Liebau, Eckart/ Klepacki, Leopold/ Zirfas, Jörg 2009: Theatrale Bildung. Theaterpädagogische Grundlagen und kulturpädagogische Perspektiven für die Schule. Weinheim und München: Juventa. 183 Seiten – Rezension
„Voraussetzungen und Effekt theatraler Bildungsprozess in der Schule“, so das Autorenteam, sind „Selbstständigkeit, Interaktivität und Sozialität. […] Anhand einer „theoretischen Grundlage des Schultheater“ soll in dieser Studie gezeigt werden, dass über diese von der OECD (2002) definierten Schlüsselkompetenzen hinaus die „Fähigkeiten der Individualität, Reflexivität und Performativität“ (7f) erworben werden können.
Inhalt
- Bildung
- Theater
- Schule
- Ästhetisch-theatrale Bildung
- Theater-Pädagogik
- Die Perspektive: Kulturpädagogik
Wissenschaftliche Pädagogik muss u.a. „empirisch aufklären, was in der Praxis der Fall war und ist; und sie muss pragmatisch auf dem Weg erfolgskontrollierten Versuchens je zeit-, situations- und problemangemessen neue Problemlösungen erfinden und entwickeln.“ (8f) Das heißt im Einzelnen, dass u.a. folgende grundlegende Fragen beantwortet werden: „Welches Modell von Bildung, genauer von theatraler Bildung, ist für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bedeutsam? […] Was genau lernen Kinder und Jugendliche, wenn sie sich mit Theater als spezifischer Kunstform auseinandersetzen?“ (14) Daraus abgeleitet wird ein „Modell einer Theaterpädagogik“. (14)
Ausgehend von Humboldts Bildungsbegriff zeigen die Autoren, das „die Kunst für die Bildung eminent bedeutsam [ist], da sich in ihr Individuelles und Allgemeines, Ich und Welt (als gemeinsamer Suchprozess von Lehrenden und Lernenden organisiert) miteinander verschränken.“ (26) Auf Mollenhauer verweisend, bestätigen sie, dass es unmöglich sei, gesichertes und zuverlässiges wissenschaftliches Wissen über Bildung zu erzeugen. (27)
„Im modernen Verständnis bezieht sich Bildung stärker auf die Kultivierung des Individuums für das Individuum um seiner selbst willen. Dies bedeutet mithin eine Vervollkommnung der individuellen Kräfte und Fähigkeiten, der subjektiven Erlebnis- und Handlungsformen und die Freisetzung von Eigenständigkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen, die in der Auseinandersetzung mit vielfältigen – kulturellen, sozialen, ökonomischen, sprachlichen etc. Welten – entsteht, […] unter dem Ziel der Höherentwicklung der Menschheit. […] Bildung wird hier nicht als nützliche Magd der Gesellschaft und des Staates verstanden, sondern als das oberste und vornehmste Ziel, dem sich Gesellschaft und Staat unterzuordnen haben.“ (19/ 29)
Die Schwierigkeiten, aus einer Theorie der Theaterpädagogik eine Empirie von Bildungshandlungen abzuleiten, zeigen sich u.a. auch in der stetigen Wandelbarkeit theatraler Normen, Paradigmen und Regeln. Man hat es immer Vorläufigkeit zu tun: „Es gibt nicht das Theater, sondern nur viele mögliche Formen von Theater und von theatraler Darstellung.“ (45) Theater soll verstanden werden „als ein artifiziell-bedeutungshaftes Spiel mit und in tendenziell a-realen und grundsätzlich konsequenzverminderten performativ-inszenatorischen Wirklichkeitsmöglichkeiten. Natürlich sind solche definitorischen Setzungen immer mit Vorsicht zu genießen, da ihnen ein gewisses Maß an Willkürlichkeit zu eigen ist.“ (47f)
Das nenne ich ehrlich. Folgerichtig wird auf den Begriff „work in progress“ an dieser Stelle auch treffenderweise für theatral-ästhetische Bildungsprozesse hingewiesen, die ja auch grundsätzlich nicht abgeschlossen sind und lebenslang bedeutsam und wirksam sein können.
