergruppe einer Schule Künstler engagieren oder Lehrerkollegen eine qualifizierte Fortbildung ermöglichen?
- Wie vermeiden, dass in der Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Künstlern Konkurrenzen entstehen, die eine gegenseitige Bereicherung verhindern?
- Wie damit umgehen, dass Künstler nicht selten ohne adäquate Vorbereitung mit fremden institutionellen Strukturen konfrontiert sind?
- Ist eine künstlerische Arbeit in theaterfernen Strukturen überhaupt möglich?
- Was tun, wenn Bildungsinstitutionen Projekte zwar gerne annehmen, daraus abzuleitende Bildungsimpulse Aber nicht weiterführen?
- Von welchem Theaterverständnis ausgehen?
- Und von welchem Verständnis von Didaktik?“ (11-12)
Hilliger ist es wichtig, einen Handlungsraum zu beschreiben und zu eröffnen, „der den Eigensinn und die Dialektik des künstlerischen wie des pädagogischen Tuns würdigt und nicht, wie es in manchen Handreichungen, Methodiken, (Fach-)Didaktiken oder Curricula der Fall ist, in eine normative Strenge, pädagogische Engführung oder bürokratische Ausrichtung“ verfallen. (12) Sie will Wegmarken und Pfade bezeichnen, denen der Leser, der Theaterpädagoge ebenso wie der Theaterlehrer selbstständig folgen und sich genauso selbstständig ihre Wege suchen können. Wir in Hessen nannten das als Kinder Schnitzel-Jagd oder Schnipsel-Jagd, weil auf einem Parcours zahlreiche Hinweise versteckt waren (auf Zetteln), die man finden musste, um den weiteren Weg und letztlich das Ziel zu erreichen. Heute nennt man dieses spielerische Abenteuer wohl Geocatching. Natürlich haben wir uns damals auch immer wieder verlaufen, weil die gestreuten Wegmarken und Pfadmarkierungen nicht präzise genug, missverständlich, gar nicht zu finden waren oder einfach nicht verstanden wurden, weil der Schreiber sich vieldeutig geäußert hatte. Das waren dann schlechte Wegweiser von einem, der es hätte wissen müssen. Soweit zu der Analogie, die sich beim Lesen Hilligers Buch aufdrängt und, wie wir später noch sehen werden, mehr und mehr bestätigt.
Als zentrales theatrales Handlungsfeld macht Hilliger ein sogenanntes Dazwischen aus (vgl. dazu auch Hentschels Konstrukt eines sog. Dazwischen, in dem sie den Kern und das Wesen von Ästhetik behauptet 2010). Hilliger benutzt diesen Hilfs-Begriff hier aber anders. Er definiere sich durch das „Fragmentarische“ und die „Denk- und Handlungsfigur des Übergangs“. (15) Diese Denkfigur ermögliche es, „unterschiedliche Bereiche des kulturellen Lebens wie Kunst oder Pädagogik in ihrer jeweiligen Spezifik zu begreifen, dabei aber die Verflechtungen zwischen ihnen, die Überschneidungen, Analogien und Gemeinsamkeiten aufzusuchen.“ (15) In dieser Denkfigur des „Übergangs“ sei die im Fragment enthaltene Unabgeschlossenheit und Offenheit aufgehoben. „Diese können zu einer produktiven Unordentlichkeit im Nachdenken über Kunst und Pädagogik führen, in deren Folge sich neue pädagogische wie künstlerische Wege erschließen lassen.“ (15)
Unordentlichkeit als Struktur-Prinzip für die Ausformulierung einer Didaktik anzunehmen, die die Aufgabe hat, eine sinnstiftende und wirkungsvolle Lehr- und Lernordnung zu kreieren, irritiert; ebenso der Hinweis an den Leser, dass es gleichgültig sei, ob man das Buch linear lese oder quer einsteige, um „das Bedeutungsnetz selbst zu entwickeln. Dafür findet sich im Anschluss an die Einleitung ein alphabetisch [!] geordnetes Inhaltsverzeichnis alle Überschriften dieses Buches, die, egal ob sie zentrale Kapitel oder Unterabschnitte bezeichnen, die gleiche Gewichtung erfahren. Sie können als Fragmente eine künstlerisch-pädagogischen Praxis wie Theorie gelesen und angeeignet werden.“ (16) Es ist schwer nachvollziehbar, wie aus dieser verordneten Gleichrangigkeit von Bedeutungerzeugendem (Woher ist mir dieses Dogma nur bekannt? Ah ja, von der Forderung der angeblichen Gleichrangigkeit der theatralen Mittel durch einige sog. Postdramatiker.) eine Didaktik, also eine Unterrichtslehre hervorgehen soll, die Theater-Lehrkräften eine Fundierung und Orientierung in ihrer Arbeit vermitteln soll.
