Das Kursbuch-Konzept dokumentiert „eine radikal neue Bestimmung des Faches ‚Darstellendes Spiel’“ (Fopp 2013: 25), und es handelt sich um eine „für ein Lehrbuch durchaus neue Konzeption“ (Vaßen 2014: 151). So urteilen die Theater-Experten David Fopp und Florian Vaßen über das erste Kursbuch (Kursbuch Darstellendes Spiel. Oberstufe) der mittlerweile dreibändigen Kursbuch-Ausgabe.
46 ausgebildete Theater-Lehrkräfte von Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern haben im Schuljahr 2014/15 ihre Unterrichtserfahrungen mit dem neusten Kursbuch (Kursbuch Theater machen. Mittelstufe) aufgeschrieben und Angewandte Theaterforschung wertet sie aus.
Dies ist die erste Studie, die untersucht, welche Erfahrungen ausgebildete Theater-Lehrkräfte mit einem einheitlichen theatralen Bildungskonzept machen, das einer wissenschaftlich aufgearbeiteten Didaktik des Theaters/ Darstellenden Spiels für Theaterunterricht in der Sekundarstufe 1 auf der Grundlage eines Schüler-Arbeitsbuches folgt.
Es gab bis jetzt keine Untersuchung, die sich mit dem modularen, systematisch-methodisch aufgebauten theatralen Bildungskonzept auseinandersetzt, wie es in den Kursbüchern (List: 2009, 2012, 2014) vorgelegt wurde. Die durchgeführte Studie versucht einen ersten Schritt zu gehen, diese theoretische Lücke zu schließen, auf die auch von Weig und Klepacki hingewiesen wird: „… solche systematisch ausformulierten didaktische Verständnisse und in weiterer Folge Konzeptionen von Theaterunterricht im Fachdiskurs wenig verbreitet sind.“ (Weig/ Klepacki 2015: 18) und „die kulturpädagogische Praxis ist vielerorts noch wenig wissenschaftlich fundiert.“ (Hübner 2015: 7) „Professionelles praktisches Wissen lässt sich nur in der Praxis erwerben, nicht durch Theorien und Modelle der Didaktik oder durch Didaktikseminare. Praktisches Wissen entwickelt sich über einen längeren Zeitraum in Erfahrungszusammenhängen und institutionellen Kontexten sowie in der Auseinandersetzung mit konkreten Problematiken und Erfolgen.“ (Klepacki/ Zirfas: 2013: 7)
Die Evaluation versucht außerdem einen Beitrag zur Weiterentwicklung eines theatralen Lernkonzepts zu leisten, die Erfahrungen aus reflektierter praktischer Unterrichtsarbeit für eine Didaktik des Theaters/ Darstellenden Spiels nutzbar macht. Die theoretischen Reflexionen dieser Didaktik des Theaters wiederum generieren rückwirkend Impuls für eine theatrale Praxis des Theaterunterrichts. Als Ergebnis ist außerdem eine Schärfung der theoretischen Systematik theaterästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten zu erwarten.
In der aktuellen theatralen Bildungsdiskussion werden häufig zwei Positionen analytisch gegenübergestellt, die im Grunde nur zwei Facetten eines Themas sind, und versucht sie gegeneinander auszuspielen. Theaterkünstler und -macher geben der Kunstform den Vorrang vor dem Bildungsauftrag. Zugespitzt wird unterstellt, dass die Kunstform Theater durch die Ansprüche und Bedingungen des Bildungssystems Schule zerstört würde. Pädagogen sind dagegen der Meinung, dass die Kunstform Theater sogar ein besonders bedeutungs- und wirkungsvolles Bildungsinstrument ist und die Theaterkunst im Unterricht kompetenzorientiert von Schülern erlernt werden kann und damit auch beschreibbare Bildungsstandards angestrebt werden können (vgl. auch Mieruch/ Sting 2015: 3 und Reiss 2015).
Lösungsangebote dieses Dissenses deuten verschiedene Autoren an.