Im Kapitel „Schule“ beschreibt das Autorenteam diese Institution als „Schutz- und Schonraum konsequenzverminderten Handelns“ (67) einerseits und fragt nach den Möglichkeiten echter Teilhabe und verantwortungsvoller Mitgestaltung: „Dass die Schulen das in der Gesellschaft vorhandene Wissen und Können so wenig nutzen, ist ja eines ihrer größten Probleme. Sie werden also die Grenzen zum gesellschaftlichen und öffentlichen Leben aufmachen müssen, wenn sie sich zu allgemeinbildenden Lern- und Erfahrungsräumen entwickeln wollen, in denen Kinder und Jugendliche auch direkt etwas über die Welt, in der sie leben und in die sie hineinwachsen, erfahren können, und zwar in eigener, selbsttätiger, verantwortlicher Praxis.“ (70) „Denn auch der Erwerb demokratischer Haltungen kann nur durch die Einübung in alltägliche demokratische Praxis gefördert werden.“ (75) „Dabei ist es wichtiger, Theater zu spielen, als über Theater pseudowissenschaftlich Bescheid zu wissen.“ (76) Vgl. hierzu auch reine Theatertheorie-Schulbücher, die eine subjektive, zeitbedingte Auswahl von Wissen über Theater – losgelöst von der Praxis des konkreten Theaterspielens im Unterricht – als quasi gesammeltes zu erwerbendes Wissen anbieten. Dementsprechend wird dieses zeitbedingte Wissen vielfach von Theater-Lehrkräften in kontraproduktiver Weise für Prüfungsvorbereitungen und entsprechende Abfrage-Rituale in Prüfungen genutzt. Dysfunktionales Wissen feiert dann wieder fröhliche Urständ, denn „Wissen ohne Umgang bleibt hier tot.“ (76) „Schule bildet nämlich am besten für den außerschulischen Alltag, wenn sie ihren eigenen, den Schulalltag kultiviert und den Schülerinnen und Schülern hier entsprechende Teilhabemöglichkeiten erschließt, […] ihnen Verantwortung“ überträgt. (79) Eine solche Form „produktiven Lernens“ darf dabei nicht praktizistisch missverstanden werden: Reflexion, Denken, Überdenken und darüber miteinander sprechen ist vielmehr notwendiger und zentraler Teil dieses Lernens.“ (80f)
Das zentral zu lösende Problem formulieren die Autoren in drei Statements:
„Erstens kann Lernen nicht ‚gemacht’, sondern nur unterstützt und ermöglicht werden. Lehren und Lernen ist nur mit dem Kind oder dem Jugendlichen zusammen möglich, da das Kind in jedem Fall selber lernen muss – Erziehung ist eben kein technischer Vorgang.
Zweitens ist nicht planbar, was im Bildungsprozess wirklich geschieht. […] Die Schule kann nur einschlägige Gelegenheiten schaffen. Der Lehrer soll den Schüler auf den Weg des Lernens, der Bildung (und dabei möglichst zum Erfolg) bringen und ihn dabei begleiten, indem er mit ihm einen interessanten, auch sachlich-fachlich fördernden und fordernden Alltag zusammen lebt. […]
Aus der wachsenden Heterogenität folgt zwingend das Ende des klassischen, am Gleichschritt von tendenziell Gleichen orientierten Schul- und Unterrichtsschemas des 19. Jahrhunderts. Pluralisierung und Individualisierung in der Gesellschaft haben Pluralisierung und Individualisierung in der Schule zur notwendigen Konsequenz – und zwar gerade dann, wenn allen Schülern ein Mindestmaß gemeinsamen Wissens und Könnens, ein Mindestmaß gemeinsamer Kompetenz ermöglicht werden soll. Dass nichts ungerechter ist, als Ungleiche gleich zu behandeln wusste schon Herbart (vgl. Liebau/ Zierfas 2008b).“ (82f)
Die Frage, woran sich Schulen dabei orientieren sollen, beantworten die Autoren beispielhaft mit dem Artikel 131 der Bayerischen Verfassung: „Wenn man dieses geltende Recht umsetzt, hat man eine pädagogische Schule.“ (89)
Es sei hier nachgefragt, ob das „oberster Bildungsziel […] Ehrfurcht vor Gott [und die] Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk“ usw. so ohne weiteres kompatibel sind mit der zuvor gemachten Feststellung der zunehmenden Heterogenität der Schülerschaft.