Im Kapitel 3 erfährt der Leser, dass sich Hilliger nun doch dazu entschlossen hatte, eine Didaktik der performativen Künste zu schreiben. Die Dringlichkeit, eine Didaktik zu formulieren, entspringe in ihrer Beobachtung daraus, dass „noch immer Arbeiten [entstünden], die einem veralteten Bild von theatralischer Professionalität“ anhingen, und die das „Risiko künstlerischer Findungsprozesse gänzlich scheuen und dies mit pädagogischen oder institutionellen Notwendigkeiten begründen.“ (17) Es wäre interessant zu erfahren, auf wen sich Hilliger hier bezieht, damit der Leser eine Einordung vornehmen kann.
Im weiteren Verlauf von Hilligers eher unstrukturiert, akkumulativ wirkenden Ausführungen, die manchmal den Eindruck aufkommen lassen, dass hier nach langer Diskussion verschiedenster Positionen (vgl. den Hinweis Hilligers auf die Entstehung ihrer Didaktik) Protokollfragmente der Diskussionen als „Zettelkasten“ zwischen zwei Buchdeckel geheftet wurden. Dies wird besonders deutlich in zahlreichen fundamentalen Widersprüchen, die reihend nebeneinanderstehen und nicht diskursiv bearbeitet werden. Dies beginnt schon mit der anfangs gemachten Behauptung, eine Didaktik des Theaters zu formulieren sei unmöglich und der kurz drauf folgenden häufig wiederholten Behauptung, dass das vorgelegte Buch eine Didaktik sei. (14, 43, 47 usw.)
Der immer wieder angesprochene Widerspruch zwischen Kunst und Pädagogik wird letztlich nicht grundlegend bearbeitet und aufgelöst. So wird einmal die Kunst in dieser Beziehung priorisiert (30, 32, 35, 57 usw.), ein anderes Mal soll die Kunst im Pädagogischen aufgehoben sein (63), es soll gleichwertig Bezug genommen werden auf Kunst und Pädagogik (44), soll ein künstlerischen Prozess nach soziale Gesichtspunkten gestaltet werden (67) bzw. wird auf der einen Seite dieser Widerspruch als obsolet bezeichnet, auf der anderen Seite häufig als grundlegender Konflikt weiter behauptet, ohne wirklich eine Vermittlung beider Bereiche zu leisten.