Auf eine konstruktive Anregung soll hier hingewiesen werden, die im Gegensatz zu Jurkés Ausnahmemodellen mit einer Betreuung von 20 Schülern durch 5-6 Lehrer und Künstler, in denen der im Moment häufig geforderten (sinnvollem Lernen widersprechenden) „Überforderung“ der Schüler das Wort geredet wird und „ein überdurchschnittlich gutes künstlerisches Niveau der Präsentationen – nicht zuletzt dank des extrem(!) hohen engagierten Einsatzes der KünstlerInnen und KollegInnen – festgestellt werden.“ (Jurké 2015: 41)
Pfeiffer beschreibt im Gegensatz zu Jurké einen hilfreichen Lösungsansatz, kulturelle Bildung als Theater-Unterricht in allgemeinbildenden Schulen als Regelunterricht zu etablieren. Er fordert Strukturen, „die Theaterschaffende nicht als pop-art-artists in Schulen verpflanzen, sondern als Wegbegleiter installieren“, als Coaches für Lehrkräfte, die fest an Schulen mit einem bestimmten Kontingent angestellt sind und somit dauerhaft Schulen zur Verfügung stehen, sodass sie nicht Verblendungen mit Leuchttumprojekten und Strohfeuern betreiben, die als beeindruckende Irrlichter nur vorgaukeln, dass dort vorbildhafte theatrale Bildung für alle Schüler betrieben würde. „Andersherum könnten Lehrerinnen Methoden- und Vermittlungskompetenz an KünstlerInnen weitergegeben und sie motivieren und befähigen, auch die Vermittlung ihrer Arbeit zu gestalten: (…) So etwas lässt sich nicht ohne das Expertenwissen(!) von Lehrern konzipieren.“ (Pfeiffer 2015: 35)
Mit der Befragung einer Gruppe von Theater-Lehrkräften und der Interpretation ihrer Erfahrungen mit dem dritten bisher erschienenen Kursbuch (Kursbuch Theater machen) wird eine vorläufige erste Bilanz zu dem theatralen Kursbuch-Bildungskonzept durchführt. Siehe auch die Rezension zum Kursbuch.
Im Einzelnen soll die Befragung helfen zu klären, ob
- das modularisierte Erlernen theatraler Teil-Kompetenzen und unmittelbare Gestalten mit den Mitteln, Techniken und Methoden des Theaters mit anschließenden Präsentationen vor der Gruppe und in kleinen Projekten die Schüler befähigt, zunehmend selbstbestimmter mit dem theatralen System umzugehen
- die Schüler mit Hilfe des schrittweisen Erwerbs des theatralen Handwerks dazu befähigt werden, nach und nach einen ästhetischen Gesamtausdruck herzustellen und diesen als ästhetischen Gesamteindruck wahrzunehmen und fachangemessen beschreiben zu können (Holismus versus De(kon)struktion und Atomisierung)
- das Konzept des Kursbuchs allen Schülern eines Kurses angemessene Trainingsmöglichkeiten bietet, Kompetenzen in allen Teilbereichen der Lernumgebung Theater zu erwerben
- das im Kursbuch enthaltene „Wörterbuch theaterpraktischer Begriffe“ dazu führt, dass die Schüler im Unterricht Fachbegriffe verwenden und diese ihnen helfen, ihr Tun und ihre erzeugte Wirkung zu beschreiben und sie sich über das System Theater untereinander zielgerichteter verständigen können
- die Impulse des Kursbuchs Schüler zur Übernahme von Verantwortung und damit zu Selbstständigkeit im theatralen Prozess anregt.
Das Ergebnis der Befragung dient darüber hinaus als Grundlage, um Schlüsse ziehen zu können für eine mögliche Veränderung und weitere Verbesserung des Bildungsangebotes Theater als Theaterunterricht in Schulen und die Weiterentwicklung einer Theater-Didaktik.
Als Tendenz zeigt sich in der Auswertung der Befragung, dass die Theater-Lehrkräfte die neuen Bedingungen für Schultheater (regulärer Theater-Unterricht) überwiegend anerkennen und nicht mehr – in unreflektierter Übernahme der Theater-AG-Tradition – in der Rolle von Regisseuren ihre Schülergruppen dazu benutzen, fertige Stücke zu inszenieren, um sie vor großem Publikum aufzuführen.