Im Kapitel „Ästhetisch-theatrale Bildung“ legen die Autoren fest, dass es nur zu einer ästhetischen Erfahrung kommen kann, „wenn sie einen Bruch mit den üblichen Wahrnehmungen markieren. […] Ästhetische Erfahrungen bringen das Andere zur Geltung. Mit anderen Worten: In der ästhetischen Erfahrung wird die Selbsterfahrung zur Fremderfahrung. […] Wir sehen nun mit anderen Augen.“ (98) Der Theaterspieler wird in die Lage versetzt, „bislang Gültiges neu und anders zu verstehen (ästhetische Kreativität.“ (101)
Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Feststellung, dass die Besonderheit des theatralen Spiels auszeichnet, dass es sich um eine „höchst komplexe Form der Leibeskunst“ handelt, die nach Hentig die Menschen stärken und die Sache klären kann. Kopf, Herz und Hand (Pestalozzi) wirken zusammen, „denn der Mensch ist nunmal ein leibliches Wesen, das – auch bei den kühnsten abstrakten Gedanken – nicht aus seiner Haut kann, ein lebendiges, sterbliches Wesen, das zugleich auf Bewegung und auf Sozialität angelegt ist und das nur auf dieser doppelten Grundlage Kultur erzeugen und erhalten kann.“ (113)
Dieser Leib braucht Aufmerksamkeit und Pflege durch Üben. „Das hat auch etwas damit zu tun, dass eben nicht die Sprache das Medium der leiblichen Tätigkeit oder der leiblichen Erfahrung ist, sondern der Leib selbst. […] Tätigkeiten müssen getan, sie müssen bis zu einem befriedigenden Können und dann, bei komplexen Aktivitäten, zur Erhaltung und Weiterentwicklung dieses Könnens immer wieder geübt werden. Es gibt dabei keine Obergrenze einer objektiven Perfektion, sondern nur subjektive Maße. Selbst so scheinbar einfache Tätigkeiten wie das Gehen auf der Bühne bedürfen der regelmäßigen Übung: die Kompetenz steckt hier eben nicht nur im Kopf, sie steckt in den Beinen und Füßen, im Bewegungsablauf, in der Atmung etc.“ (114f)
Auf der Suche nach einem brauch- und handhabbaren Theaterbegriff, der einer Definition von theatraler Bildung in der Schule vorgelagert ist, verweist das Autorenteam u.a. auf die bekannte Beschreibung von Bentley aus dem Jahre 1964: A verkörpert B, während C zusieht und inhaltlich auf Novalis: „’Das Theater ist die thätige Reflexion des Menschen über sich selbst.’“ (134) Die Spielweise des postdramatischen Theaters beziehen die Autoren nicht in ihre Überlegungen mit ein, „da diese Formen für das Schultheater (vielfach noch) keine Rolle spielen“ (135). Erstaunlich diese Feststellung, da doch zumindest außerhalb Bayerns seit Jahrzehnten diese Spielweise auch im Schultheater zunehmend Einzug gehalten hat (vgl. z.B. http://www.jugendtheater-best.de und „Postdramatik im Schultheater“ – Interview mit Karl-Heinz Wenzel zum Theater-Projekt B.E.S.T., in dem seit 1990 bereits schulübergreifend postdramatisch gearbeitet wurde.)