Immer wieder wird die Forderung erhoben, dass ein künstlerischer Prozess nur in Offenheit geschehen könne. Dabei müsse von den Interessen und Bedürfnissen der jugendlichen Amateure ausgegangen werden (35 usw.). Als vorbildhaftes praktisches Beispiel beschreibt Hilger dann aber die Arbeitsweise einer professionellen Theatergruppe, die autoritär die ihnen anvertrauten Jugendlichen als Einstieg mit einem „hoch elaborierten Theatertext“ (57) konfrontiert. In dieser immer wieder zu beobachtenden Vorgehensweise offenbart sich eine Haltung von Künstlern, die man schwerlich als einfühlsam, sensibel und den Kindern zugewandt bezeichnen kann, also maximal unpädagogisch, so beispielhaft: „’[…] haben wir uns nicht gefragt, was Kinder sehen wollen, sondern was wir gerne sehen würden und dass das dann für die Kinder schon okey sein wird.’“ (45; siehe weitere Beispiel für eine derartige Überheblichkeit und Geringschätzung gegenüber pädagogischen Erkenntnissen in: Dan Droste: 2010)
Hilliger formuliert für den Einstieg in die Theaterarbeit mit Kindern und Jugendlichen die Frage. „Wie also können Kinder und Jugendliche zu einer offenen Haltung gegenüber theaterkünstlerischen Suchbewegungen geführt werden?“ (64) und ihr erscheint der Einstieg dabei wesentlich zu sein („Starting-Point“). Dabei solle „die künstlerische Suche auf einen Aspekt konzentriert werden, bezogen beispielsweise auf Raum, Bewegung, Objekte oder das soziale Umfeld“ (65). Hilliger verweist dabei auf die Notwendigkeit, „minimale Verschiebungen im Blick“ zu ermöglichen. (65) Der Einstieg in eine Arbeitsweise, die die Theaterkunst von jeher auch kennzeichnet, sei die künstlerisch akzentuierte Recherche im sozialen Feld. „In ihr liegt der Schlüssel, alle an einem Projekt Beteiligten zu Wort kommen zu lassen.“ (65, 67 usw.) und die Qualifikation der Theater-Lehrkraft, „einen künstlerischen Prozess nach sozialen Gesichtspunkten zu gestalten.“ (67) Zu vermitteln sei „Zwischen Gestaltungsformen des Theaters, den Realitäten einer Gruppe und der pädagogischen Situation sowie den Interessen der Anleitenden. […] Die Anleitenden müssen also ganz sicher viel und Wesentliches können […]. (67) Dieses „viel und Wesentliches“, was es auch sein mag, benötigen Theater-Lehrende sicher, wenn sie Hilligers Aufforderung folgen wollen, die von ihr rezensionartig beschriebenen Stücke avantgardistischer Performance-Gruppen wie Gob Sqod, RiminiProtokoll, SheShePop usw. natürlich nicht zu kopieren, aber in ihre jeweils selbst zu schreibende Didaktik zu transferieren.
Eine erheblich bedeutsamere Gruppe für Theater-Unterricht (aber nicht ganz so berühmt) wird leider nicht beschrieben, nämlich Frl. Wunder AG (vgl. dazu das neue und überarbeitete Kursbuch Darstellendes Spiel 2018). Ebenso fehlen Verweise auf die wirklich und tatsächlich wegweisende Arbeit von Wenzel, der bereits in den 1990er Jahren belegt und theoretisch fundiert hat, wie auf postdramatische Weise mit Jugendlichen gearbeitet werden kann.
Der offensichtliche Widerspruch einer unpädagogischen Überforderung gegenüber einer einfühlsam formulierten Herausforderung, die Schüler zur Auseinandersetzung motiviert und eine Vision der Leistbarkeit kreiert, bleibt scheinbar unaufgearbeitet. Ebenso und unaufgearbeitet bleibt die Frage, in welcher Weise Schüler diejenigen Kompetenzen erwerben können, die sie überhaupt erst in die Lage versetzen, ihren Anliegen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen, will man nicht das Dilettantische im sog. Nicht-Perfekten zur Kunst umetikettieren. Hilligers Aussage: „Die Frage nach der richtigen Aufgabenstellung oder Übung tritt in den Hintergrund […]“ zeigt die Geringschätzung einer durch die Lehrkraft gestellten zielorientierten Aufgabe für die Schüler, die ihnen einerseits Anreize gibt die benötigten Kompetenzen zu erwerben, andererseits die Richtung als lernende Anfänger weist, in der sie Felder finden können, die sie möglichst selbstständig bearbeiten können (sog. Lernsettings; vgl. „Die Kunst Theater zu lehren“). (65) Hinweise wie: „Das Theater spielt mit Fragmenten und Zeichen der Realität, verschiebt und verfremdet sie, strukturiert sie um, umso dem Publikum durch die spezifische Fokussierung der Aufmerksamkeit zu Erfahrungen und Sichtweisen auf die Welt zu verhelfen, die es außerhalb des Theaters nicht machen oder entwickeln könnte’ (Brandstätter 2008: 45)“, können hilfreich sein, und „In der künstlerisch gestalteten Theaterhandlung kann die Stimme junger Menschen eine eigene Präzision und Kraft entfalten […]“. (66)
Werden aber nur allgemeine und widersprüchliche Hinweise gegeben, in welcher Art und Weise junge Menschen die Kompetenz erwerben sollen, Zeichenhaftigkeit von Realität, Fragmentiertheit von Realität erkennen, verschieben, verfremden und umstrukturieren zu können, bleiben diese Hinweise letztlich für Theater-Lehrkräfte und ihren Unterricht bedeutungslos. Das wissen sie. Das Entscheidende sind hilfreiche Hinweise für die Umsetzung all dieser Forderungen in eine strukturierte unterrichtliche Praxis.