Die Theater-Lehrkräfte erkennen die Bedeutung des theatralen Handwerks, wie es das Training im Kursbuch anregt, und des Erwerbs der entsprechenden Kompetenzen als Voraussetzung dafür, theaterästhetische Prozesse – zunehmend auch selbstständiger – zu initiieren und eine ästhetische Gesamtwirkung in einer Aufführung anzustreben.
Kritische Stimmen verweisen auf das hohe Anspruchsniveau für die Mittelstufe, wenn es auch um den Erwerb von Dramaturgie- und Regie-Kompetenzen geht.
Die Wichtigkeit eines präzisen theaterpraktischen Fachvokabulars wird hervorgehoben. Das im Kursbuch Theater machen integrierte Wörterbuch theaterpraktischer Begriffe unterstütze die fachangemessene Kommunikation und Reflexion über theaterästhetische Prozesse und Arbeitsergebnisse. Es fördere zudem die sprachliche Kompetenz eigene und fremde ästhetische Arbeitsprozesse und -ergebnisses plausibel zu analysieren und transparent zu bewerten. Klare und nachvollziehbare Kriterien erleichterten die Notengebung, die die Schüler in ihrer Selbsteinschätzung unterstütze.
Die Daten der Evaluation werden in Kooperation mit der Universität Siegen aufgearbeitet. In der Publikation „Die Kunst, Theater zu unterrichten“ von Volker List werden die Ergebnisse der Studie mit dem Kursbuch und die daraus ableitbaren Schlussfolgerungen und Empfehlungen insbesondere für Autoren von Theater-Curricula, für Theater-Pädagogen und -Lehrkräfte veröffentlicht werden.
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Literatur
- Fopp, David 2013: Ausbruch und Zuwendung – eine Einführung in die Ästhetik. Philosophisch-praktische Essays zum „applied theatre“/Angewandten Theater TP1. Das Film- und Schauspielbuch. Edition TP1 Band 3 Theater & Pädagogik. Stockholm
- Hübner, Kerstin 2015: Kulturelle Bildung reloaded: Fachunterricht oder Künstlerprojekt? Pluralität, Positionen und Projekte in der kulturellen Bildung. Plädoyer für eine Verzahnung schulischer und außerschulischer Verantwortung für Kulturelle Bildung. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015, Uckerland: Schibri: 6-9
- Jurké, Volker 2015: Achtung Erkenntnis! Teil II. Theater macht Schule – SprachRäume-SprechOrte. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015, Uckerland: Schibri: 38-42
- Klepacki, Leopold/ Zirfas, Jörg 2013: Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
- Mieruch, Gunter/ Sting, Wolfgang 2015: Kulturelle Bildung reloaded: Fachunterricht oder Künstlerprojekt? In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015, Uckerland: Schibri: 3-4
- Pfeiffer, Malte 2015: Beziehungen statt Affären! Für eine kontinuierliche Zusammenarbeit von KünstlerInnen an Schulen. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015, Uckerland: Schibri: 34-35
- Reiss, Joachim 2015: Fachunterricht oder Künstlerprojekt? In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015, Uckerland: Schibri: 10-13
- Scheller, Paul 2014: Buchbesprechungen. Volker List, Kursbuch Theater machen. In: Spiel & Theater Heft 194 Oktober 2014. Weinheim: Deutscher Theaterverlag: 40-42 > Rezension
- Vaßen, Florian 2014: Gemeinsam lernen. Theaterpädagogik und ästhetische Erfahrung. In: Primavesi, Patrick/ Deck, Jan (Hg) 2014: Stop teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript > Rezension
- Weig, Maximilian/ Klepacki, Leopold 2015: Theater unterricht(en) – didaktische Grundfragen. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik. Korrespondenzen. Heft 66. April 2015, Uckerland: Schibri: 16-20
- http://www.kultur-bildet.de/artikel/baden-wuerttemberg-kooperationsvereinbarung-zur-zusammenarbeit-im-ganztagsschulbereich
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