Insofern reduziert und verengt sich die Beschreibung des Autorenteams dessen, was Schultheater sein kann: „Bildungspraktische Grundlage des Schultheaters ist insofern nicht nur die Darstellung vor anderen, sondern die Darstellung eines anderen, das Rollenspiel. […] Was man also im Theater lernen kann, ist der reflexive und performative Umgang mit der Differenzierung von Selbst, sozialer Rolle, theatraler Figur und den analog differenzierten Erwartungshaltungen. Theatrale Bildung ließe sich nun bestimmen als Auseinandersetzung mit dieser individuellen und sozialen Differenzfigur.“ (136f)
Eine wesentliche Bestimmung des Schultheaters sehen die Autoren durch die Tatsache, dass es schulisch gerahmtes Laientheater mit dem Hauptzweck ist, Bildungsprozesse zu ermöglichen. „Dies hat Folgen für das Kunst- und Werkverständnis. Es ist evident, dass dieses Theater in mancher Hinsicht anderen ästhetischen Aspekten folgt und folgen muss als das Profi-Theater. […] Die Kunst des Schultheaters dagegen entsteht vor dem Hintergrund von Erstbegegnungen. […] Dass es Teil von Bildungsprozessen ist, ist für dieses Theater konstitutiv. […] Gutes Schultheater kann daher niemals ‚Serientheater’ sein; es legt vielmehr Zeugnis ab von dem besonderen, einmaligen Prozess, den die aufführende Gruppe bis zur Aufführung hinter sich gebracht hat. […] Gutes Schultheater macht Bildungsprozesse sichtbar, ohne sie als solche Vorzuführen.“ (149)
„Die explizite ästhetische Erziehung muss sich also – und kann sich auch nur – ausschließlich auf den aktuellen Prozess und das aktuelle Produkt beziehen: die pädagogische Aufgabe besteht ausschließlich darin, mit allen [sic!] Beteiligten die unter den gegebenen (Entwicklungs-)Möglichkeiten bestmögliche Form der Darstellung zu finden und einzuüben.“ (150)
Dies wird leider immer noch vielfach von Theaterlehrkräften, -Pädagogen und -Wissenschaftlern ignoriert, wenn sie mit einer Selbstverständlichkeit von ihren Schülern verlangen, dass sie sich weit über das Maß von zwei oder drei Wochenstunden diese Nebenfaches hinaus mit mehreren Wochenendproben, teilweise mehreren Wochen sog. Theaterfreizeiten zusätzlich im Theaterprojekt engagieren müssen, damit der Lehrer, der sich in der Rolle der Profinachahmung eines Regisseurs gefällt, am Ende zufrieden mit seiner Vorstellung von ästhetischer Qualität ist und nur dann die Verantwortung für sein [sic!| Produkt übernimmt und damit in der Sackgasse einer vollkommenen Fehleinschätzung dieses von den Autoren klar definierten schulischen Bildungsprozesses landet. Dass der ‚Zwang’ ein solches an falschen Zielen ausgerichtetes Produkt, dann – wie bei den Profis – in Serie aufgeführt werden ‚muss’, weil es doch so viel Arbeit gemacht hat, erscheint vor diesem Hintergrund plausibel, aber nicht zu rechtfertigen.
Die Autoren formulieren darum auch zurecht, dass die Kunst eben genau darin bestehe, diesen gravierenden Fehler zu vermeiden. Es geht in erster Linie um Bildungsprozesse und in zweiter Linie um Kunst, oder anders: es geht um Bildungsprozesse mit den Mitteln der Kunst, oder noch anders: Es geht um die Kunst, Theater zu unterrichten.
Vor uns liegt ein weites pädagogisches Feld. Man kann sich verlaufen. Richtungsweisungen sind hilfreich, zumal von wissenschaftlicher Seite, von Menschen mit Überblick, mit einer differenzierten Perspektive auf die Theorie UND die Praxis. Hierin liegt das Erkenntnisgeschick. Weder das alleinige Wurschteln in der Praxis, noch das wortreiche Theoretisieren im elfenbeinernen Turm der Wissenschaft führen dauerhaft zu hilfreichen Erkenntnissen für diejenigen, auf die es am Ende ankommt, auf die Macher: Die Theater-Lehrkräfte und -Pädagogen, die handelnd etwas bewirken können.
Ob der Anspruch des Autorenteams erfüllt ist, der Theater-Lehrkraft mit diesem Werk argumentativ unter die Arme gegriffen zu haben in ihrem mühsamen Alltagsgeschäft theatraler Bildung, ihr Tun besser zu begründen oder zu rechtfertigen oder gar eine Hilfe beim Unterrichten ist, mögen diese selbst beantworten.
Weiterführendes
- Klepacki, Leopold (2007): Die Ästhetik des Schultheaters. Pädagogische, theatrale und schulische Dimensionen einer eigenständigen Kunstform. Weinheim und München: Juventa > Rezension