Als Beschreibung für ihre Didaktik bemüht Hilliger das Format und Konzept eines Kursbuchs; den Verweis auf bereits vorliegende Kursbücher zum Erwerb theatraler Kompetenzen im Theater-Unterricht gibt sie nicht. (47) Das „Kursbuch Darstellendes Spiel“ von 2009 wird zwar im Literaturverzeichnis genannt, dessen Inhalte finden aber keinen Eingang in Hilligers Überlegungen und Themensammlung. Stattdessen stellt sie beispielsweise in Bezug auf die Raumnutzung durch Schüler im Theater-Unterricht fest: „Der handelnde Umgang mit den Bedingungen, den Grenzen und Begrenzungen, die dem lernenden Subjekt in der räumlichen Struktur entgegentreten, muss in diesem Verständnis vom Emanzipation Teil des Lernprozesses selbst werden. Dazu gehört vor allem die Erfahrung und hier raus zu gewinnende Erkenntnis, das Räume immer wieder neu und anders gespielt werden können. Meine These ist, dass die performativen Künste diese Spielräume in besonderer Weise sichtbar machen können.“ (131) Das ist natürlich richtig, aber bereits im „Kursbuch Darstellendes Spiel“ von 2009 bzw. in der Konzeptbeschreibung für Theater Unterricht „Körper und Raum“ von 2000 ausführlich entfaltet worden. Eine Auseinandersetzung mit diesen didaktisch fundierten Entwürfen wäre in Hilligers Diskurs möglicherweise hilfreich gewesen, als hier lediglich wieder nur eine entsprechende Forderung zu stellen. Wir sind längst viel weiter. Auf diesem Hintergrund muss auch nach Hilligers „Plädoyer für die Einrichtung eines regulären Schulfaches Theater“ (12; Fußnote 1) im Jahr 2018 befragt werden, das in 11 von 16 Bundesländern bereits reguläres Schulfach auf curricularer Basis ist, und es umfangreiche Bestrebungen gibt, das Fach Theater weiter auszudehnen, z.B. als Leistungskurs in der Oberstufe z.B. in Bremen, als durchgängig verpflichtendes Fach ab dem ersten Schuljahr wie z.B. in Berlin, als verpflichtend in den Curricula anderer Fächer in vielen Grundschulen usw. usw.
Zentrale Begriffe wie Theaterpädagogik, Theater in der Schule und Theater-Unterricht werden häufig synonym verwendet und behindern folglich den Erkenntnisprozess, da die nötige Trennscharfe in den Bezeichnungen schlichtweg fehlt und es somit zu irrigen Schlussfolgerung kommt bzw. diffusen oder platten Handlungsanweisungen.
Ein zentraler nicht aufgelöster Widerspruch offenbart sich in der häufigen Forderung Hilligers, dass die Jugendlichen die sie bewegenden Themen selbst einbringen und selbstständig künstlerisch gestalten sollen. Die Beschreibung, wie sie dies im Theater-Unterricht tun sollen, bleibt Hilliger schuldig. Auch gibt sie keine Verweise auf bereits seit 20 Jahren vorliegende qualifizierte Lehrbücher außer auf ihr eigenes Buch aus dem Jahre 2009, das wesentliche Veränderungen der letzten zehn Jahre in Bezug auf Theater-Unterricht in Schulen logischerweise nicht enthält.
Hilliger gibt viele interessante Anregungen, entfaltet Gedanken und gibt Verweise, leider wenig strukturiert, die aber sicherlich in einigen Aspekten eine hilfreiche Vorarbeit für die Ausformulierung einer Didaktik für Theater darstellen können.
Auch bei den heftigsten Plädoyers für Offenheit im künstlerischen Prozess bedarf es einer dramaturgisch gesicherten Lernstruktur auf der Basis psychologisch-lernpädagogischer Erkenntnisse sonst verkommt künstlerisches Lernen durch gehypten Dilettantismus des sog. Nicht-Perfekten in beliebigem Herumsuchen und -werkeln, und ziellosem Basteln ohne einen sichtbaren Zugewinn an theatralästhetischer Gestaltungskompetenz. Lernen, auch im Kunstbereich, funktioniert nicht ohne einen methodisch-systematischen Kompetenzerwerb, und zwar möglichst im Kontext mit vielfältigen Gestaltungsexperimenten und der gleichzeitigen Anwendung und Überprüfung und Erprobung des Gelernten in Proben.
Eine Didaktik, die Theater-Lehrkräften hilft, einen fundierten und strukturierten Theater-Unterricht zu planen, hat Hilliger demnach hiermit weniger vorgelegt, also eher „Keine Didaktik der performativen Künste“.
Schwerpunkt der Zusammenstellungen der unterschiedlichsten Aspekte, die sicherlich alle mehr oder weniger eine Relevanz für die Formulierung einer Didaktik haben, ist der Versuch, Ziele „der Theaterpädagogik“ zu benennen. Das haben bereits zahlreiche andere Autoren umfänglich und vielfach getan. Das entscheidende Manko des Buches ist das Fehlen von ausführlichen und nachvollziehbare Beschreibungen, wie diese Ziele von „Theaterlehrern“ erreicht werden sollen. Da reicht es nicht, wenn auf eine besondere Qualifikation der Lehrenden verwiesen wird. Es braucht auch konkrete Beschreibungen, wie Unterricht aussehen soll. Eine Didaktik ist eine Unterrichtslehre, nicht nur eine Inhaltsangabe der Stoffe und Themen und Begründungen, warum gerade diese gelehrt werden sollten. Auf der letzten Textseite des Buches wird zusammenhanglos eine(!) Übung aus dem Impro-Theater beschrieben. Der Leser bleibt irritiert zurück.
Fazit und was bleibt. Das anfänglich vage Gefühl hier einen unstrukturierten „Zettelkasten“, quasi als Schnitzeljagd, vorgelegt zu bekommen, hat sich mit den zahlreichen Stichwort-Listen (72-73; 92-94; 111-113), als „Memos“ bezeichnet, und der letzten Seite des Buches nochmals erhärtet. Aber Hilligers (bzw. der eingangs beschriebenen Autorengruppe) „Zettelkasten“ hat es in sich. Wenn man keine stringente Ableitung eines Lerngegenstandes aus der Kunstform Theater bzw. der performativen Künste in eine den Unterricht theoretisch fundierende und für Unterricht konkrete Hinweise gebende Didaktik erwartet, dann ist dieses Buch jedem Lehrenden, der ja auch immer ein Lernender sein muss, wärmstens ans Herz gelegt, wenn er es ernst meint mit einem emanzipativen Anspruch und einen fundierten Unterricht plant. Im Kontext mit der „Kunst Theater zu lehren. Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel“ können sich Lehrende ausstatten mit einem Grundgerüst an Erkenntnissen und Handlungsanregungen. Hilliger skizziert die zahlreichen Stränge der unterschiedlichen Disziplinen von Theatertheorie und -wissenschaft, Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Politik, Geschichte usw., ihre Denkansätze, Hypothese und Erkenntnisse, die einer Absicht, eine Didaktik für Theater schreiben zu wollen, zugrunde liegen. Ihre Arbeit kann also eine Hilfe sein, will man dieses weite Feld einmal grundlegend in alle nur denkbaren Richtungen durchstreifen. Insofern sind ihre Hinweise ein Angebot, selbst weiter zu suchen und in den Gebieten auf Forschungsreise zu gehen, die einen Theaterpädagogen oder einen Theaterlehrer mit einer Haltung ausstatten kann, nun genauer zu überlegen, nachdem er vielfache Begründungen gelesen hat, welche Lernziele anzustreben sinnvoll ist, nun sich der entscheidenden Frage zuzuwenden, wie soll dann ein entsprechender Unterricht aussehen und wie soll das Lehren im Unterricht strukturiert sein. Dieses Hinweise gibt Hilliger nicht. Hier schließt „Die Kunst Theater zu lehren“ an und erläutert als eine Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel, wie gelehrt und gelernt werden kann, um die Ziele zu erreichen, die Hilliger benannt hat.
Diese Angebote genutzt sollte nicht mehr dazu verführen, im Theater-Unterricht als Lehrkraft die Rolle eines Regisseurs zu spielen, der seine Schüler in die Rollen als Schauspieler degradiert. Vorbei sollten die Zeiten sein, in der die Eitelkeit dominiert, einmal mit seinen Schülern, seinen Amateuren und Lernenden, z.B. Dürrenmatts „Physiker“ psychorealistisch und das Berufstheater nachäffend im Bürgerhaus vor „großen“ Publikum aufzuführen und sein Humankapital (den Schülern) seinem Ziel unterordnet, einmal einen Festspielpreis bei den Landes- und Bundesschultheatertreffen zu erringen.[1] Ziel sollte es sein, in der Beschäftigung mit Theater und performativen Künsten den Heranwachsenden, insbesondere im schulischen Theater-Unterricht, denn hier erreicht man die meisten, Erfahrungen zu vermitteln, wie es sich anfühlt eine eigene, eine gemeinschaftsstiftende Kunst/ Kultur gestalten zu können, die inkludiert und nicht exkludiert. Dieses künstlerische und gleichsam menschliche Ziel, und warum es eine so große Bedeutung hat, haben Hilliger und Kollegen noch einmal im Bereich der performativen Künste sehr deutlich entfaltet und hervorgehoben. Großen Dank!
Jetzt geht es aber darum, vielfältige Angebote zu machen, wie diese Ziele erreicht werden können, wie ein strukturierter Unterricht aussehen kann, der es erlaubt, dass die Schüler die Kompetenzen auch tatsächlich entwickeln, die sie benötigen, um das häufig und vielbeschworene Ziel erreichen zu können, ihren Anliegen eine künstlerische Form zu verleihen und entsprechend präsentieren zu können, ohne dass professionell-kommerzielle Theaterkünstler in den Theater-Unterricht kommen müssen und dem Lehrer zeigen, wie sie Regie führen, so als ob alle Theater-Lehrkräfte schlichtweg unqualifiziert seien. Dies ist kein Plädoyer gegen eine Kooperation von Künstlern, Theater-Pädagogen und Theater-Lehrkräften. Sie können viel voneinander lernen (vgl. Strategischer Reißverschluss[2]). Es ist eher ein Plädoyer für eine angemessene und hilfreiche Unterstützung von Theater-Lehrkräften mit dem Mittel einer angemessenen und hilfreichen Theater-Didaktik und weiterer Qualifizierung der Theater-Lehrkräfte.
[1] Vgl. beispielsweise das 38. Berliner Theatertreffen der Jugend 2017 Anmerkungen.
[2] Vgl. „Theater-Pädagogen und Theater-Lehrkräfte“ – zwei Spezies“ und „Strategischer Reißverschluss – Zusammenarbeit von Theater-Künstlern, -Pädagogen und Lehrkräften“
Weiterführendes
- Dan Droste, Gabi (Hg): 2010: Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit. Bielefeldt: transcript Verlag. 256 Seiten > Rezension
- Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) im Fach Darstellendes Spiel. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.11.2006
- List, Volker 2018: Die Kunst Theater zu lehren – Didaktik für Theater und Darstellendes Spiel. Hüttenberg: Angewandte Theaterforschung
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